18.01.2014
Bruchstellen in der Verfassung
Referendum in Ägypten: Es geht um viel mehr als die Verfassung. Bild: Bora S. Kamel (CC BY 2.0)
Referendum in Ägypten: Es geht um viel mehr als die Verfassung. Bild: Bora S. Kamel (CC BY 2.0)

Weil die Militärregierung das Ergebnis des Verfassungsreferendums in Ägypten zu instrumentalisieren versucht, vermag auch die neue Verfassung die gesellschaftliche Spaltung nicht zu überwinden. Dabei zeigt ein Blick auf die Auseinandersetzungen, die der Abstimmung vorausgehen, wie tief das gegenseitige Misstrauen sitzt. Welche Folgen das für das Referendum hat, beschreiben wir im zweiten Teil dieses Artikels.

Aller Voraussicht nach wird der Verfassungsentwurf bestätigt, über den die Ägypter dieser Tage in einem Referendum abgestimmt haben. Das offizielle Ergebnis ist zwar noch nicht veröffentlicht, es steht aber schon so gut wie fest: 95 Prozent sollen mit „Ja“ gestimmt haben. Dabei wird die Mär um das Wohl des gebeutelten ägyptischen Volkes besungen, das durch die Zustimmung zur Verfassung eine zivilisatorische Verheißung erfüllt.

Vordergründig gilt das Referendum als Möglichkeit, mit der überarbeiteten Verfassung das gespaltene Land zu einen. Doch zeigt gerade der Verlauf des Referendums, dass die gesellschaftliche Polarisierung so schwerwiegend ist, dass Einzelne gar nicht mehr Teil dieses politischen Systems sein wollen. Dafür ist ihr Misstrauen zu groß, dass das Referendum für machtpolitische Ansprüche missbraucht wird. Für diese Kritik gibt es im offiziellen Politik- und Medienbetrieb jedoch kaum Raum.

Aus dem Off tragen auch ausländische Berichterstatter mit vermeintlich unverfänglichen Aussagen dazu bei, das Referendum auf eine Zwangsläufigkeit zu reduzieren. „Ägypter stimmen über neue Verfassung ab, können über mehr Religionsfreiheit und Frauenrechte entscheiden,“ hieß es zum Beispiel auf Zeit Online. So oder ähnlich wurde das Referendum Anfang der Woche noch eingeführt. Der Wortlaut dieser Aufmachung legt nahe, dass die Abstimmung ein wichtiger Schritt in Richtung Demokratie und die Beteiligung daran eine Bürgerpflicht sei.

Jenseits dieser Plattitüden ist jedoch viel entscheidender, wie „neu“ diese Verfassung tatsächlich ist, dass es bei dem Referendum um viel mehr als die Verfassung geht und diese zugleich für die politische Entwicklung Ägyptens gar nicht so relevant ist. Es macht daher einen großen Unterschied, ob das Referendum als Ereignis beschrieben oder im Zusammenhang begriffen wird, weil das die Umstände betrifft, durch die Für und Wider abgewogen werden. Demokratie wollen schließlich alle – aber wie?

Verfassungsgemäße Willkür

In einer Verfassung werden die grundsätzlichen Regeln definiert, die im politischen Alltag gelten sollen. Eine „neue“ Verfassung gilt dabei als besonders bedeutsam, weil sie die demokratischen Errungenschaften eines Landes im Umbruch demonstriert. Soweit die Theorie. In der Praxis liegt die Bedeutung einer Verfassung jedoch weniger in deren Wortlaut als vielmehr in ihrer Anwendung begründet – wobei die Anwendung unmittelbar davon geprägt ist, dass autoritäre Kräfte ihre Macht ausnutzen, um revolutionäre Bewegungen zu schwächen, wie die jüngste Geschichte Ägyptens belegt.

Das aktuelle Referendum war schon das dritte Plebiszit über Verfassungsänderungen in Ägypten seit 2011. Zuvor wurden bereits im März 2011 für punktuelle Änderungen an der (alten) Verfassung gestimmt. Dadurch wurde zudem die Roadmap des Hohen Militärrats (SCAF) bestätigt, die eine neue Verfassung erst im Anschluss an Parlaments- und Präsidentenwahlen vorsah. Zur Abstimmung über diese (neue) Verfassung kam es dann im Dezember 2012 – wobei sie im Anschluss an den Sturz der Regierung von Mohamed Mursi bereits am 3. Juli 2013 wieder vom SCAF ausgesetzt wurde.

Die gesellschaftliche und politische Polarisierung nahm immer weiter zu. Die inhaltliche Auseinandersetzung über die Staatsverfassung wurde dabei von ideologischen Absichten überlagert. Allianzen und Oppositionen, die sich jeweils zu Unterstützern der „Revolution“ machten, wechselten fortan. Die jihat siyadiah jedoch, die „souveränen“ Staatsorgane, blieben fast unverändert bestehen. Dazu zählen vor allem die repressiven Einrichtungen um das Innenministerium, die Sicherheitsdienste, das Militär, aber auch wirtschaftliche Eliten.

Um zu bestimmen, wer für oder gegen die Revolution ist und wie diese überhaupt weitergehen kann, ist daher der Umgang mit den reaktionistischen Kräften entscheidend. So hatten sich bis zu ihrem Sturz auch die Muslimbrüder mit der Militärführung arrangiert. Deren Selbstbeweihräucherung, die „revolutionäre Speerspitze“ zu bilden, ist daher ebenso fatal wie die Staatspropaganda, dass das Militär jetzt die Revolution „beschützt“.

Verfassung von 2012: Ideologische Grabenkämpfe  

Die unter der Ägide der Muslimbrüder ausgearbeitete Verfassung von 2012 war von einem sozial-konservativen Grundton geprägt. So sollte sich die ägyptische Regierung dazu verpflichten, die Familie zu bewahren und deren Rolle für den Schutz des Gemeinwesens in Ägypten zu stärken. Dieser Versuch, in das private Leben der Ägypter einzudringen und ihnen vorzugeben, wie sie sich moralisch richtig zu verhalten haben, war bevormundend. Kontrovers waren zudem die Artikel 4 und 219. Darin wurde die al-Azhar Universität ermächtigt, die Regierung religiös zu beraten, und die „Prinzipien der Scharia“ festgelegt, die zur Grundlage der Rechtssprechung werden sollten.

Allerdings bedeuten diese Artikel auch bei allem Vorbehalt gegenüber der konservativen Agenda nicht zwangsläufig einen weiteren Einschnitt in die Rechte Einzelner. Zu weit gediehen war da bereits die Praxis staatlicher Repression, deren maßgebliche Protagonisten auch weitestgehend unangetastet blieben. Doch konnten sich plötzlich all jene profilieren, die die Muslimbrüder als islamistische Vorhut sahen, aber selbst seit Jahren Menschenrechte verletzten. Die Kritik an der Verfassung von 2012 war daher mehr von ideologischen Vorbehalten gegenüber den Muslimbrüdern als von dem inhaltlichen Bemühen um zivile Reformen geprägt.

In Zuge dieser Konfrontation verließen immer mehr „säkulare“ Kräfte die verfassungsgebende Versammlung, bis diese fast ausschließlich aus Vertretern mit religiösem Hintergrund bestand. Bis zuletzt verstärkte das den Eindruck, dass die Muslimbrüder ihr „demokratisches Mandat“, das sie durch die Wahlen von 2011 und 2012 erreicht hatten, überstrapazierten und einen Alleinvertretungsanspruch daraus ableiteten.

Am 22. November 2012 erließ Mursi zudem ein skrupelloses Dekret, mit dem er auf die zunehmende Kritik an der Verfassungsgebung sowie die kolportierte Gefahr justizieller Einflussnahme reagieren wollte. Darin ermächtigte er sich, Entscheidungen zu erlassen, die nicht zu widerrufen waren und verfügte den Schutz der verfassungsgebenden Versammlung sowie des Oberhauses vor Auflösung. Das Parlament, in dem die Muslimbrüder wie im Oberhaus die Mehrheit der Abgeordneten stellten, wurde dagegen bereits im Juni durch den SCAF aufgelöst, nachdem ein Gericht entschieden hatte, ein Teil von dessen Mitgliedern sei unrechtmäßig gewählt worden.

Im Anschluss an das Dekret kam es zu Demonstrationen und gewalttätigen Auseinandersetzungen vor dem Präsidentenpalast. Auffällig dabei war, dass sich die staatlichen Sicherheitskräfte von den Auseinandersetzungen zurück zogen, woraufhin die Muslimbrüder ihre Unterstützer aufriefen, den Präsidenten zu beschützen. Mehrere Menschen kamen dabei ums Leben. Entgegen aller Aufforderungen, die Verfassung nochmals zu überarbeiten, wurde sie dann in einer Marathonsitzung durchgesetzt und in einem vorgezogenen Referendum am 25. Dezember 2012 von 64 Prozent der Wahlbeteiligten angenommen.

Suspendiert!

Die Kritik an den Muslimbrüdern und ihrer Regierungsführung nahm auch 2013 immer weiter zu. Während die wirtschaftliche Situation zunehmend schlechter und manche Waren knapper wurden, die Preise aber stiegen, hatte sich bis zuletzt erwiesen, wie wenig konstruktive Antworten die Muslimbrüder auf die vielen Probleme Ägyptens hatten – die eigene Macht aber auszubauen versuchten.

Am 30. Juni dann wurde in Massendemonstrationen der Rücktritt Mursis und Neuwahlen gefordert. Auch hier ließen die Sicherheitskräfte die Demonstranten gewähren, selbst als sie Büros der Muslimbrüder angriffen. Die Ereignisse seither sind bekannt – wenn auch deren Beurteilung immer noch umstritten ist.

Klar ist jedoch, dass die Muslimbrüder und ihre Unterstützer zwar einen politischen Kompromiss verhinderten, weil sie nicht verhandeln wollten, das Militär zusammen mit dem staatlichen Establishment aber eine unerbittliche Gewaltkampagne forcierte, die in keiner Weise im Verhältnis zur miserablen Leistung der Muslimbrüder steht.

So setzte das Militär Mursi am 3. Juli ab, nachdem es am Tag zuvor die „Roadmap für den demokratischen Wandel“ erlassen hatte, suspendierte die Verfassung, löste das Oberhaus auf und es begann eine Verhaftungswelle führender Muslimbrüder. Bei Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften werden dieser Tage viele Pro-Morsi Demonstranten getötet, während die Staatspropaganda den „Kampf gegen den Terrorismus“ im „Dienste der Revolution“ ausrief. In einem Akt perfiden Populismus’ erbat sich Militärchef al-Sisi von den „ehrenhaften und anständigen“ Bürger Ägyptens dafür ein Mandat, obwohl er als Verteidigungsminister die verfassungsgemäßen Befugnisse für Sicherheitsdienste besitzt, verfassungsrechtliche Bedenken aber ansonsten kaum Bedeutung für das Militär haben.

Während die Muslimbrüder sich inzwischen als Vertreter demokratischer Legitimität stilisierten und weiter für die Rückkehr Mursis demonstrierten, eskalierte die Gewalt dann am 14. August. In einer völlig asymmetrischen Aktion räumte das Militär zusammen mit der Bereitschaftspolizei die zwei größten Proteststätten der Muslimbrüder. Über 1 000 Menschen kamen dabei ums Leben. Augenzeugen des Geschehens, in anliegenden Krankenhäusern und improvisierten Leichenhäusern berichteten von grausamen Szenen, völlig verbrannten, unter Räumfahrzeugen zerquetschten oder hingerichteten Menschen. Für den Tod von Zivilisten musste sich jedoch bis heute kein einziger staatlicher Organe verantworten.

Stattdessen bemühte sich die Militärführung, ihre Roadmap umzusetzen. So beauftragte Übergangspräsident Adli Mansour am 1. September ein Komitee aus 50 Abgeordneten, die neue/alte Verfassung auszuarbeiten. Von einem „demokratischen“ Verfahren kann bei diesem Prozess keine Rede sein, denn das Militär wählte die Abgeordneten selbst aus. Und auch verfassungsrechtlich sind diese Schritte sehr problematisch. Denn die Verfassung wurde zunächst suspendiert, dann sollten doch Vorschläge für deren Überarbeitung gemacht werden, die jedoch irrelevant waren, denn die neue Verfassung, die jetzt zur Abstimmung lag, wurde letztlich umfassend überarbeitet.

Angesichts der aufgeladenen Konfrontation und gewalttätigen Auseinandersetzungen, die dem Referendum voraus gingen, wird klar, dass der Verfassungsentwurf bei der Abstimmung zweitrangig war. Angestachelt durch nationalistische Propaganda wollte eine Mehrheit dabei die Muslimbrüder aburteilen und dem Militär, und insbesondere dessen Obersten Befehlshaber al-Sisi, das Vertrauen aussprechen. Doch auf der anderen Seite befinden sich nicht nur die Muslimbrüder. Eine Minderheit hatte sich für den Boykott des Referendums entschieden; sie wollten den Gewaltexzess und anhaltenden Autoritarismus nicht durch ihre Teilnahme an der Abstimmung legitimieren. So war das Referendum auch unmittelbar von den Bruchlinien geprägt, die das Militär zu kitten vorgibt, aber tatsächlich für seine sinistren Zwecke ausnutzt – dazu mehr im zweiten Teil dieses Artikels.

Johannes kam 2011 zu Alsharq und freut sich sehr, dass daraus mittlerweile dis:orient geworden ist. Politische Bildungsarbeit zur WANA-Region, die postkoloniale Perspektiven in den Vordergrund rückt und diskutiert, gibt es im deutschsprachigen Raum nämlich noch viel zu wenig. Zur gemeinsamen Dis:orientierung beschäftigt sich Johannes daher vor...