Kairos Hausboote im Stadtzentrum sind ein aussagekräftiges Symbol für die urbane Wohnungsnot und zeigt: Überall wo es nur irgendwie geht, wird Wohnraum geschaffen. Bisher zumindest, denn nun werden die Boote im Namen der „Modernisierung“ abgerissen.
Blau auf Grau – der Nil in Kairo
Wer schon einmal in Kairo, der chaotischen, staubigen, lauten, aber liebenswerten Hauptstadt Ägyptens, war, der weiß, wie rettend der Nil für die Bewohner:innen der Stadt ist. Kilometerlang schlängelt er sich durch das überfüllte Zentrum der Umm‘ el Donia – der Mutter der Welt, während ringsum Apartmenthäuser in die Höhe schießen.
Der Nil ist eine der wenigen Freiflächen in Kairo und für die Bewohner:innen der Stadt emotional wie gesundheitlich von großer Bedeutung. Der reine Anblick von Wasser führt zu einer physischen Abkühlung, bestätigt die Wissenschaft. Eine Tatsache, die im ägyptischen Klima nicht zu unterschätzen ist: Im Sommer sind es hier gerne mal über 40 Grad. Auch mikroklimatisch macht der Nil einen echten Unterschied. An seinen Ufern ist es windiger, kühler und ruhiger. Es ist fast magisch, wie der umliegende Lärm verschwindet, wenn man sich auf einem der wackligen Boote über die Welle treiben lässt oder in einem der letzten verbliebenden öffentlichen Parks auf einer Bank sitzt und dem Treiben der Millionenstadt lauscht.
Kein Zutritt – Die Privatisierung des Nilufers
Ins Auge fielen bisher besonders die drei riesigen, maroden Restaurantschiffe, welche seit Jahren nicht mehr in Betrieb waren und lediglich zum Teil der Kairoer Kulisse gehören. Spaziert man jedoch an den Ufern westlich des Nils entlang, fallen einem bei genauem Hinsehen die vielen, bunt verzierten Boote in der Nachbarschaft KitKat auf. Diese liegt zwischen den Distrikten Imbaba im Norden und Mohandessin im Nordwesten.
Die 30 bis 40 verbliebenen „Wohnungen auf dem Wasser“ waren ihrerseits bereits nur ein klägliches Überbleibsel der originalen Uferlinie. Bis in die 20er-Jahre soll es hier 200 Hausboote gegeben haben. Künstler:innen aus Musik, Schauspiel und Literatur trafen sich dort und tauschten sich über gesellschaftliche und politische Fragen aus, fernab von Regel und Norm eines konservativen Systems. Es war ein Ort für jene Intellektuelle, deren Wort und Schrift das Establishment provozierte und nicht überall geduldet war. Der Aufenthalt auf dem Wasser bot Platz für Diskussionen und Debatten fernab von Moral und Ethik des damaligen Ägyptens. Auch der Konsum von Alkohol und Haschisch gehörte oft dazu. Sogar Literaturlegenden wie Naguib Mahfouz besaßen eins der begehrten Boote.
Spaziert man den Nil auf der Westseite entlang, findet man heute nur wenige „mauerfreie“ Zonen, an denen man bis ans Wasser schauen oder herantreten kann. Das sind die Stellen, an denen auch einige Hausboote schwimmen. Die an improvisierten Leinen aufgehängten, in der Mittagssonne trocknenden Klamotten verraten, dass die Boote bewohnt sind. Überall anders läuft man auf einem schmalen Bürgersteig neben meterhohen Mauern und bekommt mehr von der vierspurigen Straße mit, als vom Nil und seinen Palmen.
Fotos und Videos verboten!
Dem Regime ist ein „sauberes“ Bild des Nils sehr wichtig, weshalb immer Beamte unterwegs sind, die darauf achten, wer welche Art von Fotos macht. Es gibt keine Schilder oder Warnhinweise, dass Foto- und Videoaufnahmen des Flusses und seiner Ufer verboten seien. Wie in Bezug auf viele andere Dinge, gibt es in Ägypten nicht immer klare Regularien und Gesetze. Beamte können aber jederzeit entscheiden, dass ihnen etwas nicht in den Kram passt, so wie bei einem meiner Spaziergänge vor Ort.
Für das Regime ist es schwer vorstellbar, dass jemand entlegene Uferstellen lieber fotografiert als kommerzielle Uferpromenaden. Auch der Versuch einer Erklärung, dass ich nicht vorhatte, das Bildmaterial journalistisch zu nutzen, etwa um „Ägyptens Schattenseiten“ zu enthüllen, blieb ohne Wirkung. Es ist spannend zu sehen, wie das Motiv eines Trampelpfads am verwucherten Ufer und improvisierte Sitzgelegenheiten von Angler:innen für mich romantisch und für die Behörden lediglich beschämend und beschmutzend ist.
Dabei ist genau das doch eigentlich das, was Kairo ausmacht. Das laute und manchmal leise Leben, was sich den Beobachtenden so charmant präsentiert und Kairo und seine Bewohner:innen so nahbar macht. Der Status der Hausboote als Geduldete, deren Existenz weder erlaubt noch erwünscht war, war vielen klar. Aber wann genau diese Phase der Toleranz vorbei sein würde, das wusste niemand. Bis zum Sommer 2022.
Ab heute illegal – Mamnua (arab. verboten)
Mit großen Kränen wird an einem Junitag 2022 damit begonnen, diese bunten Boote abzureißen. Die historisch bedeutsamen Orte und seit Generationen das Zuhause vieler Menschen wurden zu illegalen Besetzungen erklärt. Es wird Platz gebraucht, Platz für eine schicke, moderne und neue Promenade – die verspricht, Geld und Investitionen ins Land zu bringen.
Die offizielle Begründung seitens der Verwaltung ist eine andere. Die New York-Times beschreibt, wie die Hausboote oft mit einem anzüglichen, moralisch verwerflichen und frivolen Lifestyle verbunden wurden. Was in den 1920er-Jahren unter Umständen zutraf, ist heute schlichtweg ein falscher Schluss: Das Nachtleben findet viel mehr in den Gated Communities außerhalb Kairos statt – den umzäunten schicken und sauberen Suburbs der Reichen. Das vermeintlich „westliche“ und „freie“ Leben wird dort auf großen Reklametafeln beworben.
Ein weiterer Vorwurf gegenüber den Hausbootbewohner:innen ist, sie seien Grund für die Verschmutzung des Nils. Angesichts einer Millionenstadt ohne funktionierendes, kommunales Müll- oder gar Recyclingsystem ist dieser Vorwurf eine leere Phrase.
Der britisch-ägyptische Schriftsteller Omar Robert Hamilton erzählt in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung, dass der Vorwurf vom Verfall der Moral mehr Vorwand als der wirkliche Grund für diesen städtebaulichen Eingriff ist. „Das bestimmende Merkmal von Sisis Präsidentschaft ist der Beton. (…) Ägypten baut mehr als jedes andere Land. Städte in der Wüste, Autobahnen durch Städte, Wolkenkratzer in Küstenstädten und Hochgeschwindigkeitsgleise durch die Sahara, neue Gefängnisse und Shopping Malls wachsen zu jeder Jahreszeit aus dem Boden.“
Platz für Neues? – Die Mamsha Ahl Masr-Promenade
Gegenüber der seit 2019 in Planung stehenden Promenade Mamsha Ahl Masr auf der Ostseite des Nils zwischen der Imbaba-Brücke und der Brücke des 15. Mais waren die Hausboote allemal nachhaltiger. Die Hausboote boten Wohnraum und Freiraum und waren über Jahrhunderte hinweg an die Bedürfnisse der Bewohner:innen angepasst. Auch sozio-kulturell haben sie einen großen Beitrag zur Kairener Gesellschaft geleistet.
Die neue Promenade hingegen bedeutet die Betonierung des Ufers, im sowieso schon überhitzten Stadtzentrum Kairos. Die auf Betonpfeilern aufgestellte, kilometerlang gepflasterte Promenade wird die heißen Temperaturen durch die anliegenden Hochstraßen und Kreuzungen, nicht abdämpfen können. Entlang der grauen Mauern verstecken sich einige Beete, sie sollen den Besucher:innen zumindest das Gefühl eines Aufenthaltes im Grünen geben. Um auf die Promenade zu gelangen, wird es künftig Security Check-Points geben, so wie in den meisten Malls und Einkaufszentren. Es gibt Überwachungskameras und Bedienungs- und Sicherheitspersonal in den vielen Cafés oder den öffentlichen Toiletten.
Die Promenade kann ein angenehmer Aufenthaltsort sein, aber sie ist äußerlich wie innerlich kein Vergleich zu den auf dem Nil schwebenden bunten Hausbooten. Bei der Entscheidung für die Promenade stand der kommerzielle Nutzen im Vordergrund. Darüber sollte nicht vergessen werden, dass Orte für progressive Gedanken, kritische Äußerungen zur Politik oder das Infragestellen von Religion noch immer unerwünscht sind. Zu tief sitzen die gescheiterte Revolution 2011 und die damit einhergegangenen Aufstände dem Regime noch in den Knochen.
Mit den Hausbooten geht ein Stück Identität verloren
Der Abriss der Hausboote ist vor allem deshalb so eindrücklich, weil er die aktuelle Entwicklung Ägyptens zeigt: den Tausch von Geschichte, Kultur und Identität gegen den gesichtslosen Glanz, wie er in vielen arabischen Großstadtmetropolen am Golf zu sehen ist. Dieses Ideal wird auch im Mega-Prestigeprojekt der neuen Hauptstadt deutlich, das im Moment in der Wüste hochgezogen wird.
Im Sommer 2022 hatten bereits einige Cafés und Restaurants geöffnet. In diesem Jahr soll der reine Zugang zur Promenade Eintritt kosten. In Anbetracht der umliegenden Distrikte wie Imbaba und Shubra, oder den im Süden gelegenen Al-Fustat, in welchen vor allem einkommensschwache Haushalte leben, eine traurige und exkludierende Entscheidung. Den Familien aus der unmittelbaren Nachbarschaft bleibt daher erstmal nur der Blick auf den Nil, dem einzigen Freiraum inmitten ihrer dicht besiedelten Wohnviertel – der Zugang zu ihm bleibt ihnen jedoch verwehrt.