10.08.2018
Weißsein, halt dich aus
Eva Tepest ist Journalistin und freie Autorin mit Sitz in Berlin.
Eva Tepest ist Journalistin und freie Autorin mit Sitz in Berlin.

„Dieser Wandel von Trauer zu Groll, von dem Erleiden von Verletzungen dazu, die Stimme gegen diese Verletzung zu erleben, hat immer provoziert (...) Auch wenn es scheint, als ob die Existenz von Rassismus in diesem Land kaum bestritten werden kann, ist es immer dann, wenn rassistische Gewalt öffentlich gemacht wird, dass ihre Existenz und Evidenz am meisten in Frage gestellt wird.“ (Anne Anlin Cheng[1])

Dieser Text ist Teil der Alsharq-Kolumne „Des:orientierungen“. Alle Texte der Kolumne finden Sie hier.

Vor zwei Wochen hat ein Mitkolumnist der Serie Des:orientierungen an dieser Stelle einen Servicepost unter dem Titel „Reflex: Abwehr“ verfasst. Auf der Grundlage von deutschem Rassismus im Allgemeinen und Rassismen innerhalb der Islamwissenschaft und verwandter Fächer im Besonderen beschrieb er, wie Menschen mit Privilegien (Weißsein, Mannsein, Heterosein) als erste Reaktion Kritik abwehren, anstatt sich selbst zu hinterfragen oder den Betroffenen zuzuhören. Özil, #MeTwo, AfD: Das Problem heißt Rassismus. Das zu leugnen und zum Angriff überzugehen ist jedoch weiterhin gängige Praxis. Wie lässt sich diese Abwehr erklären? Woher nimmt sie ihre emotionale Wucht? Wie kann sie bestehen, obwohl Rassismus in Deutschland allgegenwärtig und offensichtlich ist?

The Melancholy of Race

Die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Anne Anlin Cheng hat sich in ihrer Monografie The Melancholy of Race mit diesen Fragen beschäftigt. Darin prägte sie das Konzept der racial melancholia. Angelehnt an die psychoanalytische Unterscheidung zwischen Trauer und Melancholie untersucht sie die race question in den USA. Laut Sigmund Freud ist Trauer das gesunde Abschiednehmen von einem verlorenen, geliebten Objekt. Bei der Verweigerung von Trauer wird der Mensch, so Freud, zum Melancholiker – und das verlorene Objekt ein Teil von ihr. „Der Melancholiker verleibt sich das verlorene Objekt ein – tatsächlich zehrt er von ihm (Cheng 8). Konkret bedeutet das, dass der derart melancholische Mensch von dem verlorenen Objekt nicht loskommt, von ihm abhängt – und es dafür hasst. Eine Sackgasse zwischen Begehren und Abweisung. Abwehr wird somit zum Fetischzum Steckenbleiben.

Was hat das mit Rassismus in den Vereinigten Staaten zu tun? Handeltes sich bei dem verlorenen - einverleibten - Objekt bloß um Vater, Mutter, Ex-Partnerin, dann wäre die private Obsession wohl kein Anlass zu gesamtgesellschaftlicher Sorge. Doch Trauerabwehr, so Cheng, ist genau das, was weiße US-Amerikaner*innen in Bezug auf die race question im Großen, also gesellschaftlichen StilbetreibenAngesichts der Beinahe-Ausrottung der indigenen Bevölkerung, der Versklavung der Schwarzen und der Diskriminierung anderer migrantischer Bevölkerungsgruppen üben sie sich in Verdrängung über diese Verbrechen und den Verlust, den sie sich damit selbst zufügten. Das ist der prägende Verlust im Herzen des weißen Subjekts. Ein Verlust, der Weißsein immer neurotisch, mangelhaft und getrieben macht. Und es untrennbar verbindet mit dem Schwarzen Objekt, der Person of Colour, die innerhalb der weißen Mehrheitsgesellschaft, zum Fetisch wird. Zum Objekt des Hasses und der Begierde. Eine Begegnung beider auf Augenhöhe? Ausgeschlossen.

Eine vergleichbare Bewegung hat Judith Butler in Bezug auf Geschlecht und Queerness ausgearbeitet: „Heterosexuelle Melancholie hindert das männliche Geschlecht daran, um das Maskuline und seine Unfähigkeit zu lieben zu trauern“, schreibt die Queertheoretikerin in Bodies That Matter[2]. Strukturell betrachtet hassen Männer also Frauen und Queers, heterosexuelle Frauen zumindest Homosexuelle, weiße Queers Schwarze und People of Colour – you can do the math. Wir hassen, wo wir nicht lieben dürfen.

Weißsein kann nichts

Was passiert also in einer weißen Mehrheitsgesellschaft, in der Post-Migrant*innen aufbegehren, sich selbstbewusst positionieren und einfordern, dass ihre Erfahrungen endlich anerkannt werden (#MeTwo)? Es scheint, als könne die Melancholie im Herzen des Weißseins nur Angst/Hass vor unbequemen Wahrheiten hervorrufen: Weißsein ist unsexy. Weißsein ist abhängig. Weiße Musik kann nichts, weißes Essen kann nichts. Zu einem ähnlichen Schluss kommt die Autorin Ann Cotten in ihren Reisebetrachtungen zu den USA in Zeiten Donald Trumps: „Die, welche wie ich aus den krusty Hallen der etablierten, zerbröselnden Herrschaftsidentität kommen (...) mit ihren angehäuften moralischen Fails, ihrer Kollapslogik von sinnleerem Wachstum, und vor allem mit ihrer Dialektik von Scham und Begehren, das sind ab jetzt die Sekundären, die Diener, die Spiegel.“ There are no things more beautiful than Beyoncé. Dochanstatt diese ihre Affekte klarzukriegen, legen wir eine Reihe von Abwehrmechanismen an den TagDie unheilige Dreifaltigkeitvon white hate, white tears, white guilt.

White hate

Während Rechte gegen Fremde hetzen und morden, Geheimdienste Nazis schützen, und Liberale das Pro und Contra von Seenotrettung abwägen, ist der perfide Ausdruck des gesellschaftlichen Hasses auf der Begehrensebene „Flüchtlingspornographie“. Darunter fallen pornographische Inhalte, bei denen weiße Männer Frauen, die durch äußere Marker als muslimisch/geflüchtet markiert werden (meist durch ein Kopftuch), sexuell erniedrigen. Doppelte Lust: Die fremde Frau wird sich gefügig gemacht, der fremde Mann in seine Schranken verwiesen. Zweimal Hass mit einem Klick. Laut Mohamed Amjahid ist das Phänomen seit 2015 in Deutschland und in vielen anderen europäischen Gesellschaften virulent geworden: „Die Nachfrage an pornografischen Filmen, bei denen geflüchtete Frauen beim Sex gezeigt werden, steigt.“ Besonders widerlich: Die Suchanfragen explodierten immer dann, wenn die Debatte um Flüchtlinge und Islamisierung ihren Firnis von Willkommenskultur über Bord warf, etwa im September 2017: „Im Monat der Bundestagswahl, bei der nicht nur die AfD auf die Themen Flucht und Migration setzt, nimmt die Zahl der 'Refugee'-Suchanfragen auf xHamster in Deutschland um 114 Prozent auf deutlich mehr als 800.000 zu.“

White tears

In den Sozialen Medien, privat und in den Kommentarspalten fühlen sich dieser Tage mehrfach täglich privilegierte Menschen derart bedroht, dass sie ins Jammern geraten. Weiße Männer fragen sich, warum sie eigentlich niemand mag, weiße Frauen und Queers denken, die Diskriminierung, die sie erfahren, bedeutete, dass sie nicht selber diskriminieren könnten.
 
Screenshot "BILD" vom 30.07.2018

White guilt

Die elaboriertere Form von white hate und white tears ist white guilt. White guilt ist die weiße Person bei Ho_mies (einer Hip-Hop-Partyreihe in Berlin, die von einem Kollektiv aus PoC-Frauen organisiert wird), die im Laufe des Abends in Tränen ausbricht, weil sie nicht weiß, ob sie es mit sich vereinbaren kann, sich dort aufzuhalten. White guilt ist, sich hinter refugee friends zu verstecken, anstatt sich mit einer eigenen Position angreifbar zu machen. White guilt ist die Praxis, das eigene Unwohlsein in den Mittelpunkt zu stellen, wo es nichts zu suchen hat.
 
Monica Bonvicini, 62 Tons of Guilt, lacquered wood, lacquered steel chains, 2018, ca. 20 x 300 x 250 cm
 

Weißer Mensch, was tun?

Wie umgehen mit all den abgefuckten weißen Affekten? Emotional gibt es nur eine Antwort: aushalten. In einer strukturell bedingt rassistischen Gesellschaft wie der unseren, wird es keine einfache Lösung geben für white hate-white tears-white shame, für den Verlust und das strukturelle Ungleichgewicht.

Praktisch bedeutet das: Höre zu und nehme die Erfahrungen von Betroffenen ernst. Mach dich angreifbar und nimm die Kritik, die es hoffentlich geben wird, an – auch wenn es unangenehm ist, damit konfrontiert zu werden, dass alle weißen Menschen in ihren Emotionen, Worten und Taten Rassist*innen sind.

Check deine Sprecher*innenposition. Versuche nicht, davon zu profitieren, dass du dir die Erfahrungen von marginalisierten Identitäten zueigen machst. Das heißt nicht, dass du Sprechverbot hast. Aber du musst dich immer fragen: Profitiere ich gerade davon, eine Perspektive zu schildern, die jemand anders an meiner Stelle besser schildern könnte? Falls dem so ist: Mach keinen Film über die Proteste Schwarzer Studierender in Kapstadt. Gib Aufträge an andere ab, die mehr Ahnung von Themen haben, wenn du es dir leisten kannst. Vermeide tokenism. Häng dein Studium, deine Doktorarbeit, deine Stelle in Arabistik, Islamwissenschaft, Nah- und Mitteloststudien an den Nagel.

 

Weißsein, halt dich aus.

 

Fußnoten:

[1]Cheng, Anne Anlin, The Melancholy of Race, New York: Oxford University Press, 2001, 3, Übersetzung der Autorin.

[2]Butler, Judith, Bodies That Matter. New York: Routledge, 1993, 235, Übersetzung der Autorin.

Eva Tepest hat Arabistik und Middle Eastern Studies in Leipzig, Kairo und Lund studiert. Nach beruflichen Stationen in verschiedenen Forschungsprojekten arbeitet sie jetzt als Journalistin und Autorin mit Sitz in Berlin – u. a. für die dis:orient-Kolumne, Adopt a Revolution und verschiedene Zeitungen und Magazine.
Redigiert von Julia Nowecki