Anti-rassistische und -sexistische Mobilisation in Deutschland. Postkoloniale Proteste in Frankreich. Aus den Trümmern neokolonialer Politik, islamophober Diskurse und rassistischer Gesellschaftsstrukturen entsteht heute in Europas Diaspora eine engagierte und queere* Generation junger Menschen, die Verantwortung übernimmt, Grenzen überschreitet, neu verhandelt und für Würde einsteht.
Im Oktober 2015 versammelten sich mehrere tausend Personen im nordöstlichen Pariser Stadtteil Barbès zu einem Marsch für Würde und gegen Rassismus. Gegen Mittag setzte er sich in Bewegung; zuerst in Richtung République, wo zehn Monate zuvor nach den Charlie-Hebdo-Anschlägen die „republikanische Einheit“ beschworen worden war, dann weiter zur Bastille. Abwechselnd schallten Julia Boutros’ „Win El Malayeen“, Miriam Makeba’s „Africa“ und Tracy Chapman’s „Talkin’ bout a Revolution“ aus den verstreuten Lautsprechern. Demonstrierende präsentierten Slogans wie „Ich assimiliere mich nicht mit Kolonialist_innen“, „Stoppt den Hass gegen schwarze Frauen“ oder „Meine Kultur ist keine Verkleidung“. Am Ende ein Konzert mit Médine's „Gaza Soccer Beach“ und Kerry James’ „Lettre à la République“ vor einem tobenden Menschenmeer.
Das Kollektiv Marche des femmes pour la dignité (Dt.: Marsch der Frauen für die Würde), ein Zusammenschluss, der ausschließlich aus Women of Color (WoC) besteht, hatte das Event über mehrere Monate hinweg geplant. Die Frauen bezeichnen sich als die „Töchter und kleinen Schwestern“ derer, die bereits 1983 am Marsch für Gleichheit und gegen Rassismus teilgenommen hatten. Gleichzeitig sehen sie sich als Erbinnen der landesweiten Revolten von 2005, die im Anschluss an den Tod von Zyed Benna und Bouna Traore ausbrachen, zwei Jugendlichen, die durch Stromschläge in einer Umschaltstation nach einer umstrittenen Polizeiverfolgung ums Leben kamen.
Sehr viel hat sich seitdem in Frankreich nicht geändert: Noch immer sterben jedes Jahr durchschnittlich 15 Personen mit Migrationshintergrund unter mysteriösen Umständen durch Polizeigewalt. Anfang 2016 fand in Bobigny der Prozess gegen den Polizisten Damien S. statt, der vier Jahre zuvor Amine Bentounsi bei einer Polizeikontrolle in den Rücken geschossen und getötet hatte. Nach einem dubiosen Prozess wurde er im Januar von allen Vorwürfen freigesprochen. Unter Tränen skandierten die Anwesenden „La justice aquitte, la police assassine“ (Dt.: Die Justiz entlässt, die Polizei mordet). Nur Amines Schwester, Amal, blieb ruhig. So ruhig wie man ist, wenn man keine Erwartungen mehr hat. Sie war nach dem Tod ihres Bruders zur Aktivistin geworden und gründete das Kollektiv Urgence, notre police assassine (Dt.: Achtung, unsere Polizei mordet). Danach zog sie durch Frankreich und sprach bei jeder Gelegenheit über ihren Bruder und all die anderen betroffenen Familien. Auch sie war beim Marsch im Oktober dabei.
So ging es bei dem Marsch für Würde und gegen Rassismus zum einen darum, das Bewusstsein für Polizeigewalt gegen Jugendliche arabischer, afrikanischer und anderer of Color Diasporas in Frankreich wieder zu schärfen. Zum anderen wollten die Verantwortlichen auf institutionellen Rassismus und diskriminierende Gesellschaftsstrukturen aufmerksam machen. Hierzu brachten sie Soziolog_innen, Künstler_innen sowie feministische und anti-rassistische Aktivist_innen aus verschiedenen Ländern der EU, des Nahen-Ostens, Nordafrikas, Subsahara-Afrikas und Nord-Amerikas zusammen.
Frankreichs Ausnahmezustand
In Frankreich ist nicht zuletzt durch die Pariser Anschläge im November 2015 ein fremdenfeindliches und islamophobes Gesellschaftsklima massentauglich geworden. Letzteres fand in den vergangenen Monaten immer wieder Ausdruck in polarisierenden Diskursen zum Islam und kompromissloser Polizeigewalt gegenüber Muslim_innen und anderen sozialen Minderheiten. Bereits kurz nach den Anschlägen sprach sich Innenminister Manuel Valls dagegen aus, „soziale, soziologische oder kulturelle Entschuldigungen“ für die Attentate zu suchen und räumte so von vornherein jegliche Diskussion über sozio-politische Ursachen aus dem Weg. Probleme wie Islamophobie, Rassismus in Schulen und am Arbeitsplatz, Polizeigewalt gegen rassifizierte Minderheiten, wirtschaftliche Isolation sowie ein Fehlen an politischer Repräsentation wurden nicht ernst genommen – geschweige denn angesprochen.
Die gleiche Kompromisslosigkeit trat in der Folge auch im direkten Umgang mit rassifizierten Minderheiten zu Tage. Allein in den ersten Tagen nach Inkrafttreten des sogenannten Ausnahmezustands (État d’urgence), der die außergerichtliche Handlungsautorität der Polizei erhöht, verzeichneten Menschenrechtsorganisationen tausende Haus- und Moscheedurchsuchungen und hunderte zumeist unbegründete Festnahmen.
Vor dem Hintergrund der November-Anschläge verschlechterte sich die Stimmung in den letzten Monaten auch gegenüber Flüchtlingen dramatisch. Zunehmend als „fremd“ oder gar als Sicherheitsrisiko betrachtet, bewegen sich diese oft illegal im öffentlichen Raum. Allein durch ihre Präsenz untergraben sie damit die laizistisch-republikanische Utopie einer egalitären, vor allem aber homogenen und uniformen Gesellschaft. So wurde im März dieses Jahres der sogenannte Dschungel von Calais einmal mehr brutal durch die Polizei aufgelöst. In Paris wurden Flüchtlinge von zentralen öffentlichen Plätzen vertrieben. Zuletzt wurde das leerstehende und von Flüchtlingen besetzte Lycée Jean Jaurès unter großen Protesten evakuiert.
Sicherheitspolitische Maßnahmen, wie der Ausnahmezustand, sind nicht einfach nur das Resultat zweifelhaften politischen Urteilsvermögens oder emotionaler Entscheidungen. Sie haben ihren Ursprung in über Jahrzehnte hinweg gepflegten rassistischen Denkmustern und Strukturen, deren Entstehung bis in die französischen Kolonien zurück verfolgt werden kann. Auch das den Ausnahmezustand regelnde Gesetz entstand 1955 in einem kolonialen Kontext und wurde das erste Mal während des Algerienkrieges (1954-1962) implementiert. Das zweite Mal wurde der Ausnahmezustand 1985 im Rahmen der Unruhen durch die Unabhängigkeitsbewegung der zu Frankreich gehörenden Inselgruppe Neukaledonien ausgerufen, ein drittes Mal trat er während der Großstadtrevolten von 2005 in Kraft. Immer handelte es sich um Maßnahmen der Disziplinierung und Kontrolle. Immer handelte es sich um rassifizierte Gesellschaftsgruppen. An Stelle einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit jahrzehntelang schwelenden post-kolonialen Konflikten innerhalb der französischen Gesellschaft, setzt die französische Regierung auch aktuell einmal mehr auf Disziplinierungsstrategien basierend auf ethnischem bzw. religiösem Profiling.
Zwischen Kolonie und Metropole: Perverse Männer
Wer sich fragt, warum junge Männer arabischen Ursprungs und muslimischen Glaubens in Paris oder Orlando zu gewalttätigen Straftätern werden, muss sich auch fragen, was sie selbst zuvor für Gewalt erfahren haben. Nicht um Gewalttaten zu rechtfertigen, aber um zu verstehen wie sie entstanden sind. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich sind muslimische, arabische und allgemein Men of Color (MoC) insbesondere seit dem 11. September 2001 kontinuierlich das Ziel fremdenfeindlicher Diskurse.
Wie zuletzt nach den Geschehnissen in Köln gesehen, werden immer wieder reduzierte Thesen aufgestellt und MoC die tief im kolonialen Gedächtnis eingebrannten rassistischen Stereotypen zugeschrieben. Hierzu zählen die Mären vom frauenfeindlichen Macho, fanatischen Muslim, hinterlistigen Kriminellen oder lüsternen Araber, der nicht weiß, wie er mit europäischen Frauen umzugehen hat. MoC entsprechen in den meisten Diskursen nicht der gesellschaftlich akzeptierten, heterosexuellen Norm. Sie sind grundsätzlich anti-modern und unzivilisiert. Ihre „Rückständigkeit“ wird – anders als bei weißen Männern – nicht lokal und individuell, sondern als Produkt ihrer gesamten hinterwäldlerischen Kultur und Religion verstanden. Egal wie sie sich verhalten, sie sind zuallererst schuldig und fremd. So werden sie zu Barbaren gemacht, wie Huebsch schreibt, um als „Kontrastfolie dabei zu helfen, das Idealbild des weißen Mannes als aufgeklärten, fortschrittlichen und moralisch überlegenen Gentleman zu inszenieren”. Nacira Guénif-Souilamas, eine französische Soziologin algerischen Ursprungs, argumentiert in diesem Sinne, dass die Grenzen der Identität junger arabischer Männer von vornherein durch die Gesellschaft in der sie leben vorformuliert seien. Eingeschlossen in eine seit frühester Kindheit für sie festgelegten Rolle, werde Gewalt für viele zu einer seltenen Form der eigenen Selbstbestimmung.[1]
Zwischen Kolonie und Metropole: Unterworfene Frauen
Seit fast 20 Jahren steht Frankreich in Konflikt mit der Art und Weise, wie muslimische Frauen sich kleiden. 2004 wurde im post-9/11 Klima das Kopftuch aus öffentlichen Schulen verbannt, 2010 ein Gesetz gegen die Vollverschleierung in öffentlichen Räumen auf den Weg gebracht. Dass es in diesem Diskurs weniger um das Selbstbestimmungsrecht muslimischer Frauen geht, als um die Durchsetzung rassistischer Denkmuster, zeigt sich besonders deutlich an einer Aussage von Laurence Rossignol, der aktuellen französischen Familienministerin. Diese hatte am 30. März in einem Fernsehinterview erklärt, es sei nicht verwunderlich, dass einige Frauen das islamische Kopftuch freiwillig trügen, denn es hätte ja auch amerikanische „Neger_innen“ gegeben, die für die Sklaverei waren. Ihre Aussage verdeutlicht nicht nur die totale Abwesenheit jeglicher Empathie für und Identifikation mit den historischen Wunden schwarzer Menschen, sei es in Amerika oder Frankreich, sondern auch, dass Sexismus und Rassismus oft Hand in Hand gehen – und tatsächlich im Kontext kolonialer und neokolonialer Diskurse kaum von einander zu trennen sind. WoC wird regelmäßig das Urteilsvermögen abgesprochen. Während MoC geborene Täter sind, werden sie zu geborene Opfern stilisiert.
Die französische Historikerin und Feministin Christelle Taraud schreibt mit Blick auf das französische Kolonialregime in Algerien, dass Geschlechterrollen für dessen Konzeption, Organisation und Durchführung eine zentrale Rolle gespielt hätten. Die Körper algerischer Frauen seien zu einem Kriegsschauplatz avanciert, auf dem kolonial-politische Machtkämpfe ausgetragen und die symbolischen Grenzen der Kolonie verhandelt wurden. Die hiermit einhergehende rassistisch-sexistische Gewalt zeige sich besonders deutlich am Beispiel der Reform des Ehegesetzes nach 1871 und der gleichzeitigen Einführung eines neuen Prostitutionsgesetzes. Bis dahin war es französischen Soldaten erlaubt gewesen, algerische Frauen zu heiraten. Nach Zerfall des zweiten Kaiserreichs wurde diese „Vermischung der Rassen“ wegen des angeblichen Risikos der „religiösen und rassischen Kontamination“ und der Untergrabung der Machtstrukturen allerdings verboten. Gleichzeitig sollte das neue Prostitutionsgesetz, aber französischen Männern auch weiterhin den strategisch wichtigen Zugang zu den Körpern indigener Frauen gewährleisten.[2]
Immer wieder weisen Aussagen von Zeitzeugen auf die bewusste, sexuelle Unterwerfung algerischer Frauen mit dem Ziel der Erniedrigung algerischer Männer hin. Die Körper algerischer Frauen dienten auf diese Art vorübergehend als Fetisch für die Eroberungsfantasien der Kolonialherren.
Der französische General Bugeaud stellte in dem Sinne fest „[D]ie Araber entkommen uns, weil sie ihre Frauen vor unseren Blicken verbergen“[3]. Während des Algerienkrieges wurden daher landesweit aufwendige „Entschleierungszeremonien“ organisiert: So wurden beispielsweise 1958 in Algier verschleierte Frauen zu zentralen Plätzen geführt und öffentlich entschleiert. Zwei Jahre später zwang man die Bewohnerinnen eines algerischen Dorfes für „Registrierungs- und Kontrollzwecke“ dazu, ihre Kopftücher abzulegen und sich fotografieren zu lassen. Die Entblößung muslimischer Frauen im kolonialen Kontext diente so mit Nichten der Befreiung muslimischer Frauen, sondern eher der Selbstdarstellung der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit.
Prostitution, orientalistische Kunst, Pornographie, Pädophilie und Entschleierung zeugen bis heute davon, in welchem Maße die Unterwerfung der Kolonien mit der Entmündigung indigener Frauen und der Demütigung indigener Männer einherging.
Transkoloniale Kontinuität in Innen- und Außenpolitik
Jedoch ist all das längst nicht Vergangenheit. Ähnliche Strategien setzen sich bis heute in der westlichen Außenpolitik sowohl im Nahen-Osten als auch in Nord- und Subsahara Afrika fort. Zweifelhafte Militärinterventionen in Afghanistan gegen die Taliban, in Libyen gegen Ghaddafi, im Irak und in Syrien gegen den „Islamischen Staat“ (IS) und in Mali gegen Boko Haram werden immer wieder auch mit der Unterdrückung muslimischer Frauen durch muslimische Männer und mit kulturellem und religiösem Archaismus gerechtfertigt. Dabei werden Kleidung und Körper zum Thema gemacht, häufig ohne den Betroffenen selbst das Wort zu geben.
So wurde beispielsweise das Engagement kurdischer, als „westlich-liberal“ stilisierter Frauen gegen den IS in den vergangenen zwei Jahren durch viele Medien instrumentalisiert und als Ausdruck eines Kampfes für „europäische“ und gegen „islamische Werte“ vereinnahmt. Aufmerksame Leser_innen kamen nicht umhin zu bemerken, dass kurdische Kämpferinnen ohne Kopftuch den vollverschleierten Frauen in den Reihen des IS und in Europas Vorstädten visuell gegenübergestellt wurden. Der Journalist Gérard Lefort beschrieb 2014 in der französischen Wochenzeitung Libération die kurdischen Kämpferinnen als Modelle für Emanzipation und Feminismus. Diese „Ladies des Unglücks“ seien Frauen, die ihr Recht „zu sein und gesehen zu werden“ noch nicht versagt hätten. Sie stünden im Gegensatz zu jenen, „die an den traurigen Spektakeln in unseren Städten teilnehmen“ und „von denen man nichts sieht, außer vielleicht die Füße oder bestenfalls das Gesicht“.[4]
Leforts Aussagen zeigen deutlich, dass Emanzipation und Feminismus für ihn eher eine Frage der richtigen Garderobe sind und weniger eine Frage soziopolitischer Gleichstellung.
Postkoloniale Grabenkämpfe
Im Rahmen neoliberaler Regime, stigmatisierender politischer Dispositive und rechts-extremer Rhetorik haben rassistisch-sexistische Diskurse in den vergangenen Monaten extrem an Schärfe gewonnen. In der Folge der Ereignisse von Köln bliesen die internationale Berichterstattung und die öffentliche Debatte zur sexuellen Perversion und feministischen Rückständigkeit arabischer, afrikanischer und muslimischer Männer neuen Wind in die Segel dieser Diskurse.
Nicht-assimilierte Individuen werden in ganz Europa immer wieder an den Rand der eigenen Existenz gedrängt. In Frankreich wurde in den letzten Wochen immer mehr und vehementer gegen anti-rassistische und dekoloniale Aktivist_innen mobilisiert. Seit neustem wird deren Engagement mit reaktionären islamistischen Gruppierungen verglichen, als anti-weiß bezeichnet und verurteilt oder schlichtweg ignoriert.
Die Parti des Indigènes de la République (Dt.: Partei der Indigenen der Republik, abgekürzt PIR) stand dabei des Öfteren im Fokus der Medien. Sie entstand 2005 nach den zu Anfang erwähnten Großstadtrevolten und engagiert sich seither für postkoloniale Minderheiten und gegen strukturellen Rassismus. Als dekoloniale Gruppierung bezog sie sich u.a. auf die amerikanische Black Power Bewegungen der 1960er und 70er Jahre.
Das letzte Buch von Houria Bouteldja, der Sprecherin der PIR, wurde nach seiner Publikation Anfang des Jahres von den Medien zerrissen. In der Talkshow Ce soir ou jamais wurden ihr von dem Soziologen Thomas Guénolé nacheinander Rassismus, Sexismus, Homophobie und Antisemitismus vorgeworfen. Dabei wurden soziologische Begriffe auf ihre Alltagsbedeutung reduziert und Bouteljas Aussagen teilweise völlig aus dem Kontext gerissen oder gar vor laufender Kamera falsch zitiert.
Zuletzt hat die fremdenfeindliche Stimmung in Frankreich ein für den Sommer geplantes dekoloniales Camp (Camp décolonial) getroffen, an dem nur Personen teilnehmen dürfen, die selbst strukturellen Rassismus erleben. So soll ein sogenannter Save Space geschaffen werden, der es marginalisierten Individuen erlaubt, ohne Hinderung von außen ihre Erfahrungen zu teilen und Strategien auszutauschen. Die Initiative verursachte einen Aufschrei bis hinein ins französische Parlament. Obwohl ähnliche Initiativen in feministischen Kontexten schon lange existieren und in Frankreich teils sogar vom Staat subventioniert werden, bezeichnete die Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem das Sommercamp jedoch als „inakzeptabel“.
Ohnehin wurde zuletzt beinahe jede Kritik an autoritärer Politik und strukturellem Rassismus durch den Staat fast schon mit Staatsverrat gleichgesetzt. In einem Land, in dem fest daran geglaubt wird, dass ethnische, kulturelle und religiöse Unterschiede vor dem Staat nicht existieren, gelten Diskriminierungsvorwürfe als absurd. Dass dabei beide Augen vor existierenden belegbaren Machtstrukturen verschlossen werden, fällt selten ins Gewicht.
Queerwege in die Zukunft
Zurück zum Marsch für Würde und gegen Rassismus: Die transnationale, transethnische, transkulturelle, transgender und transreligiöse Solidarität, die an diesem Oktobernachmittag in Paris kondensierte, war ein Indiz dafür, dass schwarze Menschen und People of Color heute in den verschiedenen Ländern Europas ähnliche Formen von Gewalt erleben und alltäglich Erfahrungen mit Rassismus machen. Dennoch ist ein Verständnis für Kolonialgeschichte, strukturelle Gewalt und die Privilegien der mehrheitlich weißen Ober- und Mittelschicht quasi inexistent. Stattdessen ist das Fremde weiterhin suspekt und irritierend, wird stigmatisiert und marginalisiert, kontrolliert und diszipliniert.
Indes wird uns nicht geglaubt, dass wir in Gender Studies promovieren und gleichzeitig Männer und Muslime sind; dass wir Nächstenliebe und Feminismus predigen und gleichzeitig Kopftuch tragen; dass wir homo- und transsexuell sind und gleichzeitig am Freitag in der Moschee beten wollen; dass wir uns vehement gegen Rassismus engagieren und uns gleichzeitig tagtäglich aufs mühsamste für ein Ende intersektioneller Gewalt in unseren Communities einsetzen; dass wir uns den gesellschaftlichen Problemen in den Herkunftsländern unserer Eltern und Großeltern bewusst sind und gleichzeitig die katastrophalen Folgen westlicher (Neo-)Kolonialpolitik mit Nichten ausblenden werden. Ja, dass wir uns, als Muslim_innen, Schwarze und People of Color sogar gegen wirtschaftspolitische Gewalt in der weißen Unterschicht einsetzen.
Aber lange wird es nicht mehr möglich sein, die Augen vor einer vielfältigeren und gerechteren Zukunft für alle zu verschließen. Angesichts einer Kultur, die uns im Namen der Einheit und Uniformität ständig als pervers konstruiert, haben wir einen entscheidenden Vorteil: Wir haben gelernt, die Perversion, das Andere, das Fremde, das Heterogene, das Vielseitige, das Hybride zu begrüßen. Eine neue Generation junger Menschen übernimmt heute Verantwortung, überschreitet die Grenzen dessen, was als „akzeptabel“ gilt und „toleriert“ wird. Eine Generation, die, was ihre Genealogien angeht, im Grunde nicht mehr fremd ist, aber noch immer so konstruiert wird; die ihre Identität pragmatisch und verqueert zusammenstellt; die schon deshalb dekolonial ist, weil ihre Existenz ein Affront an reduzierte Erwartungshaltungen darstellt, an homogene Universalismen und an den Status quo.
*Queerness wird hier nicht nur genderbezogen verstanden, sondern, mit Verweis auf die amerikanische Philosophin und Theoretikerin Judith Butler, als eine kompromisslose Kritik an pseudo-kohärenten Identitäten und erstickend-totalisierenden Narrativen.
Fußnoten:
[1] Macé, Éric ; Guénif-Souilamas, Nacira. 2004. « Les féministes et le garçon arabe ». Éditions de l’Aube.
[2] Taraud, Christelle. 2011. « Genre, sexualité et colonisation : La colonisation française au Maghreb ».
[3] Aboudrar, Bruno Nassim. 2014.Comme le voile est devenu musulman. Flammarion.
[4] Lefort, Gérared. 2014 « Kurde distance ». Libération