Der Krieg des syrischen Regimes und seiner Verbündeten gegen die Zivilbevölkerung ist der am besten dokumentierte Massenmord seit dem Zweiten Weltkrieg. In Deutschland ist das öffentliche Interesse dennoch stetig gesunken. Dies hängt auch mit der Art und Weise zusammen, wie Geflüchtete und Menschen mit Migrationsgeschichte ausgegrenzt werden, schreibt Daniel Walter.
“A racist society can’t fight but a racist war —this is the bitter truth. The assumptions acted on at home are also acted on abroad.”James Baldwin, Freedomways, 1967.
Zu sehen ist ein Mann. Er rennt durch eine staubige Landschaft. Zu seiner Rechten und Linken türmen sich die grauen Betontrümmer ehemals mehrstöckiger Wohngebäude. Das Gesicht des Mannes zeichnet die Angst, die er in diesem Moment verspüren muss, deutlich nach. In seinem Arm hält er ein Kind, vielleicht drei oder vier Jahre alt, dessen zerfetzte Kleidung von Blut überströmt ist. Es ist nicht klar, in welche Richtung der Mann mit dem Kind läuft – ob zu einem Auto, einer Bahre, oder einfach nur weg von den Trümmern. Der Mann hat schwarze Haare und einen schwarzen Bart.
Wenn wir uns diese Beschreibung durchlesen, haben wir ein Bild vor Augen. Schließlich sehen wir Ähnliches seit Jahren aus Städten wie Kabul oder Bagdad. Zurzeit stammen die Bilder größtenteils aus Ost-Ghouta. Im Damaszener Vorort führt das syrische Regime mit denselben Mitteln Krieg gegen die eigene Zivilbevölkerung, wie schon seit über 60 Monaten: Durch den Abwurf von Fassbomben auf Wohngebiete und das mehrmalige Bombardement einzelner Ziele, um auch die Helfer*innen zu töten. All das ist bekannt und dokumentiert, genauso wie die Giftgasangriffe, die systematische Folter und das Morden in den Gefängnissen. Die Taten des syrischen Regimes sind das am besten dokumentierte Kriegsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg.
Warum schützt niemand die syrische Zivilbevölkerung?
Die Frage, warum es bis heute keine Intervention zum Schutze der syrischen Zivilbevölkerung gab, wurde bereits seit dem folgenlosen Überschreiten der „roten Linie“ durch einen Giftgasangriff im Herbst 2013 – also vor bald fünf Jahren – unzählige Male gestellt. Die Vereinigten Staaten (USA) seien interventionsmüde, hieß es; der Westen habe nach Afghanistan, Irak und Libyen jegliches politische Kapital für Interventionen in Nordafrika und Westasien verspielt und Syrien sei nicht im nationalen Interesse der USA. Barack Obama ließ sich während seiner Präsidentschaft auf einen Kuhhandel zur vermeintlichen Zerstörung syrischer Giftwaffen ein und der ehemalige britische Premierminister David Cameron verlor gar eine Abstimmung im britischen Unterhaus, mit der Luftschläge als Reaktion auf den Einsatz von Chemiewaffen durch Baschar al-Assad autorisiert werden sollten.
Der Westen, inklusive Deutschland, hat erst nach den Pariser Anschlägen im November 2015 sein Engagement in Syrien erhöht, allerdings nicht zum Schutze der Zivilbevölkerung, sondern mit immer mehr Bomben und Waffen im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS). Im Falle Deutschlands mit Aufklärungsbildern von Tornados und AWACS-Flugzeugen. Erst vor Kurzem hat die Syrien-Expertin Kristin Helberg in einem Interview dargelegt, wie zynisch dieses Vorgehen besonders für Syrer*innen war. Denn diese riskierten ihr Leben, um nicht in einer Diktatur leben zu müssen, ihre Anliegen spielen jedoch inzwischen keine Rolle mehr und haben – je nach Lesart – auch nie eine gespielt. Was die Syrer*innen wollen, ist irrelevant geworden in Analysen, die zuvorderst Großmächte- und Geopolitik betonen.
Wie schaut die deutsche Öffentlichkeit auf Ost-Ghouta?
Bilder können bei der Berichterstattung über einen Krieg, eine Region und die politischen Handlungen, die draus folgen, eine große Rolle spielen. Sie können Unmittelbarkeit herbeiführen und drastisch wirken. Dies zeigte sich im Fall des dreijährigen Alan Kurdi, dessen Bild im Herbst 2015 in vielen Ländern den Druck auf europäische Regierungen erhöhte und der Forderung Gewicht verlieh, eine humanere Politik gegenüber Schutzsuchenden zu praktizieren. Doch Bilder können trotz aller Drastik auch ihre Durchschlagskraft verlieren.
Wie also wird in der deutschen Öffentlichkeit auf Ost-Ghouta geschaut? Syrien wird vor allem als Sicherheitsproblem gesehen, nicht als Ort andauernder Kriegsverbrechen. Wie bei so vielen Konflikten hat sich eine gewisse Gleichgültigkeit in der Mitte der Gesellschaft breitgemacht. Ein beträchtlicher Teil der Linken verfolgt einen kruden Anti-Imperialismus oder engagiert sich im Widerstand gegen den türkischen Angriffskrieg in Afrin in Nord-Syrien. Gruppen oder Individuen, die auf den Zusammenhang zwischen und die Verwerflichkeit beider Attacken verweisen, gibt es wenige. Von Assad-nahen „Anti-Imps” zu den Syrien-Touristen der faschistoiden Alternative für Deutschland (AfD) ist es im Falle Syriens nicht weit. Beide propagieren einen Autoritarismus, der von Geringschätzung für individuelle Handlungsfähigkeit und zivilgesellschaftlichen Aktivismus geprägt ist.
Die Frage muss daher präzisiert werden: Wie wird in einem Deutschland, in dem die AfD die stärkste Oppositionsfraktion im Bundestag stellt, auf Ost-Ghouta geschaut? Was sagt dieser Blick über ein Deutschland aus, in dem es 2017 mindestens 950 Angriffe auf Muslime und Moscheen sowie 2200 Angriffe auf Geflüchtete gab? In dem die Große Koalition den Familiennachzug für subsidiär Geschützte weiter aussetzt? In dem, obwohl ein ehemaliger Berliner Finanzsenator mit „Deutschland schafft sich ab“ schon 2010 auf allzu fruchtbaren Boden stieß und ein ehemaliger Finanzminister und Kanzlerkandidat aktuell von der „Verdrängung Einheimischer” schwadroniert, Fremdenfeindlichkeit als Randphänomen ostdeutscher Wendeverlierer abgetan wird?
In dem eine Nazi-Gruppe jahrelang dank freundlichen Wegschauens der sogenannten Verfassungsschützer und anderer Behörden neun Menschen mit Migrationshintergrund (und eine Beamtin des von ihnen verhassten Staates) ermorden konnte? Diese Menschen dürften nicht die absolute Mehrheit stellen. Doch offensichtlich, so verrät die politische Debatte tagtäglich, treibt der rechte Rand einen Großteil der öffentlichen Debatte vor sich her.
„Döner-Morde” und „Sunniten vs. Schiiten”
„Döner-Morde”, das Unwort des Jahres 2012. In einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung heißt es dazu: „Mit dem Begriff, so die Begründung der Jury, seien ganze Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt und die Opfer selbst in höchstem Maße diskriminiert worden”. Ausgrenzung und Diskriminierung – zwei alltägliche Arten der Grenzziehung durch die Mehrheitsgesellschaft. Der Begriff „Döner-Morde” – auch 2018 weiterhin von einigen Medien genutzt – ist in all seiner Perfidie zutiefst entmenschlichend. Er ist die rassistische Kollektivierung ganzer Bevölkerungsgruppen und die Negation jedweder Möglichkeit einer individuellen Biografie. Er suggeriert: Bei den „Döner-Morden” erschießen sich die Türken/Kurden/Araber usw. untereinander, ihre Konflikte sind tribal und zeitlos. Das Individuum geht in der Masse unter, fremdbestimmt und kulturell anders. Wer kann schon mehr als zwei Opfer des NSU beim Namen nennen?
Die entmenschlichenden Begrifflichkeiten der Berichterstattung zu den NSU-Morden erinnern dabei an die Art und Weise, wie Konflikte oder Anschläge in Westasien und Nordafrika in aller Regelmäßigkeit hin- und heranalysiert werden. Die Huntingtonschen Erklärungsmuster von „Schiiten vs. Sunniten”, „Muslime vs. Christen”, aber auch Großmächtefixierung à la „USA vs. Russland”, auch sie machen die Gesellschaften der jeweiligen Länder zu einer fremdbestimmten und zeitlosen Masse.
Ja, es gibt diese Konfliktlinien, teils helfen sie, Konflikte im öffentlichen Diskurs verständlicher zu machen; fast immer übernehmen und bestärken sie damit aber auch die Diskurse der staatlichen Autokratien. Durch die Brille des gesellschaftlichen Alltags wird viel seltener geschaut, dabei sollte es klar sein, dass nur so lokale Probleme und Konflikte erklärbar werden – indem Menschen ihre Sorgen und Anliegen zunächst einmal selbst artikulieren können.
Diese Anderen also bekämpfen sich untereinander und sterben – ob in der Keupstraße oder in Ost-Ghouta. An diesen Orten passiert so etwas nun einmal, diese Auffassung ist der Subtext solcher Berichte. Döner-Morde, 40 Schiiten, 15 Kurden, 30 Sunniten – das alles sind gleichsam entmenschlichende Worthülsen, die sagen: Diese braunen Körper können nicht leiden. Sie haben keine individuellen Biografien und sind nicht Individuum, sondern rassifiziertes Kollektiv.
Was zudem auffällt, ist die explizite Brutalität der Fotos aus Ost-Ghouta und anderen nicht-westlichen Krisengebieten, von braunen Körpern, niemals von weißen. In Regarding the Pain of Others (2003) führte Susan Sontag diese Besonderheit auf koloniale Praktiken zurück:
“Generally, the grievously injured bodies shown in published photographs are from Asia or Africa. This journalistic custom inherits the centuries-old practice of exhibiting exotic – that is, colonized – human beings. […] The exhibition in photographs of cruelties inflicted on those with darker complexions in exotic countries continues this offering, oblivious to the concern that deter such displays of our own victims of violence; for the other, even when not seen as an enemy, is regarded only as someone to be seen, not someone (like us), who also sees.”
Die Abgrenzung zwischen Mehrheitsgesellschaft und Anderen in der deutschen Öffentlichkeit verläuft bei NSU und Ost-Ghouta – das Ausmaß des Leidens soll hierbei natürlich nicht verglichen oder gleichgesetzt werden – nach den von Sontag beschriebenen Mustern. Denn was sieht die deutsche Öffentlichkeit in dem Mann mit schwarzen Haaren, inmitten von Trümmern: Den Mensch oder den sunnitischen Muslim? Den vielseitig interessierten, ehemaligen Studenten oder einen von der Sonnenallee? Vor allem, mit Sontag gesprochen: Wird auch ihm die Menschlichkeit zugestanden, sehen zu können, unseren Blick zu erwidern?
Sentimentalität und Emotionen, das wusste Susan Sontag, sind nicht unbedingt gute Ratgeber zum Handeln, sie können ebenfalls in Gewalt ausarten. Dennoch stellte sie sich die Frage, wie Mitgefühl mit geografisch entfernten zivilen Opfern im Medienzeitalter aussehen kann. Ihre Antwort ist in ihrer nüchternen Klarheit eine treffende Zusammenfassung der öffentlichen Gleichgültigkeit gegenüber den Hunderttausenden ermordeten Zivilisten in Syrien:
“Compassion is an unstable emotion. It needs to be translated into action, or it withers. The question is what to do with feelings that have been aroused, the knowledge that has been communicated. If one feels that there is nothing “we” can do – but who is that “we”? – and nothing “they” can do either – and who are “they”? – then one starts to get bored, cynical, apathetic.”
Also: who are “they”, wer sind „sie”? Wer ist der Mann inmitten von Ruinen? Wenn „sie” die Opfer von Döner-Morden sind, die Schiiten oder Sunniten, die sich nun einmal gegenseitig umbringen, sollte man sich über Apathie und Zynismus als Reaktionen wahrlich nicht wundern.