27.09.2018
LGBTI in Marokko – repressive Rechtsvorschriften, engstirnige Sozialmoral
Der Djemaa el Fna Platz in Marrakesch, Marokko. Photo: Grand Parc/Wikimedia (CC BY 2.0)
Der Djemaa el Fna Platz in Marrakesch, Marokko. Photo: Grand Parc/Wikimedia (CC BY 2.0)

In Marokko sehen sich viele LGBTI-Menschen gezwungen im Verborgenen zu leben. Denn „unzüchtige oder widernatürliche Handlungen mit einer Person gleichen Geschlechts“ stehen in Marokko unter Strafe. Doch auch die gesellschaftlichen Anfeindungen nehmen zu – bis hin zur Selbstjustiz.

Hinweis: Dieser Text erschien am 27.09.2016. Wir finden ihn aber nach wie vor aktuell, er erscheint daher als unser aktueller „Editor's Pick“, also Empfehlung der Redaktion. Aus technischen Gründen mussten wir dafür das Datum vorübergehend ändern.

Im Mai dieses Jahres wurden zwei Männer aus Béni Méllal, einer Kleinstadt im Landesinneren Marokkos, Opfer eines blutigen und demütigenden Angriffs. Eine Gruppe von Männern warf ihnen Homosexualität vor. Die beiden Opfer wurden geschlagen, ihrer Kleider beraubt, auf offener Straße gedemütigt, doch beschränkte sich die Gewalt nicht allein auf den physischen Aspekt. Die Angreifer filmten diesen von langer Hand geplanten Akt kollektiver Lynchjustiz: Der Angriff ereignete sich in der Wohnung eines der beiden Männer just zu einem Zeitpunkt, als beide anwesend waren. Über das Gewaltpotenzial hinaus zielte der Angriff daher darauf ab, die Opfer durch Verbreitung der Videoaufnahmen in den sozialen Netzwerken zu outen.[1]

Der Vorfall von Béni Méllal Etliche Angreifer entgingen einer Verhaftung, vier von ihnen wurden angeklagt. Drei wurden zu Gefängnisstrafen ohne Bewährung zu drei bis sechs Monaten verurteilt. Der vierte Angeklagte wurde freigesprochen. Die Opfer erhielten Haftstrafen von drei Monaten auf Bewährung bzw. vier Monaten ohne Bewährung, letztere später umgewandelt in eine viermonatige Bewährungsstrafe.

Der Vorfall ist exemplarisch für eine Welle zunehmender gesellschaftlicher Anfeindung von lesbischen, gay, bisexuellen, trans- und intersexuellen Personen (LGBTI) in Marokko. Darüber wurde in den vergangenen beiden Jahren auch mehrfach in den Medien berichtet. Die Verurteilung einzelner geschieht unter Berufung auf Sitte und Anstand beziehungsweise soziale Normen, nach denen zwischen „normalen“ und als „anormal und unmoralisch“ geltenden Geschlechterbeziehungen unterschieden wird. So straft der noch aus der Kolonialzeit stammende Artikel 489 des marokkanischen Strafrechts „mit einer Haftstrafe von sechs Monaten bis drei Jahren und einer Geldstrafe von 200 bis 1.000 Dirham Personen, die unzüchtige oder widernatürliche Handlungen mit einer Person gleichen Geschlechts vornehmen, sofern eine solche Handlung nicht eine schwerwiegendere Straftat darstellt“.

Obwohl auch außereheliche heterosexuelle Beziehungen in Artikel 490 unter Strafe gestellt werden, ist der staatliche Wille zur Unterdrückung und Abstrafung von Personen aus dem LGBTI-Spektrum (gemäß Artikel 489) wesentlich ausgeprägter. Dieser Wille kommt insbesondere im aktuellen Entwurf zur Reform des Strafgesetzbuchs zum Ausdruck. In dem Reformvorhaben ist vorgesehen, die bestehenden Verbote aufrechtzuerhalten und das Strafmaß für außereheliche sexuelle Beziehungen (Artikel 490) zu senken. Im Gegenzug ist geplant, die Strafe für diejenigen Personen, die „unzüchtige oder widernatürliche Handlungen mit einer Person gleichen Geschlechts vornehmen“ (Artikel 489) zu erhöhen. Der gegenwärtig geltende Strafbetrag von 200 bis 1000 Dirham dürfte sich dem Entwurf zufolge auf eine Summe von 2.000 bis 20.000 Dirham erhöhen.[2]

Auch in Algerien[3] und Tunesien[4] werden nach geltendem Recht homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt. Wie in Marokko droht den verdächtigten Personen in Tunesien bis zu drei Jahren Haft nebst Geldstrafe, während sich das Strafmaß in Algerien auf zwei Jahre bemisst, ebenfalls zuzüglich einer Geldstrafe.

Der Vorfall von Rabat Am Tag nach einer Aktion von Femen auf dem Vorplatz des Hassan-Turms, mit der zur Entkriminalisierung der Homosexualität aufgerufen wurde, werfen Ordnungshüter Lahcen und Mohcine vor, sich am selben Ort geküsst zu haben. Allerdings wird dieser Tatbestand im Polizeibericht nicht erwähnt. Stattdessen finden sich darin Geständnisse der beiden Opfer, die durch körperliche und psychische Gewalt erzwungen wurden. Das ist den im Fernsehen gezeigten Fotos der Opfer, auf denen Spuren von Schlägen zu erkennen waren, und den Plädoyers ihrer Anwälte zu entnehmen. Am 19. Juni 2015 werden Lahcen und Mohcine jeweils zu vier Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt.

Institutionelle und gesellschaftliche Feindlichkeit gegenüber LGBTI

Die Übergriffe auf die beiden Männer von Béni Méllal sind symptomatisch für die Institutionalisierung und Legitimierung von Gewalt durch den Staat gegenüber Personen des LGBTI-Spektrums. Die Beweggründe für Gewalt gegen und Festnahme von LGBTI stützen sich sehr häufig auf Verdachtsmomente aufgrund eines schlichten Anscheinsbeweises, eines Auftretens oder Kleidungsstils, die der gesellschaftlichen Norm zuwiderlaufen. Auch wenn, wie im Fall von Lahcen und Mohcine, denen man vorwarf, die Femen-Aktion am Hassan-Turm (Rabat[5]) nachgeahmt zu haben, keinerlei Beweise dafür vorliegen, dass ein Kuss zwischen zwei Männern stattgefunden hat, erfolgt die Anklage aufgrund von Geständnissen, die den Opfern durch Folter abgepresst wurden.[6]

Wenn nicht der Staat selbst durch Anwendung von Artikel 489 strafend einschreitet, sind es die Bürger_innen, die sich dieser Rolle bemächtigen und dazu durchaus legitimiert fühlen. So geschehen im Fall eines jungen Mannes aus Casablanca, der im September 2015 wegen seines Kleidungsstils in seiner Heimatstadt angegriffen und gedemütigt wurde.[7] Dieser Angriff belegt, dass trotz gelegentlicher Aufrufe der Behörden[8], mit denen die Bürger_innen daran erinnert werden sollen, keine Selbstjustiz zu üben, die Rolle des Staates als Garant persönlicher Freiheitsrechte de facto nicht wahrgenommen wird, nicht zuletzt wenn vielfach den Urhebern der Gewalt ein nahezu beliebiger Handlungsspielraum zugestanden wird.

Der Vorfall von Fès Am 29. Juni 2015 warf ein Taxifahrer in Fès seinen Fahrgast, eine transsexuelle Person, aus dem Taxi und verunglimpfte sie lautstark als  „Khanit“ (verweiblichter Mann). Die Flüche des Fahrers rief eine Menschenmenge auf den Plan; eine Gruppe von Männern trieb die transsexuelle Person in die Enge und verprügelte sie. Der Akt von Lynchjustiz wurde gefilmt und in den sozialen Netzwerken verbreitet. Nur zwei der Männer wurden angeklagt und zu einer viermonatigen Gefängnisstrafe verurteilt.

Schulterschluss zwischen Staat und Gewalttätern: Straftaten nehmen zu

Wenn man das Zusammenspiel unter die Lupe nimmt, das sich zwischen den Behörden und den an der öffentlichen Lynchjustiz von LGBTI-Personen beteiligten Gewalttätern etabliert hat, lässt sich beobachten, dass die Angreifer nur in den seltensten Fällen verhaftet und für die von ihnen begangenen Straftaten gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden. Die Behörden schreiten erst ein, wenn der Druck in den Medien sehr stark geworden ist und eine Mobilisierung von Vertretern der Zivilgesellschaft stattfindet.

Dies war bei den geschilderten Vorfällen von Fès,[9], Rabat und Béni Méllal der Fall, wo der Aufschrei der Entrüstung in den sozialen Netzwerken zu polizeilichen Ermittlungen gegen die mutmaßlichen Angreifer führte. In den drei oben zitierten Fällen wurde jedoch nur eine begrenzte Zahl von Angreifern eher symbolhaft festgenommen und zu absurd geringen Haftstrafen verurteilt (vier Monate bzw. fünf Monate Haft ohne Bewährung oder als Bewährungsstrafe), die dem noch aus Protektoratszeiten stammenden Artikeln des Strafgesetzbuchs entnommen wurden. Mit dem nahezu konsequenten Verzicht auf strafrechtliche Verfolgung der Gewalttäter_innen und der Beibehaltung von Artikel 489 wird der Staat zum Mitverantwortlichen für die Anstachelung zu und Verankerung von Gewalt gegenüber LGBTI-Personen in der marokkanischen Gesellschaft.

In den beiden vergangen Jahren hat sich die Haltung des Staates und der Gewalttäter_innen infolge der vermehrten Nutzung sozialer Netzwerke um ein Vielfaches verschärft. Wird ein Video ins Internet gestellt, so zielt dies einerseits darauf ab, das Opfer zu demütigen, andererseits gestattet es den Angreifern, ihren Stolz über ihr Einschreiten zur Wahrung der guten Sitten zu bekunden. Derartige Videos wirken wie ein Katalysator, indem sie nicht nur zu Gewalt und Hass gegenüber einem Teil der Bevölkerung aufrufen, sondern auch die Bereitschaft zur Verfolgung schüren, gestützt allein auf bloße Verdachtsmomente.

„Nach der Festnahme von Gewaltverdächtigen im Falle der beiden Männer von Béni Méllal formierte sich in der Stadt eine Bürgerbewegung unter der Leitung einer selbst ernannten „Koalition zur Wahrung der Würde und der Menschenrechte“, um gegen die Festnahme der mutmaßlichen Angreifer zu protestieren und eine Strafverschärfung zu Lasten der Opfer zu fordern. Zugleich wurde zur Bekämpfung von Homosexuellen aufgerufen, um die Stadt von der Perversion zu reinigen… Man könnte von einem Aufruf zu Hexenjagd sprechen, ohne dass die Behörden etwas unternommen hätten, um diesen Hasstiraden Einhalt zu gebieten.“ - Ein Mitglied der Gruppe Aswat, eine Gemeinschaftsorganisation, die sich für den Kampf gegen sexuell und geschlechterbasierte Diskriminierung einsetzt

Die mittelbaren Folgen der Häufung solcher gewaltsamer Übergriffe – Filmaufnahmen öffentlich verübter Lynchjustiz – sind zweischneidig. Einerseits ist es den für die Rechte von LGBTI-Personen eintretenden Organisationen gelungen, alle Kräfte zu mobilisieren, um den Opfern zur Seite zu stehen und eine Debatte innerhalb der marokkanischen Gesellschaft anzustoßen; andererseits hat die durch Mediatisierung erhöhte Sichtbarkeit von Personen des LGBTI-Spektrums Dritte dazu veranlasst, Selbstjustiz zu üben, um diejenigen zu bestrafen, die gegen die gesellschaftliche Norm verstoßen.

„Ich lebe mit meiner Partnerin zusammen, wir bemühen uns darum, kein Aufsehen zu erregen. Im vergangenen Jahr bekamen wir Schwierigkeiten mit unserem Vermieter. Er hat sich geweigert, uns die Kaution zurückzuzahlen; meine Partnerin, die als Hauptmieterin eingetragen war, hat versucht, mit ihm zu verhandeln. Er reagierte sehr aufgebracht, hat sie verbal angegriffen und ihr zu verstehen gegeben, sie solle den Mund halten und dankbar sein, dass er uns nicht bei der Polizei verpfiffen habe. Er fügte hinzu, er sei von Beginn an über unsere Beziehung auf dem Laufenden gewesen, weil Nachbarn ihn informiert und nachgefragt hätten, ob sie uns nicht vor die Tür setzen sollten. Er begann mich zu beleidigen, bezeichnet mich gegenüber meiner Partnerin wörtlich als „deine Freundin, dein Freund, also, was weiß ich, wie ich diese Type da nennen soll“. Angesichts dieser Drohungen haben wir den Ort so schnell wie möglich verlassen, denn die Stimmung im Viertel wurde beklemmend und regelrecht bedrohlich.“ - Angestellte, lesbisch, 25 Jahre

Indirekte Gewalt 

Die öffentlich verübte Lynchjustiz ist nicht die einzige Form von Gewalt gegenüber Personen aus dem LGBTI-Spektrum. Andere Formen gewaltsamen Handelns geschehen mittelbar und in aller Heimlichkeit. Strafrechtliche und gesellschaftliche Sanktionen zwingen die betroffenen Personen dazu, im Verborgenen zu leben, was sie anfällig macht für eine zunehmende Entrechtung. Der Zugang unter anderem zu Justiz, Gesundheitsversorgung, Bildung, Beschäftigung und zum Wohnungsmarkt ist erschwert.

Im Falle häuslicher Gewalt, Aussperrung, rechtswidriger Kündigung, sexueller Belästigung, Vergewaltigung, körperlicher Angriffe, Diebstahls, Mobbings oder Erpressung ist der Rechtsweg für LGBTI-Personen kaum zugänglich. Abgesehen von dem Risiko, vom Angreifer_in bei der Polizei angezeigt zu werden, besteht die größte Gefahr für das Opfer bei Klageerhebung oder im Falle einer Zeugenaussage darin, selbst der Homosexualität bezichtigt und festgenommen zu werden.[10]

„Im Dezember 2013 wurde ein junger Händler in Marrakesch verhaftet, vor Gericht gestellt und zu einer Haftstrafe verurteilt, nachdem er eine Suchmeldung für einen vermissten Freund aufgegeben hatte. Bei der Inaugenscheinnahme seines Telefons auf der Polizeiwache waren die Polizeibeamten auf suggestive Fotos gestoßen, die ihn letztlich dazu veranlassten, seine Homosexualität zu bekennen.“ - Zeugenbericht eines Aktivisten

Der beschränkte Zugang zur Gesundheitsversorgung betrifft in erster Linie die Vorsorge und Behandlung von Geschlechtskrankheiten. Die Furcht, gedemütigt oder vom ärztlichen Personal angezeigt zu werden, treibt die Personen aus dem LGBTI-Spektrum dazu, sich von den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen fernzuhalten. Die Furcht, als „abartig“ angesehen und bei einer polizeilichen Kontrolle festgenommen zu werden, veranlasst auch dazu, den Gebrauch von Kondomen zu vermeiden, die dem Schutz vor übertragbaren Geschlechtskrankheiten und AIDS dienen könnten, da Kondome von den Ermittlungsbehörden als Beweisstück eingestuft werden.

„Ein junger Mann, der nach homosexuellem Kontakt an einer Analinfektion litt, suchte eine öffentliche Gesundheitseinrichtung auf, um sich untersuchen und behandeln zu lassen. Nach der Untersuchung schrie ihn der behandelnde Arzt auf dem Gang in Gegenwart von Patienten und Personal an: ‚Wie kannst du dich von anderen besteigen lassen wie ein Maulesel?‘“ - Zeugenbericht eines ehrenamtlichen Mitarbeiters bei einer Organisation zur Prävention von HIV-AIDS

Was das Recht auf Bildung anbelangt, leiden junge LGBTI-Personen während ihrer gesamten Bildungslaufbahn von der Grundschule bis zur Universität vielfach unter Gewalt in Form von Schikane, Demütigung, täglichen Belästigungen, sexueller Gewalt, Abziehen, Erpressung bis hin zum Schulverweis, sofern der Person sexuelle Handlungen innerhalb der Bildungseinrichtung zur Last gelegt werden[11].

„In der Sekundarschule warteten die Jungs nach Schulschluss auf mich, um mich wegen meines Aussehens zu verprügeln. Einmal schlugen sie mir derart fest auf das Ohr, dass ich teilweise ertaubte. Heute muss ich ein Hörgerät tragen, um wieder richtig hören zu können.“ - Studentin, transsexuell, 22 Jahre

In der Arbeitswelt wird Personen, deren geschlechtsbezogenes Erscheinungsbild nicht der Norm entspricht, häufig die Anstellung verweigert; sie werden Opfer sexueller Belästigung, von Mobbing oder Erpressung unter Androhung der Denunziation. Vergleichbare Situationen treten auch beim Zugang zum Wohnungsmarkt auf, wo sich die betroffenen Personen der Erpressung von Seiten des Vermieters/der Vermieterin oder der Nachbarn ausgesetzt sehen, vom Vermieter_in hinausgeworfen werden oder ihnen eine Wohnung aufgrund ihres Äußeren oder in Zweifelsfällen verweigert wird.

Schulabbruch, autodestruktives Verhalten: der Teufelskreis sozialer Ausgrenzung

Die Kriminalisierung von Personen des LGBTI-Spektrums führt per Dominoeffekt dazu, dass diese im Verborgenen leben müssen und Gefahr laufen, in den Teufelskreis der sozialen Ausgrenzung zu geraten. Sehr häufig beginnt die Spirale der Gewalt bereits in der Pubertät; das Mobbing und/oder die körperlichen Misshandlungen in Sekundarschule und Gymnasium begünstigen das schulische Versagen oder sogar den Schulabbruch.

Diese erste Form der sozialen Ausgrenzung zieht weitere schädliche Folgen nach sich. Beispielsweise werden Homosexuelle und Transsexuelle Male to Female (MtF) noch immer häufig aus dem Elternhaus verbannt, wohingegen Lesben und Transsexuelle Female to Male (FtM) tendenziell eher Opfer häuslicher Überwachung (Kontrolle von Mobilität, Telefon, Internetzugang etc.) oder in drastischeren Fällen einer Freiheitsberaubung und/oder Zwangsehe werden. Das Ausmaß der Isolierung und Ausgrenzung schwankt von Fall zu Fall, wobei das soziale Milieu und der Wohnort der betreffenden Person Faktoren sind, die zur Verschärfung der ohnehin prekären Situation beitragen können. Eine Person aus einem Dorf, einer Kleinstadt oder einem benachteiligtem Wohnviertel hat nach einem öffentlichen Outing nur geringe Chancen, jemals dorthin zurückkehren zu können, ohne dass ihr nach dem Verlust der Anonymität dort Gewalt angetan wird.

 

Tatsächlich zieht die Mehrzahl der Opfer es nach einem Angriff vor, zu schweigen oder ihren bisherigen Aufenthaltsort zu wechseln, statt Strafanzeige zu erstatten. Diese Reaktion begründet sich durch die Furcht und allseits bekannte Risiko einer Verhaftung, die letztlich zu einer Vorstrafe führt und damit die berufliche Zukunft stark beeinträchtigt.

„Einer der beiden Jugendlichen, die mit der Anschuldigung festgenommen wurden, die Femen-Aktion am Hassan-Turm mit einem Kuss nachgeahmt zu haben, verlor anschließend seine Anstellung. Es ist ihm bislang nicht gelungen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, da man ihn geoutet hat und seine Vorstrafe ihm den Zugang zur formellen Beschäftigung verwehrt.“ - Ein Mitglied der Gruppe Aswat

Die Flucht und das Verschweigen intensivieren die Spirale der sozialen Ausgrenzung, die sich weiter zuschraubt, bis sie die psychische Verfassung der jungen Menschen beeinträchtigt. Die Isolation, der die Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausgesetzt sind, und das Risiko, gegenüber Familie und Verwandten denunziert zu werden, verstärken nur noch ihre prekäre Lage und Verletzlichkeit, die ihrerseits zu psychischen Belastungen führen. Häufig ist der Einfluss der Familie derart dominant, dass sich die Betroffenen ihm kaum entziehen können, ohne ihr Leben in Gefahr zu bringen (Verlust von Haus oder Wohnung, soziale Ausgrenzung). Daher geben viele LGBTI letztlich dem Drängen der Familie nach und willigen pflichtgemäß in eine Heirat ein.

„Meine Familie hat mich gezwungen, ein Mädchen aus unserem Wohnviertel zu heiraten. Ich wollte nicht, hatte aber keine Rechtfertigung dafür, mich zu weigern, da die Heirat in unserem traditionellen Umfeld unvermeidlich dazugehört und einen neuen Lebensabschnitt einleitet. Ich habe das Mädchen also unter dem Einfluss der von meiner Familie ausgübten emotionalen Erpressung geheiratet, es ist mir jedoch nie gelungen, eine sexuelle Beziehung mit ihr zu führen. Das hat in meiner Familie Verdacht erregt, denn von einem Mann wird erwartet, dass er seine Männlichkeit beweist. Ich musste ihnen also erzählen, dass mich jemand verhext hat; dies war der einzige Weg, sie zu überzeugen. Ihnen den wahren Grund für die fehlende Intimität in meiner Ehe zu nennen, meine Homosexualität, war unmöglich.“ - Taxifahrer, homosexuell, 28 Jahre      

Selbstverleugnung, Schuldgefühle, Angstzustände, soziale Phobie und andere autodestruktive Verhaltensweisen sind die häufigsten Symptome, der Selbstmord bleibt nach wie vor ein Extremfall. Dieser letzte Ausweg wird von einigen isoliert lebenden jungen Menschen gewählt, die ständiger körperlicher, psychischer oder sexueller Gewalt aus ihrem Umfeld ausgesetzt sind.

 „Anlässlich der Erstellung eines Internetbeitrags hatten wir Verbindung mit einer lesbischen jungen Frau aufgenommen, deren Familie ihre Homosexualität entdeckt hatte. Ab diesem Zeitpunkt wurde sie von ihrer Familie eingesperrt; sie erhielt nur für den Besuch von Vorlesungen und Seminaren im Rahmen ihres Studiums Ausgang, und auch dann stets in Begleitung eines Familienmitglieds. Die Eltern konfiszierten ihr Telefon und überwachten ihren Internetzugang. Dies ging so weit, bis sie einen Selbstmordversuch unternahm. Zuletzt mussten wir erfahren, dass sie Rasierklingen geschluckt hatte; seitdem haben wir nichts mehr von ihr gehört.“ - Ein Mitglied der Gruppe Aswat

Der Asylantrag – ein willkürliches Verfahren

Wenn sich die betroffenen Personen fortwährend bedrängt und verfolgt fühlen, bietet sich als eine mögliche Lösung an, das Land zu verlassen und anderenorts einen Asylantrag zu stellen. Diese Option steht nicht allen zu Gebote; mit der Aufnahme eines solchen Verfahrens beginnt für viele ein neuer Leidensweg. In den meisten Fällen handelt es sich beim gewählten Aufnahmeland für den Antrag beim UNHCR um eines der Nachbarländer wie beispielsweise Tunesien oder die Türkei. Da in diesen Ländern ebenfalls homophobe Einstellungen und Normen vorherrschen, besteht die Gefahr, weiterhin einer Verfolgung ausgesetzt zu sein; hinzu kommen finanzielle Probleme, bedingt durch das Leben im Ausland.

Die Kontaktaufnahme mit dem UNHCR ist ein äußerst schwieriges und zeitaufwändiges Verfahren, besonders im Falle der Türkei. Ist es den Betroffenen gelungen, einen Gesprächstermin zu erwirken, stehen sie anschließend vor der Herausforderung, etliche Hürden zu überwinden, um den „Nachweis ihrer Homosexualität“ zu erbringen, aber auch zu beweisen, dass sie verfolgt werden.

Eines der Hauptprobleme besteht in der Voreingenommenheit und den stereotypen Vorstellungen davon, wie eine schwule, lesbische oder transsexuelle Person beschaffen ist. Bedingt durch den Umstand, dass die Asylsuchenden sich teilweise erst mit vorgerücktem Alter zu ihrer Homosexualität bekannt oder bereits ein heterosexuelles Leben geführt haben – häufig verheiratet und mit Kindern – oder nicht dem stereotypen äußerlichen Erscheinungsbild entsprechen, besteht ein hohes Risiko, dass ihnen der Flüchtlingsstatus verweigert wird. Zudem erweist es sich für einige als schwierig, materielle Beweise für ihre Verfolgung vorzulegen, insbesondere angesichts der Fristvorgaben.

Die Herausforderungen der kollektiven Mobilisierung

In Marokko gibt es nur wenige Akteure der Zivilgesellschaft, die sich für die Rechte von Personen aus dem LGBTI-Spektrum einsetzen. Dieser Arbeitsschwerpunkt wird weiterhin tabuisiert oder nicht als vorrangig empfunden, nicht zuletzt von den zahlreichen Organisationen, die im Bereich der Menschenrechte aktiv sind. Drei Hauptakteure setzen sich öffentlich für die Belange der LGBTI ein, wobei zwei von ihnen – MALI und Akaliyat – darüber hinaus für die Wahrung persönlicher Freiheitsrechte eintreten. Nur die Gruppierung Aswat konzentriert sich ausschließlich auf den Kampf um die Rechte für LGBTI.[12] Diese Gruppe führt eine Medienbeobachtung durch, die als Frühwarnsystem für Rechtsverletzungen aufgrund sexueller Orientierung, Geschlechteridentität und äußerem Erscheinungsbild dient. Bei Aufdeckung von Fällen findet eine Mobilisierung der öffentlichen Meinung gemeinsam mit anderen Vertretern der Zivilgesellschaft über die Medien und sozialen Netzwerke statt, um Druck auf die zuständigen staatlichen Stellen auszuüben.

„Es liegen zahlreiche Fälle von Rechtsverletzungen gegenüber LGBTI auf nationaler Ebene vor, in denen eine Strafverfolgung unterbleibt, weil sie im Verborgenen geschehen oder vertuscht werden. Außerdem ist es schwierig, Frühwarnmechanismen einzurichten, da die Gruppe nicht über die erforderliche technische und personelle Ausstattung verfügt.“          - Ein Mitglied der Gruppe Aswat

Die Gruppierung hat zudem nicht den Status eines eingetragenen Vereins, was mit ihrem Arbeitsgebiet in einem vom Staat kriminalisierten Bereich zusammenhängt.

„Es wirft Probleme auf, als eingetragener Verein und unter Preisgabe des Inkognito die Verletzung von Rechten der LGBTI anzuprangern, wenn man die Repressalien bedenkt, denen die Aktivisten möglicherweise ausgesetzt sind.“[1] - Ein Mitglied des Gruppe Aswat

Der Fall dieser Gruppierung steht nicht allein, auch andere Gruppen, die sich gegen behördliche Gewalt im Zusammenhang mit der Beschränkung persönlicher Freiheitsrechte wenden, so etwa MALI[13] und Akaliyat[14], sind ebenfalls nicht im Vereinsregister eingetragen.

Der fehlende Rechtsstatus hat Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Einwerbung von Geldern und zur Begründung formeller Partnerschaften mit anderen Akteuren im Hinblick auf eine gerichtliche Stellungnahme. Die betroffenen Gruppen wählen in dem Fall den Weg einer informellen Zusammenarbeit mit bereits formierten und anerkannten Organisationen der marokkanischen Zivilgesellschaft, die jedoch nicht sehr zahlreich sind.

Nahezu vollständige Abwesenheit von Hilfsmechanismen

Die Reaktionsmöglichkeiten bei Angriffen oder Festnahmen beschränken sich auf den Zugang zur Rechtshilfe, die von Seiten der marokkanischen Menschenrechtsorganisation „Association Marocaine des Droits de l’Homme“ (AMDH) [15] oder von ehrenamtlich arbeitenden Anwälten gewährt wird.

Gefährdete oder verfolgte Personen sehen sich häufig sämtlicher privater Mittel oder der Hilfe von Seiten ihrer Familie oder ihrer Angehörigen beraubt. Sie benötigen dringenden sozialen Beistand vor allem für ihre Grundbedürfnisse (Unterkunft, Mahlzeiten, Kleidung, hygienische Versorgung etc.), die nach derzeitigem Stand keine der Organisationen leisten kann. Etliche der verfolgten, inhaftierten und insbesondere über die Medien geouteten Personen können nicht mehr in ihr früheres Umfeld zurückkehren, das bislang als einziger Rückhalt fungierte; der Staat hingegen enthält den in Not geratenen Personen jegliche Hilfsmittel vor.

 „In den meisten von unserer Organisation betreuten Fällen ist es schwierig, nach einem Angriff oder nach der Entlassung aus der Haft den Kontakt mit den Opfern zu halten. Das liegt in erster Linie an dem Wunsch der betroffenen Personen, das Trauma hinter sich zu lassen und ein neues Kapitel aufzuschlagen.“ - Ein Mitglied der Gruppe Aswat 

Vom Populismus bis hin zu Hasstiraden

Die politischen Parteien spielen auch in Marokko eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Politik in gesellschaftlichen Fragen. Als eine Debatte zur Verletzung von Rechten einzelner vor dem Hintergrund der sexuellen Orientierung, Geschlechteridentität und des äußeren Erscheinungsbilds aufkam, ging keine der Parteien konkret auf das Thema ein, abgesehen von einigen offiziellen Erklärungen in den Medien oder im Parlament, in denen Gewalt gegen Homosexuelle verurteilt wurde. Die zögerlichen, ausbleibenden oder feindseligen Reaktionen der politischen Parteien sind möglicherweise auf den Umstand zurückzuführen, einer mehrheitlich gegen Homosexualität eingestellten Wählerschaft Zugeständnisse machen zu müssen. Sie sind jedoch vor allem verknüpft mit der homophoben Stimmung, die von politischen Parteien wie der aktuellen Regierungspartei, der Partie Justice et Développement (PJD) sowie einer weiteren politisch einflussreichen Partei, der Istiqlal[16], geschürt wird.

Auch wenn einige der Medien in Marokko das journalistische Berufsethos respektieren, berichten nur sehr wenige von ihnen objektiv und sachkundig über die Problematik von Personen aus dem LGBTI-Spektrum. Zumeist werden lediglich Meldungen über Angriffe oder Festnahmen in den Lokalnachrichten verbreitet. Manche Titel verlegen sich auf Hasstiraden, abwertende Bezeichnungen und Bestärkung von Vorurteilen gegenüber LGBTI-Personen und gesellschaftlichen Übergriffen, um Skandale heraufzubeschwören oder ihre konservative redaktionelle Ausrichtung zu untermauern.

In diesem Umfeld bleibt den betroffenen Personen keine andere Wahl, als das Land zu verlassen oder sich mit Selbstbehauptungsstrategien einen sicheren Raum zu schaffen, ohne jedoch jemals vor Gewalt oder einer Verhaftung geschützt zu sein. Das Vorhaben des Bundestags, Marokko als „sicheres Herkunftsland“ einzustufen, wird die gravierenden Probleme von LGBTI-Personen weiter verschärfen, insbesondere wenn sie versuchen vor der Verfolgung zu fliehen, um sich in Sicherheit zu bringen.  

 

Neben den genannten Autorinnen haben weitere Personen an der Entstehung des Artikels mitgewirkt, beziehungsweise als Zeug_innen beigetragen. Diese ziehen es vor, anonym zu bleiben. Der Artikel wurde im Original in Französisch verfasst. Er erschien auf der Internetseite der Heinrich-Böll-Stiftung, Regionalschwerpunkt Naher Osten und Nordafrika und steht unter einer Creative Commons Lizenz.  

 

Fußnoten:

[1] Gemeint ist ein „Outing“, um die sexuelle Orientierung einer Person ohne oder gegen ihren Willen offen zu legen.

[2] Amnesty International Public Statement, 20. Mai 2016, Seite 3.

[3] Webseite der Organisation Alouen, die junge LGBT in Algerien vertritt; Art. 333: „Jede Person, die sich in der Öffentlichkeit einen Verstoß  gegen die guten Sitten zuschulden kommen lässt, wird mit einer Haftstrafe von zwei Monaten bis zwei Jahren und einer Geldstrafe von 500 bis 2.000 Algerischen Dinar bestraft; handelt es sich bei dem öffentlichen Verstoß gegen die guten Sitten um eine widernatürliche Handlung mit einer Person gleichen Geschlechts, so beträgt die Haftstrafe zwischen sechs Monaten und drei Jahren, die Geldstrafe zwischen 1.000 und 10.000 Algerischen DinarArt. 338: „Wer eine homosexuelle Handlung begeht, wird mit einer Haftstrafe von zwei Monaten bis zwei Jahren und einer Geldstrafe von 500 bis 2.000 Algerischen Dinar bestraft.

[4] Facebook-Seite der Organisation Shams, die sich für die Straffreistellung der Homosexualität in Tunesien einsetzt: Der Artikel 230 des Strafgesetzbuchs aus dem Jahr 1913 sieht bis zu drei Jahren Haft im Falle von Sodomie zwischen Erwachsenen bei beiderseitigem Einverständnis vor2. Auch wenn nur in Ausnahmefällen eine Strafverfolgung eingeleitet wird, sind Drohungen und Einschüchterung bis hin zur körperlichen Gewalt eher die Regel.

[5] „Lahcen und Mohcine wegen Homosexualität verurteilt“, Ariane Salem, Média 24, 24. Juni 2015.

[6] „Human Rights Watch prangert unfaire Gerichtsverfahren in Marokko an“, Rachid Tniouni, 4. März 2015.

[7] „Brutaler Angriff auf einen Homosexuellen in Casablanca (Video)“, Rubrik Gesellschaft, Bladi.net, 28. September 2015. [8] „Homophobie: Ein neuerlicher Angriff schockiert die Netzgemeinde“, TelQuel, 3. März 2016, http://telquel.ma/2016/03/26/homophobie-nouvelle-agression-choque-les-internautes_1489285

[9] „Marokko: Homophobe Äußerungen nach Angriff durch eine Menschenmenge. Der Justizminister gibt zu verstehen, dass die Schuld auch auf Seiten des Opfers zu suchen ist“, Human Rights Watch, 15. Juli 2015.

[10] „Marokko: Homophobe Äußerungen nach Angriff durch eine Menschenmenge. Der Justizminister gibt zu verstehen, dass die Schuld auch auf Seiten des Opfers zu suchen ist“, Human Rights Watch, 15. Juli 2015.

[11] „Marokko: Zwei Studenten wegen Homosexualität verhaftet“, Hicham Tahir – 11. Januar 2016, Webseite des Schwulenmagazins „Tétu“ in Frankreich.

[12] Webseite der Gruppierung Aswat

[13] Facebook-Seite der Organistion MALI [14] Facebook-Seite der Zeitschrift der Gruppierung Akaliyat

[15] wörtl.: Marokkanischer Verein für Menschenrechte

[16] Chabat zur Festnahme von Homosexuellen: Unser Standpunkt gegenüber dem Volk Lot ist eindeutig: https://www.youtube.com/watch?v=pLHjlQKMANI&app=desktop

Artikel von Aida Kheireddine, Esther Dufaure