Großveranstaltungen, wie die Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar, gleichen einer Farce für Menschenrechts- und Klimaabkommen. Sie beeinflussen die Stadtentwicklung vor Ort langfristig – aber auch nachhaltig?
Vor genau einer Woche hatte die diesjährige Fußballweltmeisterschaft der Männer ihr Auftaktspiel: Gastgeberin Katar gegen Ecuador. Das Ergebnis: 0:2. Auch wenn die katarische Mannschaft wohl nicht über die Gruppenphase hinaus kommt, im Land geht das Turnier bis zum 18. Dezember 2022 weiter: In diesen vier Wochen erwartet Katar rund 1,5 Millionen Besucher:innen. Das entspricht etwa der Hälfte der Gesamtbevölkerung.
Ähnlich unermesslich sind auch die Dimensionen, in denen die Großveranstaltung die sozialen, ökologischen und räumlichen Ressourcen des kleinen Landes und seiner Hauptstadt Doha sprengen. Rund 230 Milliarden US-Dollar für Infrastrukturprojekte und zwölf Jahre Vorbereitungszeit hat Katar investiert, seit das Land 2010 als erste Gastgeberin aus WANA (Westasien und Nordafrika) für eine Fußballweltmeisterschaft bestimmt wurde.
Das Ergebnis umfasst unter anderem sechs neue Fußballstadien, 5.000 neue Hotelzimmer, 8.000 Wohneinheiten mehr, einen neuen Stadtteil, neue Autobahnen, Flughafenerweiterungen, ein zusätzliches Abwassersystem und etliche Wüstencamps. Doch was passiert mit dieser neuen Stadt nach dem Turnier? Und wie stehen die Menschenrechte und das globale Klimaabkommen zu dem städtischen Großaufgebot?
FIFA-Verkehrsplanung
Das Leben in der Innenstadt Dohas kreist diesen November und Dezember allein um die Fußballweltmeisterschaft. Alles andere hat – wortwörtlich – keinen Platz: Schulen bleiben geschlossen, Büros sind nur vormittags von 7 bis 11 Uhr und für 20 Prozent der Arbeitskräfte geöffnet. Der Rest arbeitet bitte von woanders. Außerdem sind eingeschränkte Zeiten für Autofahrer:innen vorgesehen. Diese Maßnahmen sollen jeglichen nicht-WM zugehörigen Verkehr und Stau in der Innenstadt vermeiden oder zumindest entlasten.
Nicht nur für die Straßen Dohas, auch für den Luftverkehr gibt es zusätzliche Bestimmungen. Da während der WM insgesamt rund 400 Flüge täglich von und nach Katar erwartet werden, wurde zusätzlich zum Hamad International Airport ein ehemaliger Flughafen im Süden der Stadt wieder in Betrieb genommen. Diese Vorkehrung soll es ermöglichen, die unzähligen Besucher:innen aus dem nahen Ausland (insbesondere aus Dubai und Abu Dhabi) besser zu koordinieren und ihnen die Gelegenheit zu bieten, z.B. für nur ein Spiel-Event nach Katar ein- und am selben Tag wieder auszufliegen. Der erweiterte Flugverkehr dient dabei nicht nur der Vermeidung von Stau in Dohas Innenstadt, sondern soll auch die Kapazitäten von Hotelzimmern und Wohneinheiten entlasten.
Ab in die Wüste – oder aufs Kreuzfahrtschiff
Eine weitere Maßnahme, um der begrenzten Anzahl an Schlafplätzen in Doha entgegenzuwirken, sind Camps in der Wüste. Ein wenig außerhalb der Hauptstadt gelegen, beginnt dieser low-cost Spaß ab 200 US-Dollar die Nacht: Die drei Fan-Villages in Zafaran, Ras Bu Fontas und Rawdat Al Jahhaniya bestehen aus Schiffscontainern und sind ausgestattet mit Betten, Badezimmern und kleiner Küche. Auch Restaurants gibt es dort und für die Anbindung an die Innenstadt sorgen öffentliche Verkehrsmittel, wie U-Bahn und Bus.
Wer nichts mehr in der Innenstadt findet und wem die günstigen Wüstencamps allzu wenig Komfort bieten, hat eine Alternative: Zwei Kreuzfahrtschiffe ankern vor Doha. Die schwimmenden Hotels stellen Swimmingpools, Restaurants, Tennisplätze und so manch anderen Luxus zur Verfügung.
Wohnpreise verdoppeln sich
Da ursprünglich mehr Hotelzimmer und Wohnungen als die aktuell fertiggestellten 13.000 geplant worden waren, ist der Bedarf an Unterkünften in Doha während der Fußballweltmeisterschaft umso mehr gestiegen. Allein die FIFA hat tausende Residenzen für Fußballspieler, Personal und Funktionär:innen reserviert; ganz zu schweigen von der über eine Million an Fans, die erwartet werden. Diese Entwicklung haben sich die Vermieter:innen insbesondere in den zentralen Wohnbezirken zunutze gemacht und die Mietpreise bis zu 40 Prozent erhöht.
Nicht umsonst werden Großveranstaltungen, wie die Weltmeisterschaft, auch als Urban Entrepreneurism, also städtisches Unternehmertum bezeichnet: Jegliche Stadtplanung und -finanzierung richten sich nach dem Mega-Event. Das Resultat sind steigende Preise vor Ort, darunter auch die Wohnungspreise. Dies hat in Doha zu kurzfristigen Zwangsräumungen und zur Verdrängung von lokalen, teils jahrelangen Mieter:innen geführt. Darunter sind Kataris, aber insbesondere Migrant:innen, die nun vor sehr kargen und kaum bezahlbaren Wohnoptionen stehen.
Neben den Mieterhöhungen mischen Vermieter:innen kräftig im Kapital-Gelage mit. Ein Blick auf AirBnB verrät: Einzimmerwohnungen im Pearl, die normalerweise rund 2.500 US-Dollar monatlich kosten, werden während der Fußballweltmeisterschaft für mehr als 1.000 US-Dollar pro Nacht vergeben. Ein anderes Beispiel: Ein Dreibettzimmer kostet dort gewöhnlich 147 US-Dollar pro Nacht. Während des Turniers verzehnfachen sich die Preise und steigen auf bis zu 1.600 US-Dollar für eine Übernachtung.
The Pearl ist eine künstlich geschaffene Insel vor Doha und misst rund 400 Hektar, was etwa zweimal dem Berliner Tiergarten entspricht. Dort gibt es Luxushotels, Luxuswohnhäuser, (etwas) weniger luxuriöse Wohneinheiten und natürlich Yachten für Gäste. Der Baustil erinnert an die Provence und Toskana. Der Pearl-Slogan „Come for a visit, stay for a while“ wird mit dem Preisanstieg während der Fußball-WM aber wohl selbst unter den Superreichen einer Posse gleichen.
Geoporn und Ausbeutung
Obwohl die gesamte arabische Halbinsel bekannt ist für einen überdimensionalen Städtebau, stellt die Fußballweltmeisterschaft einen unvergleichbaren Treiber für die Stadtentwicklung Dohas dar. In kürzester Zeit sind Bau- und Infrastrukturprojekte wie Pilze aus dem Boden geschossen – die Fertigstellung mancher Wohnbauten dauerte teilweise nur einen Monat.
Die Wissenschaft spricht hier auch von Geoporn. Damit ist gemeint, dass bei der Entwicklung einer Stadt Oberflächlichkeit und verführerische Vermarktung für eine globale Audienz an erster Stelle stehen. Die Schattenseite einer solch rasanten Stadtentwicklung und die langfristige Planung für die lokale Bevölkerung bleiben dabei außen vor.
Denn – wortwörtlich auf Ausbeutung gebaut – stünde die neue Infrastruktur in Doha nicht ohne die Arbeit von bis zu einer Million Migrant:innen. Das sogenannte Kafala- System, das es in Katar und vielen Ländern in WANA gibt, kann als eine moderne Form von Sklaverei bzw. Zwangsarbeit bezeichnet werden. Denn es verweigert ihnen jegliche Rechte und erlaubt Arbeitnehmer:innen die ausländischen Arbeitskräfte systematisch auszunutzen.
Post-FIFA-Stadtentwicklung
Und was passiert eigentlich mit dem infrastrukturellen Großaufgebot nach dem Turnier? Seit 2010 gleicht die Stadtentwicklung Dohas einem Spagat zwischen WM-Vorbereitung und der Planung für eine Zeit, nachdem sich die FIFA dort für einen Monat ausgelebt hat. Denn, wie andere Gastgeber:innen bereits erfahren mussten, bleiben große Teile der Infrastruktur oftmals ungenutzt und verlassen zurück. Das ist auch die Sorge in Katar.
Als Teil der Nationalen Vision für 2030 (The Qatar National Vision 2030), gilt aktuell die nationale Entwicklungsstrategie 2018-2022 für Katar (The Second National Development Strategy 2018-2022). Diese richtet sich aus auf die Entwicklungsphase vor der Fußballweltmeisterschaft. Zwar erwähnt die Vision für 2030 vier Pfeiler, wie eine nachhaltige Entwicklung für die Zeit nach dem Turnier aussehen könnte, aber diese Vorschläge bleiben sehr oberflächlich. Es bleibt also abzuwarten, ob und wie die nationale Entwicklungsstrategie ab 2023 sich der nachhaltigen Umnutzung der WM-Infrastruktur annehmen wird. Immerhin scheint es bezüglich der Fußballstadien ein paar konkretere Überlegungen zu geben.
Modulare Fußballstadien
Zwei Stadien gab es bereits vor 2010 in Katar. Für die Fußballweltmeisterschaft kamen sechs neue Sportstätten hinzu, deren Architektur auf einem Baukastenprinzip (auch modulares Design genannt) basiert. Dieses Design ermöglicht es, die Konstruktionen nach der WM wieder abzubauen bzw. wenigstens in ihrem Umfang zu reduzieren. Entsprechend soll in vier der Mega-Stadien (Al Bayt, Ahmad Bin Ali, Al Janoub, und Al Thumama) nach dem Turnier die Hälfte der Sitze abgebaut werden. Der dadurch gewonnene Freiraum soll dann Shopping-Malls, Hotels, Cafés, Restaurants, einer Sportklink oder Gemeinschaftsräumen für Schulen dienen.
Für das größte Lusail Iconic Stadium mit 80.000 Sitzplätzen ist sogar eine umfassende Umnutzung vorgesehen. Aus dem Stadium wird dann ein „Community Hub“, eine Art Gemeinschaftszentrum. Als einziges vollständig abgebaut wird das Stadium 974. Es erhielt seinen Namen aufgrund der 974 Schiffscontainer, aus denen es erbaut wurde und soll an das Industrieareal im Hafen erinnern. Dafür diente die Örtlichkeit nämlich einmal.
Obwohl als „nachhaltig“ vermarktet, verzeichnet der Bau der Stadien bereits jetzt achtmal höhere Emissionen als anfangs angegeben. Ob die geplanten Umnutzungen und der Abbau des Stadiums 974 tatsächlich stattfinden werden, wird sich erst nach der WM zeigen. Nichtsdestotrotz ist die Tatsache, dass ein Stadium nach dem Turnier vollständig abgebaut werden soll, bisher einzigartig in der WM-Geschichte und wird hoffentlich als Konzept weiterverfolgt.
Weltmeisterschaft mal anders?!
Um die Emissionen der Fußballweltmeisterschaft zu senken, nennt die FIFA reichlich nebulöse Strategien. Zunächst sollen die verursachten Flug- und anderweitigen Emissionen kompensiert werden durch Folgeprojekte, wie das Pflanzen von Bäumen. Das erscheint in der Wüste mit entsalztem Meerwasser wohl doch ein wenig hoch gegriffen. Zudem krönt sich die FIFA damit, dass noch nie in ihrer Geschichte eine WM so kompakt – alles im Radius von 50km um Doha – gebaut worden ist und die entsprechend kurzen Verkehrswege wenig Emissionen verursachten. Schließlich weist sie noch auf das öffentliche Verkehrsnetz hin, das den Besucher:innen mit einer sogenannter Fan-ID zur Verfügung steht. Trotz all der „grünen“ Vorkehrungen wird das Turnier voraussichtlich 3,6 Millionen Tonnen CO2 verursachen. Das ist bereits mehr, als Island oder der Kongo in einem ganzen Jahr ausstoßen.
Per se sind Großveranstaltungen wie die Fußballweltmeisterschaft nicht nachhaltig. Sie zehren von unbeschreiblich hohen menschlichen, ökologischen, materiellen, zeitlichen und finanziellen Ressourcen. Der wortwörtlich zum Himmel schreiende Kapitalismus, der scheinheilige FIFA-Kult, Konsum und dessen Greenwashing gleichen einer Ohrfeige für jegliches Menschenrechts- und Klimaabkommen. Die Veranstalter:innen künftiger Weltmeisterschaften müssen umdenken.