„Dieser Wandel von Trauer zu Groll, von dem Erleiden von Verletzungen dazu, die Stimme gegen diese Verletzung zu erleben, hat immer provoziert (...) Auch wenn es scheint, als ob die Existenz von Rassismus in diesem Land kaum bestritten werden kann, ist es immer dann, wenn rassistische Gewalt öffentlich gemacht wird, dass ihre Existenz und Evidenz am meisten in Frage gestellt wird.“ (Anne Anlin Cheng[1])
Vor zwei Wochen hat ein Mitkolumnist der Serie Des:orientierungen an dieser Stelle einen Servicepost unter dem Titel „Reflex: Abwehr“ verfasst. Auf der Grundlage von deutschem Rassismus im Allgemeinen und Rassismen innerhalb der Islamwissenschaft und verwandter Fächer im Besonderen beschrieb er, wie Menschen mit Privilegien (Weißsein, Mannsein, Heterosein) als erste Reaktion Kritik abwehren, anstatt sich selbst zu hinterfragen oder den Betroffenen zuzuhören. Özil, #MeTwo, AfD: Das Problem heißt Rassismus. Das zu leugnen und zum Angriff überzugehen ist jedoch weiterhin gängige Praxis. Wie lässt sich diese Abwehr erklären? Woher nimmt sie ihre emotionale Wucht? Wie kann sie bestehen, obwohl Rassismus in Deutschland allgegenwärtig und offensichtlich ist?
The Melancholy of Race
Die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Anne Anlin Cheng hat sich in ihrer Monografie The Melancholy of Race mit diesen Fragen beschäftigt. Darin prägte sie das Konzept der racial melancholia. Angelehnt an die psychoanalytische Unterscheidung zwischen Trauer und Melancholie untersucht sie die race question in den USA. Laut Sigmund Freud ist Trauer das gesunde Abschiednehmen von einem verlorenen, geliebten Objekt. Bei der Verweigerung von Trauer wird der Mensch, so Freud, zum Melancholiker – und das verlorene Objekt ein Teil von ihr. „Der Melancholiker verleibt sich das verlorene Objekt ein – tatsächlich zehrt er von ihm“ (Cheng 8). Konkret bedeutet das, dass der derart melancholische Mensch von dem verlorenen Objekt nicht loskommt, von ihm abhängt – und es dafür hasst. Eine Sackgasse zwischen Begehren und Abweisung. Abwehr wird somit zum Fetisch, zum Steckenbleiben.
Was hat das mit Rassismus in den Vereinigten Staaten zu tun? Handelte es sich bei dem verlorenen - einverleibten - Objekt bloß um Vater, Mutter, Ex-Partnerin, dann wäre die private Obsession wohl kein Anlass zu gesamtgesellschaftlicher Sorge. Doch Trauerabwehr, so Cheng, ist genau das, was weiße US-Amerikaner*innen in Bezug auf die race question im Großen, also gesellschaftlichen Stil, betreiben. Angesichts der Beinahe-Ausrottung der indigenen Bevölkerung, der Versklavung der Schwarzen und der Diskriminierung anderer migrantischer Bevölkerungsgruppen üben sie sich in Verdrängung über diese Verbrechen und den Verlust, den sie sich damit selbst zufügten. Das ist der prägende Verlust im Herzen des weißen Subjekts. Ein Verlust, der Weißsein immer neurotisch, mangelhaft und getrieben macht. Und es untrennbar verbindet mit dem Schwarzen Objekt, der Person of Colour, die innerhalb der weißen Mehrheitsgesellschaft, zum Fetisch wird. Zum Objekt des Hasses und der Begierde. Eine Begegnung beider auf Augenhöhe? Ausgeschlossen.
Eine vergleichbare Bewegung hat Judith Butler in Bezug auf Geschlecht und Queerness ausgearbeitet: „Heterosexuelle Melancholie hindert das männliche Geschlecht daran, um das Maskuline und seine Unfähigkeit zu lieben zu trauern“, schreibt die Queertheoretikerin in Bodies That Matter[2]. Strukturell betrachtet hassen Männer also Frauen und Queers, heterosexuelle Frauen zumindest Homosexuelle, weiße Queers Schwarze und People of Colour – you can do the math. Wir hassen, wo wir nicht lieben dürfen.
truly truly i say unto you, the mysteries of this universe will open themselves to you like leaves to the sun the moment you accept the basic truth that all men wish they were women
— Andrea Long Chu (@theorygurl) 31. Juli 2018
Weißsein kann nichts
White hate
White tears
White guilt
Weißer Mensch, was tun?
Wie umgehen mit all den abgefuckten weißen Affekten? Emotional gibt es nur eine Antwort: aushalten. In einer strukturell bedingt rassistischen Gesellschaft wie der unseren, wird es keine einfache Lösung geben für white hate-white tears-white shame, für den Verlust und das strukturelle Ungleichgewicht.
Praktisch bedeutet das: Höre zu und nehme die Erfahrungen von Betroffenen ernst. Mach dich angreifbar und nimm die Kritik, die es hoffentlich geben wird, an – auch wenn es unangenehm ist, damit konfrontiert zu werden, dass alle weißen Menschen in ihren Emotionen, Worten und Taten Rassist*innen sind.
Check deine Sprecher*innenposition. Versuche nicht, davon zu profitieren, dass du dir die Erfahrungen von marginalisierten Identitäten zueigen machst. Das heißt nicht, dass du Sprechverbot hast. Aber du musst dich immer fragen: Profitiere ich gerade davon, eine Perspektive zu schildern, die jemand anders an meiner Stelle besser schildern könnte? Falls dem so ist: Mach keinen Film über die Proteste Schwarzer Studierender in Kapstadt. Gib Aufträge an andere ab, die mehr Ahnung von Themen haben, wenn du es dir leisten kannst. Vermeide tokenism. Häng dein Studium, deine Doktorarbeit, deine Stelle in Arabistik, Islamwissenschaft, Nah- und Mitteloststudien an den Nagel.
When white writers want to write about race, they tend to be most successful when they write about whiteness, and least successful when they write about (proximity to) Blackness or other marginalized identities that are not their own. https://t.co/0ahu4ISWd7
— Kaveh Akbar (@KavehAkbar) 25. Juli 2018
Weißsein, halt dich aus.