10.04.2020
Die Welt weiß, was sie getan haben
Für die Opfer und ihre Angehörigen könnte das Gerichtsverfahren ein wenig Erleichterung bringen. Grafik: Paul Bowler
Für die Opfer und ihre Angehörigen könnte das Gerichtsverfahren ein wenig Erleichterung bringen. Grafik: Paul Bowler

Viele Jahre folterten Assads Schergen ungestraft. Nun beginnt der weltweit erste Prozess gegen ehemalige Mitglieder des syrischen Geheimdienstes – vor einem Gericht in Koblenz. Für die Überlebenden ist das enorm wichtig, meint Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Die Erzählungen der Frauen werde ich nie vergessen. Ich traf sie im vergangenen Sommer bei einer Recherche über internationale Strafverfolgung in Syrien: Yasmin, die sechs Brüder hatte und jetzt nur noch einen. Walaa*, deren Mann auch nach Haft und schwerer Folter weiter demonstrieren ging – und eines Tages nicht mehr zurückkehrte. Maryam, die das Foto ihres toten Sohnes sah und erleichtert war: Zum Glück war er nicht so schlimm gefoltert worden wie viele andere.

Die Frauen sind nur drei von Zehntausenden Syrer*innen, deren Angehörige seit 2011 in syrischen Gefängnissen verschwanden. Erst Jahre später erfuhren sie, was mit ihnen passiert war. 2014 schmuggelte der syrische Militärfotograf mit dem Decknamen „Caesar“ mehr als 28.000 Bilder aus dem Land und veröffentlichte sie im Internet. Sie zeigen die misshandelten Leichen derer, die in Gefangenschaft ermordet wurden.

Für viele syrische Familien bedeuten die grauenvollen Bilder, endlich Gewissheit zu haben – immerhin zu wissen, dass die Geliebten tot sind – Brüder, Väter und Söhne. Die Bilder gehören aber auch zu den wichtigsten Beweismitteln im Kampf um Gerechtigkeit. Ab dem 23. April findet der weltweit erste Prozess gegen zwei ehemalige Angehörige des syrischen Geheimdienstes in Deutschland statt. Für Menschen wie Yasmin, Walaa und Maryam könnte dieser Prozess endlich ein wenig Erleichterung bringen. Oder er könnte sie unendlich enttäuschen.

Denn was nützt so ein Prozess in Deutschland, wenn der syrische Präsident Baschar al-Assad gleichzeitig an der Macht bleibt? Was nützt Gerechtigkeit für vergangene Verbrechen, wenn die gleichen Verbrechen noch immer stattfinden? Wird der Prozess die Verzweiflung der Überlebenden lindern und zukünftige Kriegsverbrecher*innen abschrecken? Oder entblößt er nur aufs Neue die Machtlosigkeit der internationalen Gemeinschaft im Angesicht schlimmster Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

58-facher Mord

Seit 2002 gilt in Deutschland das sogenannte Weltrechts- oder Universalitätsprinzip. Demnach darf der deutsche Staat Kriegsverbrechen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgen, auch wenn sie nicht von Deutschen, an Deutschen oder in Deutschland verübt worden sind.

Die Bundesanwaltschaft hat das Weltrechtsprinzip bisher erst zweimal genutzt, für Fälle aus Ruanda und Syrien. Nun klagt sie gegen Anwar R. Er war in Damaskus für die Verfolgung politisch Oppositioneller zuständig – in der Abteilung 251 des Geheimdienstes, aus der auch einige von „Caesars“ Fotos stammen. 2012 desertierte R. und flüchtete über Jordanien nach Deutschland, wo er politisches Asyl beantragte und im Februar 2019 schließlich festgenommen wurde. Ihm werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Laut Anklage soll er für 58-fachen Mord, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung verantwortlich sein. Mit ihm angeklagt ist Eyad A., ein Geheimdienstmitarbeiter von niedrigerem Rang.

Ganz genau wie Wahrheitskommissionen, Amnestie oder Wiedergutmachung ist Strafverfolgung ein Instrument der Übergangsjustiz. Von der spricht man üblicherweise, wenn ein Unrechtsregime überwunden und ein demokratisches System aufgebaut wird, zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland oder nach dem Völkermord in Ruanda. Übergangsjustiz soll Vergangenheit bewältigen und eine gerechte, friedliche und versöhnliche Zukunft ermöglichen. Im Fall Syriens ist das unwahrscheinlich, denn dort kündigt sich aktuell höchstens ein Übergang vom Krieg zurück zur Vorkriegs-Diktatur an.

Recht auf Wahrheit

Trotzdem: All die syrischen Exilorganisationen und internationalen Institutionen, die jetzt Beweise für völkerrechtliche Verbrechen sammeln, verifizieren und verarbeiten, schaffen damit die Grundlage für eine Übergangsjustiz, die später einmal genutzt werden könnte. Denken wir zum Beispiel an den Sudan: Einen internationalen Haftbefehl gegen Ex-Präsident Omar al-Baschir wegen Kriegsverbrechen in Darfur gab es schon 2009. Zehn Jahre später stürzten Massenproteste den langjährigen Diktator. Nun soll er voraussichtlich dem Internationalen Strafgerichtshof überstellt werden.

In dem Buch „Transitional Justice“ beschreiben Gerhard Werle und Moritz Vormbaum die Ziele solcher Strafprozesse: Zum einen werde die Kultur der Willkür und Straflosigkeit durch Rechtsstaatlichkeit und die Beachtung der Menschenrechte ersetzt. Zum anderen hätten Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein Recht auf Wahrheit. Was sie erlitten haben, muss aufgeklärt, offiziell anerkannt und als Unrecht benannt werden. So soll auch verhindert werden, dass bestimmte Kapitel der Vergangenheit in Zukunft geleugnet oder sogar positiv verklärt werden.

„Normalerweise finden solche Strafprozesse statt, nachdem die Verbrechen vorbei sind“, sagte mir der syrische Anwalt Anwar al-Bunni, der selbst viele Jahre in syrischen Gefängnissen verbrachte, bevor er nach Deutschland flüchtete. Dass der Strafprozess gegen Anwar R. stattfindet, während die Verbrechen des Assad-Regimes andauern, sei einzigartig. Denn wenn Deutschland es schafft, ehemalige Angehörige des syrischen Regimes zu verurteilen, dann könnte dies abschreckend auf jene wirken, die noch an der Macht sind – und damit weitere Verbrechen verhindern. Im besten Fall verändert das den Lauf der Geschichte. Im schlechtesten Fall werden ein paar desertierte Beamte verurteilt, die Syrien längst verlassen haben, während die eigentlichen Verbrecher unantastbar im Land verbleiben.

Der Angeklagte Anwar R. war schon 2012 aus seiner Position im Geheimdienst desertiert, hatte sich in Jordanien der Exil-Opposition angeschlossen, war sogar deren militärischer Sprecher und nahm an UN-Friedensgesprächen in Genf teil. Das wirft die Frage auf, ob die Leute, die man für einen Gerichtsprozess zu fassen kriegt, nicht eigentlich viel weniger Schuld tragen als jene, die in Syrien in ihren Positionen verbleiben und daher nicht verhaftet werden können.

Andererseits ist ein mutmaßlicher 58-facher Mörder nicht unschuldig, nur weil er sich irgendwann gegen weitere Morde entscheidet. Trotzdem ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass die beiden Angeklagten nur Rädchen in einem Unrechtssystem sind, welches weiterhin besteht. Mit ihrer Verurteilung ist Gerechtigkeit noch lange nicht hergestellt.

Ein Riss in der Wand der Straflosigkeit

Immerhin laufen auch Ermittlungen gegen die höheren Tiere des syrischen Regimes. Gegen Jamil Hassan, den ehemaligen Chef des Luftwaffengeheimdienstes, haben mehrere Staaten, darunter Deutschland, im vergangenen Jahr internationale Haftbefehle verhängt.

Solange er sich in Syrien aufhält, wird Hassan zwar kein Gefängnis fürchten müssen. Trotzdem glaubt Patrick Kroker vom European Center for Constitutional and Human Rights, dass solche Haftbefehle ein wichtiges Zeichen für die Überlebenden und Angehörigen der Opfer sind: „Jemand wie Jamil Hassan kann in Syrien machen, was er will, und wird nie dafür belangt. So ein Haftbefehl ist ein Riss in dieser riesigen Wand von Straflosigkeit“, sagte er mir, als ich ihn letztes Jahr für meine Recherche traf.

Dass eine deutsche, staatliche Behörde wie die Bundesanwaltschaft sich mit ihrem Anliegen auseinandersetzt, dass sie plötzlich Menschen mit Rechten sind und Forderungen stellen können, das bedeute den Betroffenen sehr viel. Letztendlich dürfen wir nie vergessen: Die wichtigsten Protagonist*innen der Übergangsjustiz sind jene Menschen, die selbst oder deren Angehörige Unrecht erlitten haben. Menschen wie Maryam, Yasmin und Walaa. Ihre Bedürfnisse müssen im Mittelpunkt stehen, ihnen sollen die Urteile Erleichterung verschaffen.

„Die Täter müssen spüren, dass jemand hinter ihnen her ist“, sagt Maryam. „Die Welt weiß, was sie getan haben, und wird sie zur Rechenschaft ziehen. Vielleicht werde ich das nicht mehr erleben, aber der Tag wird kommen. Und dann sind alle Beweise und Urteile bereit.“ Ganz so geduldig ist Walaa nicht: „Ich will Gerechtigkeit, bevor ich sterbe“, sagt sie. „Ich will, dass das Feuer besänftigt wird, das die ganze Zeit in mir brennt. Wenn jemand dir etwas so Schlimmes angetan hat und du siehst, wie er ganz normal weiterlebt, zerreißt dich das innerlich.“

Die drei Frauen haben gemeinsam mit anderen Exil-Syrer*innen die Caesar Families Association gegründet. Der Kampf um Gerechtigkeit ist zu ihrer Lebensaufgabe geworden. Er mag das Loch nicht füllen, dass ihre toten Angehörigen hinterlassen haben, aber er hilft darüber hinweg zu gehen. „Diese Arbeit ist ehrlich gesagt das Einzige, was mich morgens aufstehen lässt“, sagt Yasmin. Ihren Kampf anzuerkennen und zu unterstützen, ist das Mindeste, was die internationale Gemeinschaft jetzt tun kann. Der Strafprozess gegen Anwar R. und Eyad A. darf dabei nur der Anfang sein.

*Name von der Redaktion geändert

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Anna-Theresa Bachmann