In europäischen Museen sind unzählige aus WANA stammende Ausstellungsstücke zur Schau gestellt. Wie diese Exponate nach Europa gelangten, wird meist verschwiegen. Über das Unbehagen eines Museumsbesuches in Berlin, scheibt Wael Salam.
Das Narrativ über den Kolonialismus und die Kolonialzeit folgt im zeitgenössischen europäischen Kontext immer einem bestimmten Schema. Er beginnt mit dem Aspekt, dass die Kolonialzeit in der fernen Vergangenheit einer sich stets verändernden Welt läge. Und endet damit, dass dieses verhängnisvolle Kapitel der europäischen Geschichte endlich zugeschlagen werden sollte; allerdings mit der Bereitschaft, es zur Sprache zu bringen und zu kritisieren. Aber trotz dieser Versuche, neue Lesarten – viele beschreiben diese gerne als „sensibel“ – für die negativen Folgen des Kolonialismus zu entwickeln, ist es offensichtlich, dass sich unter der Oberfläche Geschichten von tausenden Opfern verbergen, deren Länder, Kulturen und Seelen systematisch erobert wurden.
Diese Geschichten, welche nach und nach zu Tage treten, zeichnen ein Bild des Kolonialismus, dessen Nachwirkung bis heute anhält, und sie verdeutlichen uns, dass wir uns in einem Zeitalter befinden, das auf der Unterdrückung der Stimmen der „Anderen“ aufbaut. Stimmen aus jenen Ländern, denen, trotz der Befreiung ihrer Länder und Bevölkerungen vom Kolonialismus, immer noch ihre kulturellen Rechte verwehrt werden.
Causa Algerien
Neuen Anlass zur Diskussion bietet eine Nachricht aus Algerien, die einen verspäteten moralischen Sieg der algerischen Revolution bedeutet. Die Kolonialisierung Algeriens dauerte insgesamt 130 Jahre an und war von zahlreichen grausamen Massakern geprägt.1 Während des acht Jahre andauernden algerischen Widerstands gegen die französische Besatzung, setzte Frankreich vielfach strategisch Massaker ein, um sich Algerien als Kolonie zu sichern.
Während eines dieser Massaker – vor 170 Jahren – wurde die damalige Führung der algerischen Revolutionsbewegung komplett ausgemerzt. Damals wurden 24 algerische Revolutionäre enthauptet und ihre Schädel anschließend im nationalen Museum für Naturgeschichte in Paris zur Schau gestellt,neben circa 18.000 menschlichen Schädeln und den Skeletten unterschiedlicher Lebewesen. Frankreich hat die 24 Schädel erst vor Kurzem als Zeichen der diplomatischen Annäherung mit Algerien zurückgegeben. Im Anschluss wurden die Schädel in Algerien mit einer Beerdigungszeremonie bestattet.
Diese Nachricht kann auf mehreren Ebenen gelesen werden – auf einer politischen, diplomatischen oder historischen. Über den äußerst wichtigen und in dieser Diskussion unentbehrlichen moralischen Aspekt hinaus, muss aber auch der spannende und weitreichende Punkt der kulturellen Rechte in Betracht gezogen werden, wenn man bedenkt, dass Frankreich immer noch Leichen und Skelette aus der Epoche des Imperialismus aufbewahrt und im Nationalen Museum für Naturgeschichte ausstellt. Hier muss diskutiert werden, wie es sein kann, dass menschliche Schädel als Exponate behandelt, die man besucht und studiert. Dieser Aspekt fasst alle vorher erwähnten Ideen zusammen und regt mich wieder zu der Frage an: Wie sehr prägt die europäische Auffassung von Museum Europas Beziehungen zu anderen Gesellschaften?
Warum besuchen wir Museen?
Museumsbesuche wurden zu einer richtigen Last für mich, obwohl sie lange zu meinen Lieblingsaktivitäten in einer neuen Stadt gehörten. In Berlin, wo ich zurzeit lebe, vermeide ich es, Freund*innen und Besucher*innen in Museen zu begleiten, um so dem Schmerz aus dem Weg zu gehen, den diese Besuche in mir verursachen. Denn sie lösen unzählige Fragen in meinem Kopf aus, über die, ihrem kulturellen Kontext entrissenen, Exponate.
Selbst die Rekonstruktion eines Zimmers im aleppinischen Stil mit all seinen Elementen, hat für mich beim näheren Betrachten gleich auf mehreren Ebenen einen bitteren und gruseligen Beigeschmack. Einerseits zwingt mich der Anblick dazu, die eigene Geschichte unter den, von den Aussteller*innen bestimmten, Vorschriften der Konservierung und der Art der Ausstellung zu betrachten. Andererseits sensibilisiert er mich für jegliche Gespräche über Museen und macht mich neugierig, zu erfahren, wie ein Teil meines Kulturerbes konserviert und zur Schau gestellt wird. Außerdem bringt der Anblick mich dazu, diesen Artikel zu verfassen.
Museen werden als Chance betrachtet, „die Anderen“ kennen zu lernen. Diese Institutionen tragen dazu bei, durch die Aneignung bestimmter Narrative und das gleichzeitige Exkludieren anderer Erzählungen eine Vorstellung dieser ,,Anderen“ für die Besucher*innen zu erschaffen. Diese „Anderen“ können zeitlich und räumlich variieren. Sie können beispielsweise ein Urmensch aus der Region der Ausstellung oder auch ein*e Zeitgenoss*in aus einem anderen geografischen Gebiet sein.
Allerdings führt das „Aufbewahren der Vergangenheit“ – die Hauptfunktion eines Museums – zur Reduktion des Bildes einer Bevölkerung und deren Kultur, hin zu einem kleinen, statischen und aus seinem räumlichen und zeitlichen Kontext gerissenem Abbild dieser Bevölkerung. Innerhalb dieses Abbildes werden die „Anderen“ als verführerische, rare Exponate dargestellt. Dies geschieht durch die Zurschaustellung von Ausschnitten ihrer Ideen und Werke und zwar aus dem alleinigen Grund, dass diese „Anderen“ nicht der vermeintlichen Normativität entsprechen.
Der internationale Museumsrat (ICOM) betont seiner Definition zwar, dass das Museum „eine dauerhafte Einrichtung [sei], die keinen Gewinn erzielen will, öffentlich zugänglich ist und im Dienst der Gesellschaft und deren Entwicklung steht. Sie erwirbt, bewahrt, erforscht, präsentiert und vermittelt das materielle und immaterielle Erbe der Menschheit und deren Umwelt zum Zweck von Studien, der Bildung und des Genusses.“ Trotzdem dürfen wir die Geschichte der Museen nicht vergessen.
Schon als Ende des 17. Jahrhunderts in Europa die Idee des Museums geboren wurde, zeichnete sich die Konzeption dadurch aus, Rarität und Anomalität auszustellen; also Dinge zu präsentieren, denen Menschen in ihrem Alltag nicht begegnen. Dies trug dazu bei, eine kollektive Imagination der „Anderen“ zu konstruieren, was wiederum eine bedeutende Rolle in der europäischen Expansion spielte, inklusive des weltumspannenden Kolonialismus.
Museen in neuer Gestalt
Das Ende des direkten Kolonialismus führte nicht automatisch dazu, alle kolonialistischen Gewohnheiten und Praktiken abzuschaffen. Museen sind ein Beweis dafür. Das Ende der Kolonialsysteme nach dem zweiten Weltkrieg, hat nicht nur die globale geopolitische Landschaft gründlich verändert, sondern hatte – laut einer Analyse von Alexandra Sauvage über den Umgang von Museen mit deren postkolonialer Wirklichkeit – auch große Auswirkungen darauf, wie sich „der Westen“ darstellt und definiert.
Sauvages Studie stellt die Frage, welchen gesellschaftlichen Zweck Museen heutzutage über den kolonialen Rahmen hinaus erfüllen. Sie schlussfolgert: „Nur wenn wir den Kolonialismus als vollkommenes System betrachten, innerhalb dessen moderne Identitäten und nationale Werte ausgeformt wurden, werden wir verstehen, dass die Phänomene der „Beschleunigung“ und der „Demokratisierung“ der Geschichte beide aus demselben Momentum hervorgegangen sind – nämlich aus dem Ende der nationalen und kolonialen Ordnung als dominantes Kulturmodell.“
Folglich ergaben sich zu dieser Zeit neue Fragen über das Wesen der Museen. Vor allem bezogen auf die Besitzrechte ihrer Exponate. Die grundlegende Frage lautete: Sind diese Antiquitäten von Menschen geschaffene künstlerische Werke oder sind sie kulturelles Eigentum bestimmter Bevölkerungsgruppen?
Die Neudefinierung
Mit dem Aufflackern dieser Diskussionen entwickelte sich eine Bewegung zur Neudefinierung von Museen und die modernen, westlichen Museen bezeichneten sich selbst daraufhin als Kunst- und Bildungsprojekte.
Diese Neudefinition der Museen als Kultur- und Bildungseinrichtungen führte zwangsläufig zu einer Wiederbelebung der Diskussionen über die Kolonialzeit, ihre Folgen, und den materiellen Besitz, der aus verschiedenen Ländern gestohlen wurde. All dies im Kontext der Neukonzeption kultureller Bewegungen und des stärkeren Bewusstseins für Antirassismus in all seinen Formen.
Der Deutsche Museumsbund äußerte sich über die Wichtigkeit der Neubewertung kolonialer Vergangenheit von Museen. Dafür hat der Bund ein Handbuch als Anleitung veröffentlicht, ob und wie Museen ihre Verantwortung für die Einführung kritischer Analysen über den Kolonialismus wahrnehmen sollen. Dieser Schritt ist zwar innovativ, jedoch fehlt es ihm an konkreten Folgen, denn der Inhalt dieses Handbuches ändert nicht die Grundhaltung der Vermeidung von Selbstkritik und Rufschädigung. Ferner werden die, aus ihrem historischen und geografischen Kontext gerissenen, Antiquitäten weiter ausgestellt, was den Mechanismus der Konstruktion eines objektivierten, auf einzelne Aspekte reduzierten, „Anderen“ erhält.
Sich selbst besuchen gehen
Wenn man heutzutage das Vorderasiatische Museum oder das Museum für Islamische Kunst in Berlin besucht, wird man ohne Zweifel verschiedene syrische und andere arabische Antiquitäten anschauen. Allerdings sind alle Beschilderungen dazu aus Sicht der Orientalist*innen, die sie entdeckt oder gefunden haben, geschrieben. Sie haben diese Gegenstände bewertet und für sie im Nachhinein jeweils eine Geschichte erfunden. Diese Stücke wurden aus ihren Kontexten gerissen und in die Kontexte der europäischen Museen und ihrer Besucher*innen hineingesetzt.
So wird das Augenmerk auf die heroischen Entdecker*innen gerichtet; in diesem Fall sind es die Deutschen, die dieses Stück gefunden und hierher transportiert haben, um es heute für uns ausstellen zu können. Die Erzählung über die Ausgestellten selbst und ihre Identitäten jedoch werden verzerrt und den ausstellenden Europäer*innen gewidmet. Ihre Sicht auf das Ausgestellte wird in den Mittelpunkt gestellt, denn sie haben die Ausstellung dieser Objekte erst ermöglicht. Sie sortieren diese in bedeutend und unbedeutend ein und entscheiden darüber, wie und unter welchen Begriffen das Objekt definiert und ausgeschildert wird.
Diese Aussteller*innen sind, mit anderen Worten, diejenigen, die einem „die eigene Geschichte“ erklären und deren Details beleuchten oder aussparen. Das allerdings unter der Bedingung, dass man selbst zufällig das Glück hatte, eine Einreisemöglichkeit das Land der Aussteller*innen zu bekommen, um Details und Bruchteile der eigenen Identität erkunden zu dürfen, mit denen man außerhalb europäischer Museen nicht in Kontakt kommen würde. Das geschieht alles, ohne die ethischen Fragen aufzuwerfen über die Art und Weise, auf der die Antiquitäten nach Europa gebracht wurden.
Welchen Zweck erfüllt das Ausstellen der „Anderen“?
Diese Praktiken werden von den Museen in Berlin oder in Paris ignoriert; denn es ist eine ganze Kultur, die auf der Konstruktion des „Anderen“ beruht. Sie ist in fast allen internationalen Museen wiederzufinden; sei es in Großbritannien, wo Museen Antiquitäten aus den ehemaligen Kolonien immer noch ausstellen, in anderen europäischen Museen, oder in israelischen und US-amerikanischen Museen. Die Letzteren stellen menschliche Überreste von den indigenen Bevölkerungen aus. Außerdem werden afrikanische Antiquitäten in Nordamerika ausgestellt ohne die Sklavenschiffe, auf denen diese transportiert wurden, zu erwähnen. Als wären sie in Nordamerika vom Himmel gefallen.
Durch das Herausreißen dieser Objekte aus ihren Kontexten und das systematische, strukturelle Einfügen in den kulturellen Kontext des Museums entstehen ungleiche Machtdynamiken. Museen versuchen diese Dynamiken, innerhalb des Museums und seiner Bildungskultur über den „Anderen“, kontinuierlich aufrechtzuerhalten. Das Museum entscheidet darüber, was und wer passend, beziehungsweise unpassend ist. Wer unpassend ist, wird im Museum ausgestellt und so vom herrschenden Teil der Bevölkerung objektiviert und kontrolliert. Das macht aus dem „Anderen“ ein reines Mittel zu dem Zweck, ein Bedürfnis nach Exotik zu befriedigen; bereit dafür, konsumiert zu werden.
Dekonstruktion, geht das?
Die vielen Aufforderungen und Versuche, den Kolonialismus im Kontext der Museen zu dekonstruieren, führten zu echten Schritten in diese Richtung. Allerdings stellen sich hier noch viele Fragen: Ist es nützlich, das Museum als komplette Institution neu zu definieren? Wo bleibt die Bereitschaft für Entschädigungen und Rückgabe der Stücke an die Ursprungsländer? Wenn Museen einen Bildungsauftrag haben, wozu dient das Beibehalten der Originalwerke und warum können sie nicht mit Kopien und anderen Dokumentarmaterialien ersetzt werden? Erfüllen diese nicht den Bildungszweck genug?
Die letzte Frage bezieht sich auf das Ausgestellte, und darauf, wie es ausgestellt und wie es beschildert wird: sollten die kulturellen Besitzer*innen der Ausstellungsgegenstände nicht logischerweise über die Begrifflichkeit und die Beschreibung der Gegenstände bestimmen? Vor allem im Zuge einer, innerhalb westlicher Kulturen immer stärker werdenden, Rhetorik, die sich zur Vielfalt bekennt?
Alle Versuche über die Grundprämisse von Museen zu diskutieren, drehen sich hauptsächlich um das Erinnern und das Schreiben von Geschichte. Ferner zielen sie auf eine kulturell sensible Darstellung von Bevölkerungen und Gesellschaften mit der Beibehaltung all der Kontexte ab, innerhalb derer sie sich befinden. Niemand auf dieser Welt akzeptiert es, Besucher*in eines Museums zu sein, in dem er/sie gleichzeitig ein Teil der Ausstellung ist. Das sollte ein selbstverständliches Menschenrecht sein.
1 Frankreich hat eine besonders intensive Kolonialgeschichte in Algerien, die 1830 begann und 1962 durch einen blutigen Dekolonisationskrieg endete. Der Algerische Unabhängigkeitskrieg - je nach Perspektive auch ,,Algerische Revolution” oder ,,Algerienkrieg” genannt - fand zwischen 1954-1962 statt und hatte ca. 400.000 algerische Tote und 25000 gefallenen französischen Soldaten zur Folge. In dieser Zeit entstand die algerische Befreiungsbewegung: Front de Libération Nationale (FLN), welche zum bedeutenden Vorbild für Guerillakämpfer*innen im Globalen Süden wurde. Für Algerien bedeutete der Krieg enorme Verwüstung aufgrund des systematischen Einsatzes französischer Militärgewalt - unter anderem auch Foltermethoden - gegen Revolutionär*innen und Zivilist*innen. Für Frankreich bedeutete sein drittgrößter Militäreinsatz des 20. Jahrhunderts auch eine tiefe politische Krise (bpb, 2016).