25.03.2014
Wehrpflicht für Haredim beschlossen - Trotz Protest mit Thora
Demonstration gegen die Wehrpflichtreform. Foto: (C) Tobias Pietsch
Demonstration gegen die Wehrpflichtreform. Foto: (C) Tobias Pietsch

Israels Wehrpflicht wird zukünftig auch für Orthodoxe gelten. Eine historische Entscheidung, die in Jerusalem zu einer der größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes geführt hat. Von Tobias Pietsch

„Wir haben doch genügend Soldaten. Die Armee braucht nicht mehr Soldaten. Es wird gerade sogar diskutiert, ob die Wehrpflicht verkürzt werden soll. Wieso sollen wir dann in die Armee gehen?“, so lautet die Antwort eines orthodoxen Mannes Anfang März auf meine Frage, warum er heute demonstrieren geht. Wir fahren im Bus in Richtung der zentralen Busstation von Jerusalem, dort findet eine Demonstration gegen die geplante Wehrpflichtreform statt, zu der die Rabbiner der ultra-orthodoxen Gemeinschaften und die orthodoxen Parteien aufgerufen haben.

Als ich meinen Sitznachbarn frage, wie viele Menschen er zur Demo erwarte, meint er, das wisse nur Gott, aber eine halbe Million würden es schon werden. Im Stadtzentrum trennen sich unsere Wege. Der Bus kommt nicht weiter, da die Straßen zum Busbahnhof bereits abgesperrt sind und Menschenmassen aus den orthodoxen Vierteln die zentrale Jaffa-Straße hinauf laufen.

Eine halbe Million sind es letztlich nicht ganz, die sich auf dem Platz und den Straßen zwischen dem International Convention Center und der zentralen Busstation versammelt haben. Es ist schwer, die Übersicht zu behalten. Schwarz gekleidete Menschenmassen drängen sich in allen Seitenstraßen und werden dort über Lautsprecher am Geschehen beteiligt. Männer mit Hüten stehen auf Dächern und Balkonen, sitzen auf Bäumen und Bushaltestellen um eine bessere Sicht auf das Geschehen zu bekommen. Abseits der uniformen, schwarzen Masse der Männer demonstrieren auch die Frauen und Kinder mit. Die Abtrennung zwischen den Straßenbahnschienen dient als keusche Barriere zwischen den Geschlechtern.  

Ob 350.000 DemonstrantInnen oder doch fast eine halbe Million - fest steht, dass es sich um eine der größten Demonstrationen in der Geschichte Israels handelt. Der Verkehr in und nach Jerusalem ist komplett unterbrochen. Keine Busse, keine Straßenbahn und selbst die Autobahn 1 nach Jerusalem, Lebensader der "Heiligen Stadt", ist blockiert.

Aus Sicht der Teilnehmenden handelt es sich um ein Gebet, keine Demonstration. Es werden Gebetszettel verteilt, auf denen der Ablauf der Zeremonie und die Gebetstexte nachzulesen sind. Bevor die Rabbiner klagend klingende Gebete sprechen und singen, ihre Forderungen nach der Beibehaltung der Befreiung der Wehrpflicht für ihre Thora-Schüler mit biblischen Versen begründen und die Massen unisono in Gebete und Gesänge einsteigen, wird eine Schweigeminute eingelegt. Hunderttausendfache Stille eines schwarzen Meeres.

Einige der jungen Demonstranten sprechen kaum oder nur schlecht Hebräisch. Englisch ist ihre Muttersprache und viele von ihnen wären auch gar nicht von der Reform betroffen, da sie nur US-amerikanische Pässe haben. Dennoch demonstrieren sie mit: „Das ist ein Krieg gegen unsere Religion. Die Regierung möchte unseren Lebensstil verbieten und uns umerziehen“, geben mir die jungen Männer mit, bevor sie sich von mir fotografieren lassen wollen. Andere drücken ihre Meinung auf Schildern noch drastischer aus: „Die israelische Regierung verfolgt und zertrampelt gläubige Juden massiv“ oder „Der Wehrdienst wird uns nicht auferlegt werden“.

Junge Haredim demonstrieren ausgelassen und siegessicher gegen die Pläne der Regierung. Foto: (C) Tobias Pietsch

 

Im Grundsatz geht es um die Frage, ob die jungen Haredim, die Gottesfürchtigen, wie sich die Ultraorthodoxen selbst bezeichnen, weiterhin vom Wehrdienst ausgenommen werden und stattdessen in den unzähligen Yeshivas Jerusalems die Thora studieren können. Diese Ausnahme sei nicht mehr zeitgemäß und vor allem ungerecht, klagensäkulare Israelis, die auch die Lastenverteilung der Gesellschaft aus dem Gleichgewicht sehen.

Die Ausnahme für Strenggläubige geht auf David Ben Gurion und die Staatsgründung Israels 1948 zurück. Damals wurden 400 orthodoxe Männer generell vom Wehrdienst befreit, um in den Yeshivot die Thora zu studieren. Ben Gurion hatte zwei Gründe für diese Entscheidung. Zum einen wollte er das Überleben der Thoraschulen sichern, deren Existenz durch die Shoah fast komplett vernichtet wurde. Zum anderen wollte er sich durch dieses Entgegenkommen, mit den teilweise antizionistischen Orthodoxen, deren Zustimmung für die Gründung des israelischen Staates sichern. Denn strenggläubige Juden sind der Ansicht, dass nur der Messias den Staat Israel wieder errichten könne, und dies von Menschenhand erkämpfte und geformte Land daher nicht dem Willen Gottes entsprechen könne. Die Zustimmung gelang nur teilweise, betrachtet man heute die weiterhin ablehnende Haltung vieler Haredim gegenüber dem Staat.

Die Ausnahmeregelung von 1948 hat über die Jahrzehnte dazu geführt, dass heute über 30 000, oder sogar über 60 000 orthodoxe Männer, wenn man die vom Reservedienst ausgenommenen hinzurechnet, vom Wehrdienst befreit sind. Diese Wehrungerechtigkeit kritisierten nicht nur zunehmend viele säkulare Israelis, sondern auch ein Urteil des obersten Gerichtshofes 2012. Nach zwei Jahren wurde nun am 12. März über eine Wehrpflichtreform abgestimmt.

Die Regierungskoalition von Likud-Beitenu, Yesh Atid (Es gibt eine Zukunft), HaBeit HaYehudi (Jüdisches Heim) und HaTnua (Die Bewegung) haben mit 67 Stimmen von 120 für die Wehrpflichtreform gestimmt. Es gab nur eine Gegenstimme aus den Reihen der Regierung, da die 52 Abgeordneten der acht Oppositionsparteien nicht an der Abstimmung teilnahmen. Sie boykottierten diese, um gegen die Verknüpfung von drei großen Gesetzesvorhaben in einem Abstimmungszeitraum von nur drei Tagen zu protestieren.

Finanzminister Yair Lapid postete daraufhin zufrieden bei Facebook: „An die 543.458 israelischen Bürger, die Yesh Atid gewählt haben: heute haben wir für die gleiche Verteilung der Lasten gestimmt“. Ob seine, hauptsächlich säkularen, WählerInnen mit der neuen Lastenverteilung jedoch zufrieden sind, ist fraglich. Denn nach wie vor gibt es Ausnahmen und Übergangszeiten. So sollen bis 2017 Quoten die Zahl der Orthodoxen in der Armee jährlich erhöhen. 2014 sollen 3 800 junge Haredim eingezogen werden, 2015 sollen es 4 500 und 2016 dann 5 200. Weiterhin ausgenommen bleiben 1 800 herausragende Thora-Schüler, die nicht einberufen werden.

Als historischen Schritt verkauft Wirtschaftsminister Naftali Bennett (HaBeit HaYehudi) die Entscheidung: „We’re making history! This means that we are injecting a huge pool of talent into Israels’s economy. The last time that happened was 1990 with the big Russian Aliya. Now we’re gonna have another boost in our economy. [...] Every Israeli will have the duty and the sacred right to protect our country“. Diese Aussage unterstreicht Bennetts Unterstützung für die Reform, die auf den ersten Blick verwundern mag, könnte man doch meinen, dass eine Partei die sich Jüdisches Heim nennt, die Interessen gläubiger Juden vertritt.

Bennett und seine Parteikollegin, die dem Komitee zur Ausarbeitung der Gesetzesreform vorsaß, vertreten jedoch vielmehr die Interessen der Nationalreligiösen, und nicht die der Haredim. Die Wehrpflichtreform betrifft auch die Nationalreligiösen, die durch die Änderungen allerdings profitieren werden. Diese leisten bereits ihren Wehrdienst in der Armee in Kombination mit einem Thorastudium ab. Das sogenannte Hesder-Programm, wird fortgesetzt und sieht vor, dass diese Thoraschüler nun 17 statt 16 Monate in der Armee dienen und anschließend drei Jahre und sieben Monate studieren. Bei vollem Sold, bezahlt vom Verteidigungsministerium.

Viele Israelis und JournalistInnen befürchten nun, dass sich der Charakter der israelischen Armee durch die Rekrutierung der Ultraorthodoxen stark verändern würde. Dabei wird jedoch außer Acht gelassen, dass es bereits mehrere Tausend Haredim in der IDF gibt. Alleine 2013 wurden 2000 neue Rekruten eingezogen. Für die Strenggläubigen gibt es seit 1999 das Netzah Yehuda Battalion, das die Regeln des Glaubens und den Dienst an der Waffe miteinander vereinbart. Im Moment wird ein zweites strengreligiöses Infanterie-Battalion aufgebaut, für nächstes Jahr ist sogar eine dritte Einheit zur Unterstützung des Heimatfront-Kommandos geplant. Die eigenen Einheiten der Haredim werden sich von anderen unterscheiden und abschotten, sie werden den Charakter der Armee jedoch nicht verändern.

Ohne dieses Entgegenkommen und ohne die jetzt getroffenen Kompromisse der Übergangsregelungen und Ausnahmen, wäre der Widerstand der Orthodoxen um ein vielfaches größer. Daher argumentieren einige, dass es für den gesellschaftlichen und politischen Frieden sinnvoll war, diese Ausnahmen beizubehalten.