14.12.2018
Der weiße Blick in der Wissenschaft – wer ordnete unsere Welt?
Grafik: Tobias Pietsch
Grafik: Tobias Pietsch

In ihrer letzten Kolumne ging Leonie Nückell der Frage nach, wie der Orient-Begriff in den in Deutschland betriebenen Studien, die sich mit der WANA-Region (Westasien, Nordafrika) beschäftigen, nach wie vor eine Rolle spielt. In den Reaktionen wurde zum Teil Unverständnis für die Forderung nach mehr Diversität im Lehrpersonal geäußert. Deswegen nun an dieser Stelle zwei Fragen, die zu klären sind: Wer erklärt was auf welche Weise? Und was ist daran weiß?

Dieser Text ist Teil der Alsharq-Kolumne „Des:orientierungen“. Alle Texte der Kolumne findest du hier.

Wissenschaft hat in westlicher, aufklärerischer Tradition die Aufgabe, Informationen aufzubereiten, zu ordnen, zu kategorisieren und damit begründete Aussagen zu treffen. Hierfür stehen verschiedene Hilfsmittel zur Verfügung, wie Methoden, akademische Disziplinen und der aktuelle Forschungsstand, auf den sich berufen wird. Was hat dies nun mit der Position und Sozialisation der Forschenden, Dozierenden und dem wissenschaftlichen Nachwuchs zu tun?

Vorbild – Gewöhnung – Selbstverständlichkeit

Wer erklärt was? Wie innerhalb kolonialer Rechtfertigungsstrategien die Erhebung über das Andere funktionierte, war Gegenstand des letzten Beitrags. Dass das Othering als Methode nicht nur im machtpolitischen Sinne eine Rechtfertigungsstrategie ist, sondern auch ein bestimmtes Verständnis und einen bestimmten Blick auf die Welt prägt, soll nun hier beleuchtet werden. Nicht nur die Wissenschaft lehrt uns, dass es vor allem weiße[1] Menschen sind, die unsere Welt ordnen. Weiße, zumeist männliche Repräsentanten, prägen die von der deutschen Mehrheitsgesellschaft hauptsächlich konsumierten Mainstream-Medien, die Weltpolitik, die Bildung und die Unterhaltungsbranche. Wer weiß ist, dem wird erleichtert, sich Gehör zu verschaffen. Das ist kein großes Geheimnis und Bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Vertiefung.

Was sind Ursprung und Folgen davon? Wer uns was und auf welche Art erzählt, ist keineswegs zufällig. Nicht zuletzt Michel Foucault hat in seiner Diskurstheorie gezeigt, dass es Machtmechanismen sind, die regeln, welche Aussagen wann, wie und von wem getroffen werden können. Nicht jede Person hat ohne weiteres Zugang zum meinungsbildenden Diskurs. Aussagen können nur zu Wahrheiten, also geglaubt, werden, wenn sie nach bestimmten Spielregeln getätigt wurden, die Zugang und Ausschluss strukturieren.

Der*die Sprechende muss also über einen gewissen nachgewiesenen Erfahrungsschatz, zum Beispiel eine bestimmte Ausbildung, verfügen und die Aussagen so formulieren, dass sie einen bestimmten Zeitgeist treffen. Was für eine Ausbildung das sein muss, ist eine Frage des momentanen Trends und keinesfalls auf Dauer festgeschrieben. Das zeigt uns bereits, wie sich wissenschaftliche Bildung und die Ansprüche daran verändert haben. Vor allem in der Wissenschaft produzierte Aussagen wird ein hoher Wahrheitsgehalt zugebilligt. Nicht jeder Person immer alles zu glauben ist natürlich Grundsatz jeder ernsthaften Auseinandersetzung. Aber es lohnt sich darüber nachzudenken, warum bestimmten Menschen eher geglaubt wird als anderen. Und es wird vor allem problematisch, wenn der Zugang zu bestimmten Positionen auch entlang von Diskrimierungslinien geregelt wird.

Rassismus wirkt - mindestens - in zwei Richtungen. Zum einen sind nicht-weiße Menschen von Diskriminierung und Ausschluss betroffen, sodass es für BPoC[2]schwieriger ist an höhere Bildung generell und an dozierende Positionen im Besonderen zu kommen. Damit einher geht, dass Studierende wesentlich weniger nicht-weiße Vorbilder haben und sich damit das geschichtsschreibende weiße Narrativ bestätigt und reproduziert.

Die zweite Richtung rassistischer Mechanismen bewirkt, dass weiße Menschen Privilegien genießen. Und dabei geht es nicht nur um den erleichterten Zugang zu Machtpositionen. Es geht auch darum, dass weiß-Sein unsichtbar bleibt, als Kategorie unhinterfragt und als Normalität gesetzt wird, von welcher die Anderen abweichen. Edward Said hat uns gezeigt, was dies alles für eine wissenschaftliche Praxis bedeuten kann.

Wenn also ein Kollegium davon geprägt ist, dass Weiße die Definitionsmacht über Regionen innehaben, reproduziert sich dies in der nächsten Generation und sorgt für einen normalisierenden Gewöhnungseffekt. Und hier kommen wir allmählich zu der Frage des Wie: Wie wird Wissen generiert, was ist der weiße Blick? Dieser ist ein kolonialer, der es nicht nur gewohnt ist, dass Weiße bestimmen, was wahr und was falsch ist. Er ist es auch gewohnt, überlegen zu sein, Recht zu behalten, Wahrheiten schaffen zu können und die Berechtigung dazu zu haben, auf Andere zu blicken und deren Lebensrealitäten zu bewerten.

Weiße ordnen die Welt – in Spektakel und Verwaltung

Die wohl spektakulärsten Inszenierungen des weißen Blicks waren die „Völkerschauen“ und Kolonialaustellungen um die Jahrhundertwende. In der Zeit des kolonialen Wettrennens um die „Erschließung der Welt“, wurden Kolonien auf dem Territorium der kolonialen „Mutterländer“ nachgebaut, um sie der Schaulust der lokalen und angereisten Bevölkerung zum Geschenk zu machen. Inszeniert, arrangiert und durchgeführt wurde das Dargestellte von der Kolonialmacht selbst. Für „Authentizität“ sorgten importierte Kolonialsubjekte, die ihr „natürliches“ (Dorf-)Leben zeigten, ihre „traditionellen“ Tänze aufführten oder ihr Handwerk präsentierten.

Wer was wo und wie zeigte, entschieden die weißen Kuratoren. Der stellvertretende Generalkurator X. Loisy der Kolonialausstellung in Marseille 1922 beschrieb in diesem Zusammenhang seinen Auftrag damit, dass „sich die Franzosen des alten gaulischen Frankreich und die Franzosen der neuen Provinzen in Übersee besser kennen und schätzen lernen“, damit der „Zusammenschluss all seiner Kinder, schwarze, gelbe oder weiße, unter dem Dach einer unzerstörbaren Gemeinschaft des Nationalgefühls und der gemeinsamen Interessen“, „Frankreich in der Zukunft wieder [...] zu einer der größten Nationen der Welt“ mache.[3]Wie mündig Loisy seine „Kinder“ erziehen wollte, sollte im Angesicht seines Größenwahns deutlich werden.

Die Aufmachung der Ausstellungen konzentrierte sich darauf, den weißen Besucher*innen ein möglichst authentisches Bild der „realen“ Zustände in den Kolonien zu vermitteln. Verborgen, denn als natürlich angenommen, verschwinden dahinter die Urheber der Inszenierung. Die Anordnung der Ausstellungsstücke erfolgte, wie Timothy Mitchell für die Weltausstellung 1889 in Paris beschreibt, um die (mehrheitlich) europäischen Besucher*innen herum. Diese bildeten das Zentrum, für die alles geschah. Für den Showeffekt sorgten spektakuläre Events, wie der allabendliche koloniale Festzug der Marseiller Kolonialausstellung 1922. Dieser wurde von einem „Chinesen“ angeführt, der mit einer leuchtenden Kugel einen sechzig Meter langen Drachen hinter sich herlockte – das wahre Indochina eben.

Das heißt, das Eigene wurde nicht hinterfragt, sondern als natürlich unsichtbar gemacht und durch das Andere, das um es herum gruppiert in die Peripherie geordnet wurde, bestätigt. Für sie präsentiert, geordnet, zur Schau gestellt, konnte das Publikum das befriedigen, was Mitchell die discipline of the European gaze nennt: Eine Schaulust, die durch möglichst detailgetreu wiedergegebene Anordnung der „Realität“, Gewissheit über die „realen“ Zustände verschafft. Mit Europa als Zentrum.[4]

Der koloniale Blick – die Institution der Moderne – die Legitimität zu sprechen

Das mag nun alles weit weg und aus heutiger Sicht seltsam anmuten, immerhin kriegt heutzutage jedes Land selbst seinen Pavillon zur Gestaltung auf der Expo. Aber ein Blick in Medienbilder, Illustrationen oder Werbung zeigt, dass die discipline of the European gaze ein wirkmächtiges Konzept ist, das in verschiedenen Disziplinen bis heute mitgestaltend ist. Da ich in diesem Beitrag für Diversität im Universitätskollegium argumentiere, wenden wir uns nun dieser Bildungsinstitution zu, einer Institution der westlichen Moderne.

Die Universität spielte im Aufstieg Europas an die Weltspitze eine besondere Rolle. Ohne die Sammlung, Strukturierung und Speicherung von Wissen, hätte das Rad wohl alle paar Jahrzehnte neu erfunden werden müssen und die Technologisierung der Gesellschaft durch Industrialisierung und Kommunikation wohl so nicht stattfinden können. Universitäten spielten also im Kampf um die Vormachtstellung eine entscheidende Rolle und dies nicht nur in Bezug auf moderne Technologien, sondern, wie der letzte Beitrag gezeigt hat, auch in der Sammlung um Wissen über die Anderen.

Und wie wurde dieses Wissen generiert? Im Universitätsapparat hat sich wie in wohl sonst keinem Feld der westlichen Öffentlichkeit ein Duktus etabliert, der von aufklärerischen Werten der Moderne bestimmt wird. Aufklärung bedeutet an dieser Stelle eine bestimme Art zu denken. Mit Säkularisierung, der Entmachtung der Kirche und dem gottgegebenen Souverän, vollzog sich im 18. und 19. Jahrhundert die radikale Trennung von Mensch und Natur, nicht nur in den neuen Technologien, sondern auch im Bewusstsein. Der Mensch, also in der Regel der weiße Mann, als Zentrum von Erkenntnisfähigkeit und menschlichem Handeln, löste die Vorstellung gottgebener Vorherbestimmung ab.

Ratio sorgt seitdem nicht nur dafür, dass emanzipatorische Werte geprobt werden. Damit einher ging ebenso die radikale Einteilung der Welt in Dichotomien. Wahr und falsch, modern und traditionell, Fortschritt und Unterentwicklung sorgten von nun an dafür, dass die Werte von Vernunft, repräsentativer Demokratie und neoliberalen Weltmärkten als das unangreifbar Richtige postuliert und damit nicht nur Kolonialisierung, sondern heute auch entmündigende Entwicklungsstrategien und nicht zuletzt Kriege rechtfertigt werden.

Die Universität sorgt an dieser Stelle für Untermauerung. Oder, mein Voschlag: sie hat die Möglichkeit zum Widerspruch. Dies geschieht bereits, um dies aber weiter zu verfolgen, muss sie ihre eigenen Mechanismen von Zugang und Ausschluss weiter hinterfragen. Und ihre Art zu denken.

Die Postmoderne – Öffnung hin zum Widerspruch?

Auch mit neueren Tendenzen in der Wissenschaft, wie zum Beispiel dem Poststrukturalismus, der eben versucht Dichotomien aufzubrechen, lassen sich diese Problematiken allein nicht beseitigen. Das zeigt zum einen der quälend langsame Erfolg, mit dem das Bewusstsein in die Wissenschaftsköpfe sickert, dass es mehr als richtig und falsch und mehr als eine Wahrheit gibt. Oder die Erkenntnis, dass nicht alle westlichen Modelle auf alle Regionen dieser Erde eins zu eins übertragbar sind.

Auch wenn die Ansätze da sind, entscheidend bleibt, wer zu welcher Erkenntnis gelangen kann. Ein Blick, der davon geprägt ist, die Welt um sich herum zu gruppieren, wird sich widerständiger gegen Einspruch und Korrektur wehren als ein Blick, der gelernt hat, nicht das natürlich gesetzte Selbstverständliche zu sein. Immerhin war die Barbarei des zweiten Weltkriegs notwendig, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass Kolonialismus vielleicht doch nicht moralisch zu rechtfertigen ist. Und selbst dann mussten noch Befreiungskriege geführt werden.

Kritikfähigkeit ist nicht das einzige, was hier als Konsequenz aus einem kolonialen Blick gezogen werden soll. Das Zulassen von Widerspruch, offenen Ergebnissen und die Akzeptanz, nicht alles verstehen und erklären zu können oder zu wollen, gehören in diese Spalte ebenso wie die Erkenntnis, dass es problematisch sein kann, wenn weiße Männer uns die Welt erklären. Und wer sich immer noch persönlich angegriffen fühlt, dem sei ins Gedächtnis gerufen, dass hier ein Mechanismus beschrieben wird, den zu erkennen auch weiße  Männer in der Lage sind. Das wird auch daran deutlich, dass ich in diesem Artikel fast nur weiße Männer zitiere (quod erat demonstrandum).

Die Überwindung des kolonialen Blicks wird nicht dadurch erreicht, keine weißen Männer mehr ins Kollegium aufzunehmen. Was hilft, ist die ständige Ausdifferenzierung von Methoden- und Theorienvielfalt. Was hilft, ist die weitere Stärkung internationaler Netzwerke und Kooperationen und ein damit verbundener Aufstieg des Ansehens von Universitäten, die sich bisher in der Peripherie der Wissenszentren befunden haben. Und was hilft, ist Anderen zuzuhören.

Dazu gehört es, dass Menschen an westlichen Unis in entsprechende Positionen kommen, die nicht dem männlichen, weißen Ideal zugeordnet werden. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, über Berufungsverfahren, Formulierungen von Ausschreibungen und klassische Wissenschaftskarrieren nachzudenken. Dass auch diese Menschen die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen haben oder „natürlicherweise“ kritikfähig, unabhängig und frei von dichotomer Verführung sind, versteht sich von selbst. Aber es geht darum, Tore zu öffnen und Wege zu ebnen, die Machtmuster durchbrechen. Eine Institution umzuformen, die Jahrhunderte lang in wahrheitsgenerierender Manier Macht reproduziert hat, ist nicht ganz einfach. Es braucht dafür verschiedene Lösungsstrategien. Dies hier ist der Vorschlag für eine davon.

 

[1]weiß ist klein und kursiv geschrieben, denn es handelt sich nicht um eine ermächtigende Selbstbezeichnung und nicht um eine bloße Farbbezeichnung, sondern um eine privilegierte Position innerhalb eines rassistischen Systems. Mehr dazu hier.

[2]BPoC steht für Black and People of Colour und ist eine ermächtigende Selbstbezeichnung. Dass Black gesondert erwähnt wird, weist daraufhin, dass Schwarze Menschen auf eine gesonderte Art von Rassismus betroffen sind.

[3]Commissariat Général Marseille (1922): L'Exposition Nationale Coloniale de Marseille 1922. Décrit par ses Auteurs. Quarante-trois articles. Quatre aquarelles. Huit cent onze illustrations en noir. Et douze plans. Marseille: Commissariat Général de l'Exposition.

[4]Mitchell, Timothy (1991): Colonising Egypt. Berkeley, Los Angeles and London: University of California Press.

Leonie hat Arabistik, Islamwissenschaft und Soziologie in Bochum, Hamburg und Leipzig studiert. Ihr Bezug in die Region ist vor allem durch einen zweijährigen Aufenthalt in Tunesien geprägt. Zurzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Ethnologie der Universität Leipzig und als freie Literaturübersetzerin. Bei Alsharq...
Redigiert von Lissy Kleer, Andreas Vogl