30.10.2017
Der "Rainbow Flag Case": Größte Verfolgung von LGBT in Ägypten seit Jahren
Junge Männer hissen die Regenbogen-Flagge während des Mashrou-Leila-Konzerts. Dieses Bild und weitere haben im Anschluss in Ägypten für enormen Aufruhr gesorgt.
Junge Männer hissen die Regenbogen-Flagge während des Mashrou-Leila-Konzerts. Dieses Bild und weitere haben im Anschluss in Ägypten für enormen Aufruhr gesorgt.

Weil Konzertbesucher die Regenbogenflagge gezeigt haben, wurden mindestens 75 Ägypter festgenommen, 31 bereits zu Haftstrafen verurteilt. TV-Kommentatoren sind außer sich – über die Flagge: Homosexualität sei ein Verbrechen, „genauso schlimm wie Terrorismus“. Dabei ist sie nicht einmal illegal. 

Mit mindestens 75 Verhaftungen bis jetzt – laut der Egyptian Initiative for Personal Rights (EIPR) – gilt der sogenannte Rainbow Flag Case als größte anti-Schwulen-Razzia in Ägypten seit den Queen Boat Trials im Jahr 2001. Die Anklagen lauten: „Ausschweifung“, „Anstiftung zu sexuell abweichendem Verhalten“, „Mitgliedschaft in einer ungesetzlichen Vereinigung“. 31 Haftstrafen wurden verhängt, von sechs Monaten bis zu sechs Jahren.

Alles begann, als eine kleine Gruppe Konzertbesucher die Regenbogenflagge in die Höhe hielt. Der Vorfall ereignete sich bei einem Konzert der bekannten libanesischen Band Mashrou‘ Leila am 22. September während des Music Park Festivals in Kairo. Hamed Sinno, Leadsänger der Band, ist einer von sehr wenigen offen schwulen Künstlern in der Region. Die Band setzt sich auch für LGBT-Rechte ein.

Innerhalb weniger Stunden gingen Fotos von dem Konzert in den sozialen Medien viral und sorgten für hitzigen Streit. Lokale Medien griffen das Thema sofort auf, mit feindseligem Tonfall, und heizten den Hass gegen die LGBT-Community weiter an.

Ägyptische Medien in Ekstase

„Nur eine kleine Gruppe im Publikum zeigte die Flagge. Als Organisator kann ich nicht wissen, ob eine Person, die zum Konzert kommt, so ist (schwul) oder nicht“, sagte Haitham Alaa, Organisator des Konzerts, im Telefongespräch mit dem privaten Fernsehsender Dream TV.

Amr Adib, Moderator einer Sendung im Privatfernsehen, erklärte: „Freiheit hat Grenzen und Regeln. Manche Gesellschaften akzeptieren eben keine Schwulen. Präsident Trump hat sich vielen Themen, die Schwule betreffen, widersetzt, Angela Merkel ebenfalls…Mittlerweile wird man unterdrückt, wenn man beschließt, gegen Schwule zu sein… Entweder wir alle äußern unsere Meinungen, oder es spricht überhaupt niemand. Ich kann es nicht verstehen, wenn sich jemand für die Freiheit bei Themen einsetzt, die in unserer Gesellschaft nichts bedeuten.“

Aus der Türkei meldete sich Hesham Abdullah in seiner Talkshow auf dem pro-Muslimbruderschafts-Sender Al-Sharq TV [keine Verbindung zu alsharq.de, Red.] zu dem Vorfall. Er sagte, dass die selben Mächte im Staat, die „Tarawih“-Gebete in den Moscheen während des Ramadan verbieten, nun ein Konzert von Abartigen erlaubt hätten (Hinweis: Das hier verwendete arabische Wort „shaz/ شاذ” hat, wie viele Worte im Arabischen, mehrere Bedeutungen, darunter „abartig”. Es kann aber auch in bestimmten Kontexten, vor allem in herabsetzender Art, mit „schwul” übersetzt werden). „Es stellte sich heraus, dass manche Ägypter die Rechte der Abartigen vertreten haben. Allah wird sie foltern ... Man muss sich von ihnen distanzieren, selbst wenn sie der eigenen Familie angehören, um sich vor der Folter zu retten“, sagte er.

"Gegen die Menschlichkeit" nannte ein TV-Kommentator Homosexualität. "Gegen die Menschlichkeit" nannte ein TV-Kommentator Homosexualität.

Ahmed Moussa, Moderator beim privaten Sender Sada el Balad, rief den Staat zum Handeln auf: „Die Flagge der Abartigen wurde öffentlich geschwenkt, und noch immer habe ich nichts von irgendwelchen Maßnahmen gehört, die dagegen unternommen wurden … Ich hoffe, das Parlament oder das Innenministerium handeln … Ist es erlaubt, dass so etwas in Ägypten passiert? Nein, ist es nicht! Es ist gegen unsere Traditionen, Religion und Menschlichkeit. Es richtet sich gegen uns Ägypter!“ Moussa proklamierte auch, dass Homosexualität ein Verbrechen sei, ebenso gefährlich wie Terrorismus.  

Reda Ragab, Vertreter der Gewerkschaft für Musikberufe, gab in einem Telefonat mit Al-Assema TV bekannt, dass die Gewerkschaft beschlossen habe, sämtliche zukünftigen Konzerte von Mashrou‘ Leila in Ägypten zu verbieten; einzige Ausnahme: falls die Sicherheitsbehörden zustimmen sollten.

Die Band ihrerseits rief in einem Statement zu internationaler Solidarität mit der ägyptischen Community auf. Die Musiker sagten, sie bedauerten es, dass ihre Arbeit nun als Sündenbock für eine weitere Repressionsmaßnahme der Regierung benutzt wurde.

Am 30. September veröffentlichte der Supreme Council for Media Regulation (SCMR), ein Organ der Regierung, die Anweisung, das Auftreten von Homosexuellen oder ihren Slogans zu verbieten, in sämtlichen Medien, sei es schriftlich, als Audio oder visuell, es sei denn, die Medien gestehen ein, dass ihr Verhalten ungebührlich ist und sie Reue bekunden. Außerdem erklärte der SCMR, dessen Vorsitzender übrigens direkt vom Präsidenten bestimmt wird, dass Homosexualität eine Krankheit und Schande sei, die besser versteckt würde statt verbreitet, bis sie behandelt wurde und die Schande aufgehoben (das ganze Statement zum Nachlesen: ArabischEnglisch).

Bekannte Razzien gegen LGBT in Ägypten

Obwohl der Rainbow Flag Case nun als größte Verfolgung Schwuler in Ägypten gilt, war er nicht die erste. Alle paar Jahre rückt ein neuer Fall die LGBT-Community ins Rampenlicht.

Der berühmteste Fall waren die Queen Boat Trials 2001. Er war auch unter dem Namen Cairo 52 bekannt, da 52 Männer im Zusammenhang mit einer schwimmenden Disko in Kairo namens Queen Boat verhaftet wurden – während einer angeblichen Schwulenparty.

Nach Angaben von Human Rights Watch wurden die meisten der Männer in der Haft gefoltert. Der Bericht enthüllt auch, dass nur ein Drittel der Männer auf dem Boot selbst verhaftet wurde. Die meisten anderen wurden mit Hilfe von Informanten auf der Straße verhaftet, Tage vor der Razzia.

Die Zeitungen fuhren eine Hetz-Kampagne gegen die Beschuldigten, veröffentlichten Fotos, Namen, Adressen und Berufe. Sie wurden als Teufelsanbeter beschrieben, die perverse Praktiken vornahmen und pornografische Bilder machten.

Nach den Wiederaufnahmeverfahren wurden 29 Angeklagte freigesprochen, während 21 wegen „ausschweifenden Verhaltens“ zu dreijährigen Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Der Hauptangeklagte wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, sein mutmaßlicher Helfer erhielt eine dreijährige Strafe. Der Richter reduzierte die Strafen von vier Männern auf ein Jahr nach einem Berufungsverfahren.

Die Ramses Bathhouse Trials waren eine Polizeirazzia, die der private Al-Qahera wa al-Nas-Sender exklusiv filmte und ausstrahlte. 26 Männer wurden im Dezember 2014 in einem öffentlichen Badehaus in Ramses/Kairo verhaftet. Am selben Tag schrieb die TV-Moderatorin Mona al-Iraqi auf Facebook, dass sie und ihr Filmteam dieses Badehaus als „Hort der Gruppenperversion“ ausfindig gemacht und an die Polizei gemeldet hätten.

Nachdem die Bilder der während der Verhaftung halbnackten Männer ausgestrahlt wurden, und nachdem sie eine eingehende ärztliche Untersuchung über sich ergehen lassen mussten, wurden alle 26 Männer für unschuldig befunden. Iraqi wurde zunächst wegen Diffamierung und der Verbreitung falscher Tatsachen zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt, und zu einer Strafe von 1.600 Ägyptischen Pfund (damals etwa 190 Euro). Nach der Berufung wurde sie freigesprochen.

Homosexualität ist nach ägyptischem Recht nicht illegal

Obwohl es als großes Tabu gilt, gibt es keinen Artikel in ägyptischen Gesetzen, der Homosexualität ausdrücklich unter Strafe stellt. LGBT werden daher in der Regel aufgrund von anti-Prostitutionsgesetzen und unter dem Vorwurf der Ausschweifung verfolgt und verhaftet.

Viele, die während der aktuellen Razzia verhaftet wurden, waren noch nicht einmal bei dem Konzert. Laut einer Pressemitteilung des UN-Menschenrechtskommissars wurden einige verhaftet, nachdem sie mit Hilfe von Apps und einschlägigen Chat Rooms in die Falle gelockt wurden.

Allerdings waren nicht nur LGBT von den Verhaftungen im Rainbow Flag Case betroffen. Zwei der Hauptverdächtigen, Ahmad Alaa und Sarah Hegazy, wird vorgeworfen, die Regenbogenflagge beim Konzert gezeigt zu haben. Sie wurden am 2. Oktober verhaftet, der Vorwurf lautet „Mitgliedschaft einer verbotenen Gruppierung, die darauf abzielt, den allgemeinen und sozialen Frieden zu stören“.

Der 21 Jahre alte Jurastudent Alaa räumte ein, die Flagge in Solidarität mit Sänger Sinno gehisst zu haben. Die 28-jährige Hegazy, die im IT-Bereich arbeitet, stritt die Vorwürfe ab. Sie erklärte allerdings ihre Solidarität mit der LGBT-Community.

Hegazys Mitgefangene schlugen und drangsalierten sie in ihrer ersten Nacht auf der Polizeistation, berichten ihre Anwälte. „Die Belästigung endete erst, als sie ins Gefängnis gebracht wurde“, sagt ihr Anwalt Mostafa Fouad. Er bestätigte auch, dass während der Befragung ihr Handy beschlagnahmt wurde und sie zu Posts, Bildern und privaten Nachrichten auf ihrem Facebook-Account befragt wurde.

Alaa veröffentlichte vor seiner Verhaftung ein Online-Video, in dem er sagte, er könnte von der Universität ausgeschlossen werden, und dass er Todesdrohungen erhalten habe. Sein Anwalt Mohamed Hanafy sagte im Gespräch mit Alsharq, dass er nicht medizinisch untersucht wurde, während er in Haft war.

Dies war nicht allen während der Razzia Verhafteten beschieden. Mindestens fünf von ihnen wurden von ägyptischen Gerichtsmedizinern anal untersucht, berichtete Amnesty International.

Ein Bericht von Human Rights Watch stellte fest, dass Analuntersuchungen nicht nur unethisch und misshandelnd sind, sondern in den allermeisten Fällen auch ohne jeden Beweiswert. In dem Bericht wurde auch die Independent Forensic Experts Group (IFEG) zitiert, die sagte, die Untersuchungen sollten verworfen werden, sowohl aus Gründen des Menschenrechts und der Medizinethik als auch, weil sich mit ihrer Hilfe keine Abnormalitäten beim Schließmuskel feststellen lassen, die zuverlässig von konsensuellem Analverkehr stammen.

 

Am 29. Oktober erneuerte die Staatsanwaltschaft die Haft für Ahmed Alaa um 15 Tage. Auch Sara Hegazys Haft wurde am 25. Oktober um 15 Tage verlängert.

Mindestens 75 Menschen wurden bislang im Rainbow Flag Case insgesamt verhaftet – schätzungsweise. Zwei wurden freigesprochen, fünf weitere von der Anklage entlassen. Bis jetzt wurden 31 Menschen zu Haftstrafen verurteilt, von sechs Monaten bis zu sechs Jahren, während der Rest noch auf die Prozesse oder die Befragungen wartet, teilte die Egyptian Initiative for Personal Rights (EIPR) mit.

Artikel von B. Abdelwahab
Übersetzt von Bodo Weissenborn