In Israel finden die zweiten Parlamentswahlen dieses Jahres statt. Laut Umfragen könnten die rechten Parteien wie schon im April über 80 Prozent der Sitze erringen. Was sagt die nicht-zionistische Opposition in- und außerhalb der Knesset dazu? Von Leon Wystrychowski
Bei den letzten israelischen Parlamentswahlen im April dieses Jahres errang der sogenannte Rechte Block zwar die absolute Mehrheit in der Knesset. Vor allem aber aufgrund der Weigerung der Partei Israel Beitenu („Unser Haus Israel“), die privilegierte Sonderstellung orthodoxer Juden – insbesondere die Freistellung vom Militärdienst – weiter mitzutragen, scheiterte eine Regierungskoalition des rechts-religiösen Bündnisses unter Benjamin Netanyahu mit den säkularen Ultranationalisten. Das neu gegründete Bündnis Kachol Lavan („Blau Weiß“) lehnte dagegen von vornherein eine Zusammenarbeit mit dem in unzählige Skandale und Korruptionsaffären verwickelten Langzeitpremier und seiner Likud-Partei ab.
Politische Grenzen verschoben
Tsafrir Cohen, dem Leiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung Tel Aviv, zufolge entscheidet sich die Frage „links oder rechts“ in Israel nicht an der sozialen Frage, sondern primär an der Position für oder wider die Besatzung des Westjordanlands. Darum gelte etwa auch eine eher wirtschaftsliberale Zeitung wie Haaretz als links-liberal. Wie weit das gesamte politische Spektrum in Israel nach rechts gerückt ist, zeigt der prägnante Titel „Mitte gegen rechts“, mit dem die Konrad-Adenauer-Stiftung ihre Wahlkampfanalyse im Februar überschrieb.
Zu dieser „Mitte“ zählte sie unter anderem Kulanu („Wir alle“), eine Abspaltung des regierenden nationalkonservativen Likud („Zusammenschluss“), die im Juli dieses Jahres wieder zu ihrer Mutterpartei zurückkehrte. Auch die weitaus größere Liste „Blau Weiß“ wird oft der sogenannten „Mitte“ zugerechnet. Dabei stehen auf ihren Spitzenplätzen mehrere ehemalige hochrangige Militärs; sie pflegt ein Image als Partei der Armee und sie spricht mit keinem Wort von einer friedlichen Lösung mit den Palästinenser*innen. Stattdessen kündigt man an, man werde im Gazastreifen noch härter zuschlagen als die bisherige Regierung. Wie das gehen soll, ist schwer vorstellbar: Seit dem letzten Krieg 2014 liegt Gaza in Trümmern. Bei den anhaltenden Protesten am dortigen Grenzzaun tötete die israelische Armee bereits an die 200 Palästinenser*innen.
Folgt man der Definition von Cohen, kann eigentlich kein Zweifel bestehen, dass auch „Blau Weiß“ dem rechten Lager zuzuordnen ist. Dass dies nicht geschieht, liegt wohl vor allem daran, dass der politische Diskurs in Israel mittlerweile so weit nach rechts verschoben wurde. Beim Buhlen zwischen Likud und „Blau Weiß“ um Stimmen vom rechten Rand betreibt die Netanyahu-Regierung derzeit Wahlkampf mit dem Schwert: In den letzten Wochen flogen die israelischen Streitkräfte mehrere Luftangriffe gegen den Gazastreifen, sowie vermeintliche iranische Stellungen in Syrien, Libanon und sogar im Irak. Zudem kündigte Netanyahu vor wenigen Tagen an, im Fall seines Wahlsiegs werde er das besetzte Jordantal annektieren. Ein Völkerrechtsbruch als Wahlkampfversprechen.
Die sogenannte links-zionistische Opposition besteht in erster Linie aus der haAwoda („Die Arbeit“), meist als Arbeiterpartei bezeichnet, und dem Bündnis „Demokratische Union“ aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen. Insbesondere bei der Arbeiterpartei ließe sich vor dem Hintergrund ihrer Geschichte – 1948 war sie federführend an der Vertreibung der Palästinenser*innen beteiligt und besetzte und annektierte letztlich weit über den UN-Teilungsplan hinausreichende Gebiete – die Diskussion führen, ob diese Partei je links war. Angesichts der Tatsache jedoch, dass sie heute bei gerade einmal sechs Prozent liegt, scheint diese Frage nicht mehr von großer Relevanz. Trotzdem kann man an der Schwäche der Partei ablesen, wie marginal noch jene Kräfte sind, die sich selbst als sozialdemokratisch oder links-zionistisch verstehen.
Daneben hat sich mit der Gemeinsamen Liste 2015 ein fragiles Bündnis aus arabischen und linken Parteien gegründet. Ihr gehören islamisch-konservative, links-nationalistische sowie kommunistische Parteien an. Vor den letzten Wahlen hatte sie sich in zwei Lager gespalten, nun tritt sie wieder geeint an. Laut Umfragen könnte die Liste bei den Neuwahlen ein bis zwei Sitze hinzugewinnen und damit auf ein Dutzend Mandate kommen. Allerdings ist der Handlungsrahmen für die links-arabische Opposition äußerst eng gesteckt. Durch die rechte Übermacht ist eine gestaltende Politik für sie nahezu unmöglich. Ihr bleibt vor allem die Rolle des parlamentarischen Sprachrohrs und der Gewinnung von Geldern für die außerparlamentarische Opposition.
Schwindende demokratische Spielräume
Die Übergänge zwischen der Opposition inner- und außerhalb des Parlaments sind durchaus fließend. So gehen auch einige prominente Knesset-Abgeordnete häufig mit auf Demonstrationen. Dass Parteienvertreter*innen trotz spürbarer Resignation Wahlkampf betreiben und dies rechtfertigen, ist verständlich. Aktivist*innen außerhalb der Parteienlandschaft sprechen dagegen häufiger offen aus, dass sie vom Wahlkampf nicht viel halten. Einig sind sie sich vor allem darin, dass sich die Lage in Israel in den letzten Jahren immer weiter zugespitzt hat.
Besonders einschneidend war dabei das sogenannte Nationalstaatengesetz. Im Juli vergangenen Jahres wurde das Gesetz mit Verfassungsrang mit einer knappen Mehrheit verabschiedet. Für Netanyahu war die Verabschiedung ein Erfolg. Kritiker*innen erklärten, es handle sich dabei um die kodifizierte Degradierung aller nicht-jüdischen Staatsangehörigen zu Bürger*innen zweiter Klasse. Einige, wie etwa die Menschenrechtsorganisation Adalah („Gerechtigkeit“) sprechen gar von einem Apartheid-Gesetz. So auch Hanin Zoabi, die seit 2009 als Abgeordnete der arabischen Balad („Heimat“) in der Knesset sitzt. „Es handelt sich dabei um den radikalsten Angriff auf die Rechte der Palästinenser*innen in Israel“, ist sie überzeugt.
Daneben zählt Lee Aldar von Sadaka-Reut („Freundschaft“) wiederholte rassistische und gewaltverherrlichende Ausfälle israelischer Politiker*innen, Angriffe und Mordanschläge gegen arabische Familien im Westjordanland, gegen jüdische Äthiopier*innen und queere Menschen auf. Die Initiative versucht, Palästinenser*innen und Jüd*innen zusammen zu bringen. „Da es wenig bis gar keinen Kontakt zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen gibt, fördert diese Situation weit verbreitete Ängste, Rassismus, Vorurteile und Misstrauen gegenüber ‚den Anderen‘ - alles Dinge, die wir angehen und verändern wollen“, erklärt sie. „Die aktuellen Entwicklungen wirken sich direkt auf unsere Arbeit aus“, da die Bereitschaft, sich mit anderen Communities auszutauschen, weiter sinke.
Auch Fida Tabony Nara von der Frauenorganisation Achoti („Meine Schwester“) sieht die gesellschaftlichen Freiräume für alternative Politik und die Rechte marginalisierter Gruppen schwinden: „Wenn der Premierminister eine gewaltförmige Sprache verwendet und wenn er sich eindeutig gegen Menschenrechtsorganisationen oder Organisationen, die gegen die Besatzung kämpfen, positioniert, dann betrifft es alle zivilen und demokratischen Aktivitäten und alle Organisationen."
Darüber hinaus sei „eine Regierung, deren Grundlage Rassismus, Diskriminierung und liberale Wirtschaftspolitik ist, selbstverständlich auch schlecht für uns Frauen.“ Zwar brüstet sich die Führung Israels häufig damit, das Land sei das einzige in der Region, in dem Frauen gleichberechtigt seien. Trotzdem habe es allein im vergangenen Jahr 25 sexistische Tötungsdelikte an Frauen gegeben, so Nara. Die Regierung habe sich zwar auf heftigen Druck hin bereit erklärt, Mittel gegen frauenfeindliche Gewalt bereitzustellen, doch seien die Gelder bis heute nicht abrufbar.
Kritische Israelis im Exil
Ein weiteres Problem ist die zunehmende soziale Spaltung. 1,7 Millionen Israelis leben derzeit unter der Armutsgrenze; die meisten davon Araber*innen. Die steigenden Lebenshaltungskosten allerdings treffen die gesamte Bevölkerung. Die Regierung ist seit Jahren bemüht, von diesem Missstand abzulenken. Zudem instrumentalisiert sie Teile der von Armut bedrohten jüdischen Bevölkerung für die Siedlungspolitik im Westjordanland. Da das Leben dort aufgrund staatlicher Subventionen weit billiger ist als etwa im teuren Tel Aviv, ziehen vermehrt auch solche jüdischen Israelis in die illegal errichteten Siedlungen, die nicht aus ideologischer Überzeugung das Land in Besitz nehmen wollen. Eine andere Folge der sozialen Polarisierung ist die Auswanderung jüdischer Israelis. Laut einer Umfrage der Zionistischen Weltorganisation (WZO) denken derzeit 82 Prozent der Israelis zwischen 18 und 25 Jahren darüber nach, zu emigrieren.
Yossi Bartal, der selbst in jungen Jahren Israel verließ und seit Anfang der 2000er in Berlin lebt, spricht dagegen von einer Form des Widerstands. „Dass Auswanderung ein politischer Akt ist, dürfte vielen Deutschen erstmal etwas merkwürdig vorkommen. Aber die Entscheidung von jungen Israelis ‚aus guten Häusern‘, der Heimat den Rücken zu kehren, schmerzt tatsächlich sehr die israelische Öffentlichkeit.“ Die meisten seiner Freund*innen etwa, die in den letzten Jahren das Land verlassen hätten, seien gegangen, weil sie die politische und soziale Lage in Israel für ausweglos hielten. „Sie hatten das Gefühl, sie könnten nichts oder nur sehr wenig gegen das Scheitern der Friedensverhandlungen und die voranschreitende Apartheid unternehmen und wollten zudem ihren persönlichen Lebenszustand verbessern.“
Einige dieser jungen Emigrant*innen, die bereits in Israel aktiv waren, engagieren sich in Deutschland in der Jewish Antifa Berlin. Diese gründete sich 2017 und trat seitdem unter anderem unter dem Motto „Decolonize Palestine - Decolonize Yourself“ bei Demonstrationen auf oder demonstrierte beim Christopher-Street-Day gegen das sogenannte Pinkwashing.[1] Zudem solidarisiert sie sich etwa mit der BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions). Ein Aktivist aus ihren Reihen macht deutlich: „Die Palästinenser*innen haben wirklich alles versucht: Gewalt hat nichts gebracht, friedlicher Protest hat nichts gebracht. BDS ist einfach das einzige, was ihnen noch bleibt.“ Yossi Bartal ergänzt: „Tatsächlich bewerten die meisten politischen Akteure innerhalb der gesamten israelischen Linken – seien sie linkszionistisch, nicht-zionistisch oder antizionistisch – den Druck aus dem Ausland als sehr positiv.“
Eine andere Sicht hat dagegen der ehemalige Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv, Moshe Zuckermann. Zwar weist auch er den Vorwurf zurück, BDS sei antisemitisch. Doch äußerte er wiederholt seine Zweifel, Israel könne durch eine Boykottkampagne unter ähnlichen Druck geraten, wie einst das Apartheidregime in Südafrika. Im Gegenzug fördere dagegen insbesondere der akademische Boykott durch kritische und linke Intellektuelle den weiteren Rechtsruck in Israel.
Nach der Wahl nichts Neues?
Ob und was sich nach der Wahl in Israel ändern wird, liegt nicht in den Händen der oppositionellen Kräfte. Selbst wenn die Wahlbeteiligung unter den arabischen Israelis wieder steigen würde, so stellen sie doch nicht einmal ein Fünftel der Wahlberechtigten. Die entscheidenden Fragen spielen sich innerhalb des rechten Lagers, zwischen Likud, Israel Beitenu und „Blau Weiß“ ab.
„Ich glaube nicht, dass irgendwelche großen Erwartungen im Raum stehen“, meint auch Yossi Bartal. Und fügt hinzu: „Es ist eher zu befürchten, dass die Situation sich für längere Zeit noch verschlimmert, bevor es besser wird.“ So pessimistisch es klingt, scheint es realistisch. Trotzdem ist es beeindruckend, wenn Fida Tabony Nara mit einem gewissen Trotz sagt: „Wir haben schlicht keine andere Wahl, als die Verhältnisse zu ändern.“ Es werden jedoch nicht diese Wahlen sein, die sie ändern.
[1] Darunter versteht man den Vorwurf von Kritiker*innen, wonach die israelische Regierung Homosexuelle und Transmenschen für ihre Politik instrumentalisiere, indem sie Israel als einzig sicheres Land in der Region für diese Menschen darstellt.