21.09.2011
Verlängerung des Ausnahmezustands in Ägypten: Die Idee Tahrir braucht eine Institution

Die Ausweitung des Ausnahmezustands sowie die Wirren um die angekündigten Wahlen erschweren das Entstehen einer zivilen Instanz in Ägypten – als Gegengewicht zur Willkür des Militärrats. Eine Momentaufnahme.

Die Revolution ist eine Idee und sie bleibt es. Tahrir steht für diese Idee, aber es ist keine Institution.« In diesem Credo, wie es vielfach zum Ausdruck kommt, liegt Hoffnung und Ernüchterung zugleich. Hoffnung, weil sich eine Idee verwirklichen lässt, auch wenn es Zeit braucht und Rückschläge gibt. Und Ernüchterung, weil der Wunsch nach Veränderung, der mit der Revolution verbunden ist, sich nicht erfüllen mag. Hoffnung und Ernüchterung, wie mir meine Freunde sagen, derer es sich zu vergewissern gilt, im aufgeregten Alltag in Ägypten.

Viel steht gerade an. Besonders strittig ist die Ausweitung des Ausnahmezustands, den der Militärrat (SCAF) mit Verweis auf die gewalttätigen Auseinandersetzungen um die israelische Botschaft beschlossen hat. Die bevorstehende Aussage von Generalfeldmarschall Tantawi im Prozess gegen Mubarak und dessen Mitangeklagte ist nicht minder kontrovers. Der Prozess mag inszeniert sein. Die öffentliche Anteilnahme daran und Diskussion darüber ist nichtsdestotrotz effektvoll.

Denn zu diesen Themen hat jeder eine Meinung. Auch bei allen Unterschieden wird durch sie an jedem Tag, in Prozessen, deren Effekt sich schwer bemessen und nicht werten lässt, öffentliches Bewusstsein gebildet. Für die Aushandlung dieser Themen ergibt das eine Öffentlichkeit, deren Wert in der Freiheit liegt, kontrovers sein zu können. Es ist beachtlich, wie das Credo vom Tahrir als Idee so mit dem Alltag verbunden bleibt.

»Mubarakismus ohne Mubarak«

Doch die damit zusammen hängende Absage an die Institution, die Tahrir (noch) nicht geworden ist, offenbart Risse in der Öffentlichkeit Ägyptens. Der Grund hierfür ist, dass die Mechanismen und Strukturen einer Institution fehlen, die notwendig sind, um die Auseinandersetzungen zu klären, die der Verwirklichung der Idee zuwider laufen. Dies kann die Interimsregierung um Premier Essam Sharaf ebenso wenig leisten wie die Medien im Land. Die Abwesenheit einer solchen Institution bedeutet, dass der Öffentlichkeit, die sich in ihrer Vielseitigkeit Ausdruck verschaffen möchte, eine zivile Instanz fehlt, die diese anerkennen hilft.

Die Abwesenheit einer solchen Institution inmitten der wabernden Öffentlichkeit kann für die Zwecke anderer ausgenutzt werden, indem Regularien und Prinzipien, Abläufe und Entscheidungen von oben erlassen werden, ohne einem konsultativen Prozess zu entstammen. Im Eindruck der vergangenen Monate ist der Verweis auf den Militärrat hier für die meisten mittlerweile implizit. Dessen Rolle lässt sich in der Kontroverse um den Ausnahmezustand ebenso verfolgen wie in den Wirren um die angekündigten Wahlen. Heikel dabei ist, dass durch den Einfluss von außen gerade die beiden Instanzen in ihrer sozialen Entstehung untergraben werden, die die rechtmäßige und partizipative Institutionalisierung von ziviler Ordnung in Ägypten ermöglichen sollen.

Die Ausweitung des Ausnahmezustands ist ein Schlag ins Gesicht für viele Ägypter. Dabei war die Aufhebung des Gesetzes, das seit 1981 konstant in Kraft ist, eine zentrale Forderung vieler Demonstranten. Doch nun sagt mein Kumpel Essam, die Ausweitung des Gesetzes besiegele »Mubarakismus ohne Mubarak«. Es diene weiter als über-konstitutioneller Vorwand, die vermeintliche Bedrohung der Sicherheit im Land ohne Rücksicht auf zivile Rechte und Verfahren zu bestrafen.

Zunächst hatte der SCAF entsprechend einer Ankündigung vom März dieses Jahres vor, den »Notstand« bis Ende September aufzuheben. Nun ist er bis voraussichtlich Juni 2012 verlängert und die Liste der zu reglementierenden Taten erweitert worden. Diese Liste ist weitreichender als unter Mubarak und umfasst das Zerstören von Staatseigentum, Unterbrechung von anderer Leute Arbeit (soll heißen: Streiks), ebenso wie die Blockade von Straßen (hier insinuiert: bei Demonstrationen fahren keine Autos) und das Verbreiten »falscher« Informationen (de facto: Restriktion der Meinungsfreiheit).

Ein willkommener Vorwand für die Anwendung der Notstandsgesetze

Zwar hatte der SCAF vermeldet, allein gegen Kriminelle, aber nicht gegen politische Aktivisten vorzugehen und die Verfahren von Zivilisten unter Militärgerichten zu begrenzen. Doch da das bestehende »zivile« Strafrecht für diese Fälle bereits Sorge trägt, bleibt die Absicht des SCAF hinter dem Notstandsgesetz fragwürdig.

Die Ereignisse um die israelische (und saudi-arabische) Botschaft vom 9. und 10. September gelten dem SCAF dabei als Vorwand, das Notstandsgesetz weiter anzuwenden. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitsdiensten starben vier Menschen und wurden rund 1000 verletzt. In die israelische Botschaft wurde eingebrochen, nachdem zuvor die 200 Meter lange Betonmauer eingerissen worden war, die zu deren Schutz errichtet wurde.

Dies geschah im Anschluss an die erste große Freitagskundgebung auf dem Tahrir nach dem Ende des Ramadan. Während des Fastenmonats gab es kaum Demonstrationen und der Zugang zur Mitte des Platzes war vom Militär abgeriegelt. Die große Freitagsdemo am 9. September dann hatte das Militär unter der Bedingung genehmigt, dass die Beteiligten selbst Sorge für ihre Sicherheit zu tragen hätten. Wie schon in den frühesten Tagen der Revolution wurde daher der Zugang zum Platz durch Zivilisten kontrolliert. So blieb es dort den Tag über friedlich.

Als Gruppen von Demonstranten in Richtung der israelischen Botschaft in Giza und Andere vor das Innenministerium im Zentrum Kairos zogen, blieb das Militär weiter außen vor. Für manche Demonstranten kam das einer Einladung zur Aggression gleich. Ein Freund erzählte mir von der Wut, die sich vor dem Innenministerium entlud, verhasst für die jahrelange und andauernde Misshandlung tausender Ägypterr. Und auch vor der israelischen Botschaft herrschte Furor, frisch wie die Wunden nach dem Tode von sechs ägyptischen Soldaten durch die Schüsse israelischer Grenzposten am 18. August noch waren. Doch das Militär hielt sich weiter zurück.

Fragwürdiges Verhalten des Militärs während der Botschaftsstürmung

Diese Zurückhaltung ist sehr fragwürdig. Wie kann es sein, dass das ansonsten so mächtige Militär nicht zum Schutze der israelischen Botschaft oder der Insignien des Staates eingreift, dem es verpflichtet ist? Und wie kann es sein, dass die Aggression durch verspätetes und überzogen hartes Eingreifen des Militärs sogar verstärkt wird?

Jetzt, da der SCAF den Ausnahmezustand ausweitet, wird all das mit perfidem Kalkül begründet. Ein Vorwurf nämlich, den sich die Demonstranten häufig haben machen lassen müssen, ist, dass sie die öffentliche Ordnung des Landes bedrohen. Dieser Vorwurf ist so haltlos wie er für die, die ihn vorbringen, zweckmäßig ist. Und daher kann hinter der Entscheidung des Militärs, erst nicht und dann zu hart einzugreifen, der Versuch vermutet werden, die Demonstranten als gewalttätig und gefährlich zu brandmarken, um eben die harten Sanktionen der Notstandgesetze zu legitimieren.

Entsprechend der vielen Formen, die dieses Spiel auf Kosten der Ägypter annimmt, macht es für den SCAF auch keinen Unterschied, dass die überwiegende Mehrheit der Demonstranten zu friedlichen Protesten aufgerufen hatte und die Gewalt an der israelischen Botschaft entschieden kritisiert hat. Das Urteil des SCAF stand schon fest.

Der Willkür des Militärs Einhalt zu gebieten, bleibt deshalb ein Grundsatz der Demonstranten. Durch Konfrontation allein lässt sich die Leerstelle allerdings nicht mehr füllen, die das Militär in der Abwesenheit einer zivilen Institution für seine Zwecke ausnutzen kann. Die Krux daran wird in den Reaktionen auf die jüngsten Ereignisse und den Ausnahmezustand deutlich. Denn ohne eine solche Instanz, die verschiedene Positionen anerkennt und ausgleicht, macht sich Agonie breit.

Folgt auf den Stillstand Resignation oder Eskalation?

Am vergangenen Freitag zum Beispiel haben in Reaktion auf das Notstandsgesetz 35 Parteien und Gruppen zu Protesten auf dem Tahrir aufgerufen. Unter ihnen die Neue Ghad und die Tagammu-Partei, Nasseristen sowie die Gahba, die Nahda und die Egyptian Current-Partei. Die Freiheit- und gerechtigkeits-Partei der Muslimbrüder hat ebenso wie die Jama’a al-Islamiya und die Partei Ägyptischer Bürger die Proteste abgelehnt. Andere wiederum, wie die Wafd und Wasat-Partei haben keine Stellung bezogen.

Auf dem Tahrir herrscht am Tage der Kundgebung dann ein ähnlich konfuses Bild. Die Forderungen sind zahlreich. Das Ende des Notstandes wird verlangt, ebenso wie von Manchen der Rücktritt des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad oder die Unterstützung der Staatsgründung Palästinas. Außerdem sind viel weniger Menschen gekommen, als von den Veranstaltern erhofft. Was kann das bedeuten?

Acht Monate sind seit dem Sturz Mubaraks mittlerweile vergangen. Überwiegt nach der Euphorie jetzt die Ernüchterung über die Schwierigkeiten, Veränderungen herbeizuführen? Ist die Ausweitung des Ausnahmezustands gar nur noch Grund zur Resignation? So hat eine Freundin auf ihrem Blog ernüchtert festgestellt, dass viele Ägypter – gefangen in der Opposition von Stabilität und Chaos – dem Ordnungsdrang des Militärs freie Hand gewähren. Oder ist die Stagnation gar Anlass zur Eskalation, weil nur Gewalt noch etwas zu bewirken vermag wenn der Rest sich ergibt?

Der Logik von Resignation und Aggression, Stagnation und Eskalation, ist ihre destruktive Tendenz gemein. Dem gegenüber steht einzig die Aussicht auf Wahlen. Die damit verbundene Hoffnung entstammt der bitteren Einsicht, dass die Tahrir-Protest-Politik nicht ausreicht, um Veränderungen herbeizuführen, weil kein Zugang zum SCAF besteht und Vorschläge von außen routinemäßig ignoriert werden.

Das Wahlsystem steht noch immer nicht fest

Gegenstand dieser Hoffnung ist deshalb ein gewähltes Parlament, durch das eine neue Verfassung erarbeitet werden kann. Diese Instanzen versprechen zu etablieren, was an Leerstellen sich gerade so schmerzlich bemerkbar macht: das Gegengewicht zur Macht des Militärs, die Institutionalisierung der Idee Tahrir, und die Notwendigkeit von Kompromiss und Respekt gegenüber Differenzen, die auszugleichen, nicht zu unterdrücken sind.

Doch die Vorbereitung der Wahlen zum Parlament und des Präsidenten lassen Zweifel daran aufkommen, ob und in wie weit dieses Potential zur Entfaltung kommen kann. Auch ist nicht ersichtlich, wie gut die neuen Parteien nach Monaten der Grabenkämpfe für Wahlen überhaupt vorbereitet sind.

Die Eckpunkte der Wahlen, deren Termin, das Prozedere und das Wahlsystem werden vom Militär bestimmt. Am 26. September sollen diese verkündet werden. Der 21. November kursiert bisher als Termin für die Parlamentswahlen, am 22. Januar dann soll der »Schura-Rat«, das Oberhaus, gewählt werden.

Viel Unklarheit herrscht auch hinsichtlich der Details der Verfahren. Jeweils in drei Stufen von je einer Woche soll gewählt werden. Offiziell heißt es, ein derart langwieriges Verfahren sei notwendig, um den ungewohnten Anforderungen an umfassende Wahlen gerecht zu werden. Allerdings kursiert auch die Befürchtung, dass die Etappen dafür gedacht sind, die Wahlen stufenweise zu kontrollieren.

Besonders strittig und folgenreich ist die Frage des Wahlsystems. Zur Disposition steht ein Individualsystem, bei dem Wähler für einzelne Kandidaten stimmen, ein Proporzsystem, bei dem die Wähler für eine Liste an Kandidaten stimmen, oder eine Mischung aus beiden. Das Individualsystem scheint finanzstarke und etablierte Kräfte zu bevorzugen, die fest in dem jeweiligen Distrikt verbunden sind, in dem nach dem Prinzip der absoluten Mehrheit gewählt werden soll.

Es wird von jenen kritisiert, die eine Bevorteilung von Kandidaten der ehemaligen Regierungspartei NDP und der Muslimbrüder auf ihre Kosten befürchten. Im Unterschied dazu sieht das Proporzsystem Listen vor, auf denen sich Kandidaten zusammen tun können, die dann entsprechend der Anteile, die sie in dem jeweiligen Distrikt erhalten haben, in das Parlament einziehen können. Dieses System erleichtert daher die Repräsentation von Frauen und Kandidaten ethnischer und religiöser Minderheiten.

Der Hierarchie trotzen, damit aus der Idee eine Institution wird

Im Juli hat der SCAF einen Entwurf verabschiedet, der eine Mischform von Individual- und Proporzsystem vorsah, inklusive einer anachronistischen Quotenregelung, nach dem die Hälfte der 504 Parlamentssitze für Arbeiter und Farmer reserviert blieb. Der Entwurf ist mittlerweile hinfällig, weil er zugunsten des Proporzsystems überarbeitet wurde. Die endgültige Entscheidung steht aber noch bevor.

So bleibt auch noch abzuwarten, in welche Richtung und entsprechend welcher Prämissen sich die Verfassungsgebung entwickeln wird. Wird er über-konstitutionellen Prinzipien unterworfen, wie von manchen Gruppen lanciert? Welche Prinzipien sollen das sein? Auch hier unterscheiden sich die Vorschläge. Während der SCAF die innere Sicherheit und Ordnung als maßgeblich erachtet, halten es islamische Gruppen mit der muslimischen Tradition Ägyptens. Kopten dagegen ersuchen Minderheitenschutz und liberale Akteure betonen das Primat von Freiheitsrechten. Gerüchte, dass der SCAF in diesen Prozess eingreifen wird, halten sich hartnäckig. Dies ist verbunden mit der Sorge, dass der Militärrat eigenständig die Mitglieder der 100-köpfigen Versammlung ernennt, die die neue Verfassung erarbeiten soll, anstatt das zu wählende Parlament darüber entscheiden zu lassen.

Trotz, aber auch gerade wegen dieser Schwierigkeit – wie Aktivisten sagen – den Wandel zu gestalten, ist die mit den Wahlen verbundene Hoffnung so groß. Grob veranschaulicht entspricht die Hoffnung der Lücke inmitten der ägyptischen Öffentlichkeit, die durch sie und das neue Parlament gefüllt werden soll.

Die Konfrontation ist offensichtlich. Um Institution zu werden, muss die Idee vom Tahrir also der Hierarchie trotzen, die ihr gegenüber steht. Aus diesem Grund hat auch Wael Ghonim, der Google-Mitarbeiter, der zu einem Star der Revolution wurde, kürzlich in einem offenen Brief an Marschall Tantawi vom SCAF gefordert, den Prozess nicht zu behindern, die Macht vom Militär auf eine gewählte zivile Autorität zu übertragen. Diese Autorität dann habe die Legitimität, ihre Kontrollfunktion auszuüben.

Und im Sinne der Idee vom Tahrir besteht diese Funktion darin, die Rechte Einzelner vor die absolute Macht anderer zu stellen.

Johannes kam 2011 zu Alsharq und freut sich sehr, dass daraus mittlerweile dis:orient geworden ist. Politische Bildungsarbeit zur WANA-Region, die postkoloniale Perspektiven in den Vordergrund rückt und diskutiert, gibt es im deutschsprachigen Raum nämlich noch viel zu wenig. Zur gemeinsamen Dis:orientierung beschäftigt sich Johannes daher vor...