19.09.2014
Wir hoffen, dass unsere Nachbarn, die Menschen im Gazastreifen, friedlich leben können. Ein Brief
Die Mauer rund um den Gaza-Streifen soll Sicherheit bringen – und hält doch Nachbarn voneinander fern. Es gibt immer weniger Kontakte zwischen den Menschen auf beiden Seiten, womit der Dämonisierung Vorschub geleistet wird. Bild: © Tobias Raschke 2013
Die Mauer rund um den Gaza-Streifen soll Sicherheit bringen – und hält doch Nachbarn voneinander fern. Es gibt immer weniger Kontakte zwischen den Menschen auf beiden Seiten, womit der Dämonisierung Vorschub geleistet wird. Bild: © Tobias Raschke 2013

Über die meisten Opfer des Gaza-Kriegs 2014, auf palästinensischer wie auf israelischer Seite, wissen wir fast nichts. Der Tod zerstört das Leben unwiederbringlich. Am 22. August 2014 tötete eine Mörsergranate aus dem Gaza-Streifenden 4-jährigen Daniel Tregerman im nur wenige Kilometer entfernten Kibbuz Nahal Oz. Drei Sekunden nach Beginn der Sirene hatten nicht gereicht, den Hausbunker zu erreichen. Nach Angaben der israelischen Armee wurde die Granate vom Gelände einer UNWRA-Schule abgefeuert.

Am 5. September schrieben die Eltern des kleinen Daniel einen Brief an den UN-Generalsekretär, um die Entscheidung des UN-Menschenrechtsrats, eine internationale Untersuchungskommission einzurichten, die ausschließlich israelische Verbrechen während des Gaza-Krieges 2014 untersuchen soll, in Frage zu stellen. Der UN-Menschenrechtsrat ist aufgrund seiner Zusammensetzung mit einer Mehrheit von nicht-demokratischen und menschenrechtsunfreundlichen Staaten und Diktaturen dafür bekannt, nur wenige Länder für ihre Menschenrechtsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen – und das normalerweise auch nur, wenn es keine internen Untersuchungen und Verfahren gibt.

Es ist ein Brief, der die Auswirkungen der Konfrontation um Gaza der letzten Jahre auf eine Familie schildert, die selber bis heute Kontakt zu Menschen in Gaza hat.

 

5. September 2014

An den UNO-Generalsekretär, Herrn Ban Ki-moon

Sehr geehrter Herr Generalsekretär,

ich heiße Gila. Ich bin israelische Staatsbürgerin und Bewohnerin des Kibbuz Nahal Oz an der Grenze zum Gazastreifen. Vor einer Woche haben wir unseren ältesten Sohn verloren. Daniel, 4 ½ Jahre alt, wurde durch eine Mörsergranate getötet, die absichtlich aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert worden war.

Ich schreibe Ihnen, nachdem Sie Ministerpräsident Benjamin Netanyahu gegenüber erklärt haben, dass eine internationale Untersuchungskommission zur Untersuchung der „Verbrechen Israels“ in den jüngsten Kämpfen im Gazastreifen eingerichtet werden wird.

Über uns: Doron und ich sind seit fünf Jahren verheiratet. Wir haben drei wundervolle Kinder: Daniel 4 ½ Jahre, Yoval 3 ½ Jahre und Uri 4 Monate alt. Wir waren eine glückliche Familie. Wir lebten im Kibbuz Nahal Oz in der Nähe des Gazastreifens und diskutierten die ganze Zeit darüber, ob wir Nahal Oz verlassen und woanders hinziehen sollten, an einen ruhigeren, sichereren Ort, weit weg vom Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen und weit weg von den Sirenen.

Dann kam die Gefahr durch Terrortunnel, die Mitglieder der Hamas aus dem Gazastreifen nach Israel unter unserem Haus gruben, um uns anzugreifen. Nachts hörten wir Geräusche und Stimmen unter uns. Deshalb schliefen unsere Kinder in den vergangenen sechs Monaten mit geschlossenen und verriegelten Fenstern. Wir hatten Angst, dass sie sie entführen würden.

Können Sie sich unser Leben vorstellen, Herr Generalsekretär? Wie lebt man mit der ständigen Angst vor Raketenbeschuss und Terroristen, die aus Tunneln kommen?

Dann, am Freitag, den 22. August 2014, wurde Daniel getötet. Alle Schutzmaßnahmen, die wir getroffen hatten, versagten. Daniel, 4 ½ Jahre alt, wurde in unserem Haus getötet, als er mit Yoval in einem Zelt spielte, das wir im Haus aufgebaut hatten – nicht draußen, denn das ist gefährlich. Er wurde durch eine Mörsergranate getötet, die von Terroristen im Gazastreifen abgefeuert worden war. Er starb in unseren Armen. Daniel starb vor den Augen seiner kleinen Schwester und besten Freundin, Yoval, 3 ½ Jahre alt. Er starb vor den Augen von Uri, der nur vier Monate alt ist und vor unseren Augen, seiner Mutter und seinem Vater.

Wir haben versagt. Wir konnten unser wunderschönes und begabtes Kind nicht schützen. Daniel wurde von einer Mörsergranate getötet, die von Hamas-Mitgliedern von einer Grundschule für Jungen in Gaza-Stadt abgefeuert worden war. Es war kein Querschläger. Es war kein versehentlicher Tod. Von dieser Schule feuerten Terroristen mit voller Absicht auf den Kibbuz, um Zivilisten zu töten – Kinder, Frauen, Alte. Dieses Mal haben sie ihr Ziel erreicht. Daniel starb fast auf der Stelle. Daniels Vater Doron bedeckte ihn mit einer Decke, während er bittere Tränen weinte, und wir flohen aus unserem Zuhause mit zwei kleinen Kindern. Wir ließen unseren kostbaren Sohn zurück, um sie vor den Raketen zu schützen, die weiter neben unserem Haus explodierten. Yoval, Daniels kleine Schwester, sah den schrecklichen Anblick und verstand, dass etwas Furchtbares geschehen war. Es war unerträglich mitanzusehen, wie dieses kleine Kind an die Wand starrte, in überwältigender Stille, mit Tränen in ihren Augen.

In dieser Woche, während wir „Shiva“ (rituelle jüdische Trauerwoche) bei Dorons Eltern saßen, hörten wir von Ihrer Entscheidung, eine internationale Kommission zur Untersuchung der „Verbrechen Israels“ bei den jüngsten Kämpfen im Gazastreifen zu ernennen. Sie hatten Ministerpräsident Benjamin Netanyahu darüber eine halbe Stunde nach Daniels Tod informiert, vielleicht während er gerade tot in unserem Wohnzimmer lag, bedeckt durch eine Decke.

Die Untersuchungskommission wird die „Verbrechen Israels“ während der Kämpfe untersuchen. Die Untersuchungskommission hat nicht den Auftrag, zu untersuchen, wie Terroristen aus UN-Gebäuden und –schulen feuern.

Die Kommission hat nicht den Auftrag, zu untersuchen, wie in den Gebäuden der Vereinten Nationen und in Krankenhäusern im Gazastreifen die terroristische Infrastruktur aufblühte und aufrechterhalten wurde oder wie Terroristen sich von diesen Orten zu ihren Angriffen auf unschuldige Menschen aufmachten.

Sie wird nicht untersuchen, wie die Hamas das palästinensische Volk missbraucht und wie ihre Mitglieder die Bewohner des Gazastreifens, sogar Kinder, dazu zwingen, Tunnel zu graben, die einzig dem Terror gegen Israel dienen.

Sie wird nicht untersuchen, wie die Hamas diese Tunnelgräber nach der Zwangsarbeit unter sklavereiähnlichen Bedingungen ermordete, sogar die Kinder, nur um sicher zu gehen, dass sie keine Informationen an Israel weiterleiten konnten.

Warum schweigen Sie? Signalisiert Ihr Schweigen Zustimmung zum Missbrauch des palästinensischen und des israelischen Volks?

Die Antworten auf diese Fragen bleiben im Dunkeln.

Und ich möchte Sie fragen:

Sehen Sie und die UNO nicht die Verbindungen, die das globale Bild des Terrorismus ausmachen?

Die Terroristen, voll bewaffnet und voller Hass, die uns in unserem Zuhause angegriffen haben, sind die Gleichen, die 43 UN-Beobachter in Syrien entführt haben; sie sind die Gleichen, die unschuldige Menschen in Syrien und im Irak enthaupten, sie sind die Gleichen, die im Jahr 2001 in New York Flugzeuge in Gebäude voller Menschen gesteuert haben; sie bedrohen den Kern demokratischen Lebens und das Leben selbst, in Europa, in den Vereinigten Staaten und überall auf der Welt.

Erlauben Sie mir, Ihnen etwas über unsere Geschichte hier an der Grenze zum Gazastreifen zu erzählen. Die Eltern meines Ehemanns Doron leben ebenfalls in der Nähe des Grenzzauns zum Gazastreifen. Vor dreieinhalb Jahren schlug eine Kassam-Rakete ein und zerstörte ihr Haus.

Bis vor einigen Jahren hatten sie gute Beziehungen zu den Menschen im Gazastreifen. Sie stellten Arbeiter aus dem Gazastreifen ein, um auf ihren Feldern zu arbeiten und Paulina, Daniels Großmutter, fuhr sie nach Hause – nach Rafah, jeden Abend nach der Arbeit. Sie haben sich gegenseitig zu Hochzeiten und anderen Festen eingeladen, sind oft nach Rafah oder Gaza-Stadt gefahren, um das Leben dort in den Cafés zu genießen.

All dies endete mit der Machtergreifung der Hamas, die die Zivilisten, die in Israel arbeiteten, aufforderte, ihre israelischen Arbeitgeber zu töten, weil sonst die Hamas ihre Familien bedrohen würde. Daniels Großeltern erzählten uns davon, sehnsüchtig hoffend, dass die guten Beziehungen zurückkommen würden. Sie haben sogar Wege gefunden, mit ihren Freunden im Gazastreifen während des Beschusses in Kontakt zu bleiben. Wie die Eltern von Doron und ihre Freunde im Gazastreifen wollen wir in guter Nachbarschaft leben, in Frieden und Sicherheit. Wir hoffen, dass unsere Nachbarn, die Menschen im Gazastreifen, friedlich in ihren Häusern leben können und ihr wunderschönes Land aufbauen und entwickeln können. Wir glauben, dass die große Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten nicht den Anblick von Blut, Tränen und Feuer durch die radikalislamische Bewegung sehen wollen, sondern friedlich leben, das Lachen ihrer Kinder genießen und auf ein besseres Morgen warten wollen.

Wir sind nicht hinter den Menschen her, die für Daniels Tod verantwortlich sind.

Wir wünschen uns nur eine Antwort von Ihnen und Ihr Wort angesichts dieses Verbrechens und der Verbrechen, die die Hamas gegen ihr eigenes Volk verübt.

Gila und Doron Tregerman

Eltern von Daniel (RIP [= requiescat in pace = Ruhe in Frieden]), Yoval und Uri

Nahal Oz, Israel

Der kleine Daniel wenige Wochen vor seinem Tod, fotografiert bei einem Sommer-Event des Präsidialamtes am 7. August 2014 in Jerusalem für Kinder aus der vom Gaza-Krieg betroffenen Region. Photo: Mit freundlicher Genehmigung des israelischen Präsidialamtes.
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