26.05.2021
Von Ganz Unten
„Das ist kein Denkmal“ von Adpot a Revolution. Bild: dis:orient
„Das ist kein Denkmal“ von Adpot a Revolution. Bild: dis:orient

Heute ist Präsidentschaftswahl in Syrien. Doch Demokratie sieht anders aus. In „Das ist kein Denkmal“ berichten Aktivist:innen von den demokratischen Strukturen, die sie zu Beginn der Revolution etablieren konnten – in Opposition zum Assad-Regime.

Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Publikation „Das ist kein Denkmal“.  Die deutsch-syrische Solidaritätsintiative „Adopt a Revolution“ hat darin anlässlich des zehnten Jahrestags der syrischen Revolution Stimmen von Aktivist:innen zusammengetragen. Die gesamte Publikation kann kostenlos bestellt werden.

Die syrische Revolution versorgte die Welt jahrelang mit dramatischen Bildern von Protesten und deren Niederschlagung, von Bombardierungen und Kämpfen. Das Bildarchiv der syrischen Revolution umfasst aber auch Hunderte fotografisch eher öde Bilder, die nie um die Welt gingen. Sie zeigen Diskussionsrunden, Workshops und Sitzungen von Syrerinnen und Syrern, die nicht selten auf Plastikstühlen sitzend in fensterlosen Kellerräumen unter Neonröhren die Geschicke ihrer Kommunen in die Hand nehmen. Die gemeinsam und so demokratisch, wie es die lokalen Verhältnisse zulassen, Entscheidungen treffen, von der Wasserversorgung über das Bildungssystem bis hin zur Regelung polizeilicher Aufgaben.

Der Kontrast dieser Bilder zu Fotografien von Sitzungen des syrischen Parlaments, das in einem holzvertäfelten Saal dem Diktator huldigt, könnte größer nicht sein. Diese Strukturen, die die syrische Revolution hervorgebracht hat, waren niemals „repräsentativ“. Aber vor dem Hintergrund der Assad-Diktatur waren sie wahrhaft revolutionär. Die aufsehenerregenden Proteste waren nur der Anfang. Was die syrische Revolution eigentlich ausgemacht hat, wurde weltweit fast immer übersehen.

Inmitten des Horrors

„Es ist wichtig, zu verstehen, dass all diejenigen, die unter der Diktatur geboren wurden, niemals kollektive demokratische Entscheidungen erlebt hatten. Doch plötzlich mussten sie ein System entwickeln, das die Institutionen des Regimes ersetzt: Gesundheits-, Wasser- und Stromversorgung und alle weiteren Details des Alltags. Die Belagerung erschwerte das alles, und die Luftwaffe bombardierte uns täglich. Inmitten dieses Horrors musste sich die ganze Gesellschaft von Grund auf neu entwickeln. Es fanden sogar Wahlen für die lokalen Räte statt.“ - Saeed al Batal

Nicht genehmigte Sportaktivitäten

„Dialog, Austausch von Ideen - das gab es vor der Revolution in Syrien für uns nicht. Menschen konnten verhaftet werden nur für den Besuch eines unangemeldeten Theaterstücks. Ich kenne sogar Leute, die wegen nicht genehmigter Sportaktivitäten inhaftiert wurden.“ - Abdulsattar Sharaf

Schrittweise

„Im November und Dezember 2012 zog sich das Regime aus allen Städten der Ost-Ghouta komplett zurück, und damit auch die Stadtverwaltungen. In Syrien gibt es schließlich keinen Unterschied zwischen Regime und Staat. Wir sind nicht in Deutschland, wo man sagen könnte: Ok, die deutsche Regierung ist zurückgetreten, aber der deutsche Staat ist noch da. Der syrische Staat ist der Staat von Bashar al-Assad. Alle Städte der Ost-Ghouta wurden daraufhin quasi von ihren Bewohner:innen regiert. Allerdings hatten wir nicht die nötigen organisatorischen Strukturen und das nötige Wissen. Entsprechende Erfahrungen erwarben wir dann erst schrittweise, nachdem sich der Lokale Rat Ende 2012 in Erbin gegründet hatte und eine erste Satzung festgelegt wurde.“  - Abdulsattar Sharaf

Syrische Frauen bei einem zivilgesellschaftlichen Treffen Foto Adopt a Revolution

Macho-Gesellschaft

„In Ost-Ghouta konnte ich dann zum allerersten Mal in meinem Leben mit anderen Aktivist:innen gemeinsam Projekte und Aktivitäten organisieren, ohne dafür eine Erlaubnis vom Regime erfragen oder erkaufen zu müssen. [...] Ich baute gemeinsam mit anderen Frauen eine Initiative auf, die sich ausschließlich Themen widmete, die uns Frauen betrafen und die zum Ziel hatte, die Frauen aus der gesellschaftlichen Isolation und Marginalisierung zu befreien, in die sie durch die patriarchale Macho-Gesellschaft in Syrien vielerorts gedrängt worden waren.“ - Eman

„Die LCCs boten einen detaillierten Entwurf für ein Post-Assad-Syrien – für ein wahrhaft demokratisches und pluralistisches Syrien.“ - Karam Nachar

Im Lauf der Revolution bildeten sich zunächst “Local Coordination Committees” (LCC). Sie organisierten Proteste, bald auch humanitäre Hilfe, und schufen durch zivilgesellschaftliche Projekte Strukturen für demokratische Partizipation. Vielfach übernahmen sie sogar staatliche Aufgaben, etwa im Bildungsbereich. Die oft mit den LCCs verbundenen “Local Councils” entsprachen improvisierten Stadtverwaltungen mit von Ort zu Ort sehr unterschiedlicher Zusammensetzung. Diese lokalen Basisstrukturen sind theoretisch mit der in Doha gegründeten “Nationalen Koalition” verbunden, die von Deutschland und vielen westlichen Staaten als Exilregierung anerkannt wurde. Doch das Verhältnis der Basisaktivist:innen vor Ort zu der etablierten, von vielen internationalen Akteuren beeinflussten Exilregierung war früh von Misstrauen und Konflikten geprägt.

Eine Form von Demokratie

„Die lokalen Räte [waren] ein Konzept, das der syrische Anarchist Omar Aziz entwickelt hat. Er glaubte, dass es nicht ausreicht, dass die Menschen auf die Straße gehen und demonstrieren, sondern dass sie eine Alternative zum autoritären Staat aufbauen müssen. Auf dem Höhepunkt des Aufstandes in den Jahren 2012-2013 begannen diese lokalen Räte in Gemeinden in ganz Syrien, in Städten, Ortschaften, Dörfern und Nachbarschaften, mit Hunderten von Mitgliedern aktiv zu werden. Und viele dieser Räte haben demokratische Wahlen abgehalten, die ersten seit über 40 Jahren in Syrien.

Die meisten sahen sich vielen Herausforderungen ausgesetzt. Einige waren recht „inklusiv“ und fortschrittlich, andere, besonders in ländlichen Gebieten, waren eher von Stammesstrukturen dominiert. Es war also alles nicht perfekt, aber es war ein Modell, das im Westen weitgehend nicht wahrgenommen wurde. In der Tat hören wir oft, dass “Araber nicht für die Demokratie gemacht sind, sie brauchen einen starken Mann, um sich nicht gegenseitig umzubringen”; und doch können wir jetzt sagen, dass es in Syrien unter den Bedingungen des „totalen Krieges“ diese lokalen Räte gab, die versuchten, eine bestimmte Form der Demokratie zu praktizieren.“ - Leila al Shami

Schutzbarriere

„Als ich mich neulich mit einem Aktivisten der LCCs unterhielt, sagte er bekümmert, dass es um den Ruf der Komitees in unserer Region nicht sonderlich gut bestellt sei. So würden Leute verbreiten, dass „die Komitees von Weibern geführt sind“… Und das schwäche die Position der Aktivisten gegenüber den Leuten der Gegend. Dabei ist es doch ein Glück, dass eine Handvoll Frauen eine essentielle Rolle in den lokalen Komitees spielen, dass die Komitees weiterhin aktiv sind, dass sich ihre Arbeit entwickelt hat während den zwei Jahren der Revolution. [...] Es ist merkwürdig, dass jemand, der einer Frau vertraut, wenn sie in einer Demonstration als Schutzbarriere zwischen ihm und den Sicherheitskräften steht, wenn sie Verfolgten Unterschlupf bietet und Verletzte verarztet, dass dieser gleiche Mensch nicht auf sie vertraut, wenn es darum geht, die Zukunft seiner Kinder mitzugestalten.“ - Razan Zaitouneh, 7. Mai 2013

Basisdemokratisches Treffen einer Gruppe Syrerinnen und Syrer Foto Adopt a Revolution

Aufwandsentschädigung

„Was uns in letzter Zeit besonders verärgert hat, ist die Exilopposition. Für die Provinz Al Hasaka wurde ein Lokaler Rat eingesetzt, der eigentlich so etwas wie eine Regionalregierung darstellen soll. Von der Koalition der Oppositionskräfte haben seine Vertreter auch Geld bekommen. Wir haben gehört, dass Muhamad R., der Vorsitzende des Lokalrats, 200.000 Dollar bekommen haben soll. Einen Teil durfte er wohl als Aufwandsentschädigung behalten, und die restlichen 150.000 Dollar sollen an 1.500 bedürftige Familien verteilt worden sein. Aber alle, mit denen wir gesprochen haben, haben gemessen an diesem Betrag viel zu wenig bekommen. Wir sind enttäuscht, dass die Korruption auch in der Opposition weitergeht, und haben auch schon mehrmals dagegen protestiert – leider ohne Erfolg!“ - N.N.

Den Kämpfern unterwerfen

„Alle von uns kennen den Mangel an Ressourcen für die Lokalen Räte im Land [...]. So stellte zuletzt der Rat in Aleppo die Arbeit ein. Er hat schlicht nicht die Mittel, die ihm gestellten Aufgaben umzusetzen. Und alle von uns wissen, wie es um die Angelegenheiten in anderen Regionen im Norden und Osten des Landes bestellt ist. Wir wissen von dem Verlust an Sicherheit, von Plünderungen, der Verbreitung von Chaos und Anarchie. Das Fehlen einer grundlegenden Versorgung macht es nahezu unmöglich, den Einwohnern, die tägliche Bombardierungen und Racheakte von Seiten des Regimes erleben, zum Durchhalten zu verhelfen [...].

Wir können nicht Lokale Räte etablieren und sie dann allein lassen mit mangelnden Kapazitäten und zu wenig Personal [...]. Denn dann werden sie aus Mangel an Alternativen auf die Hilfe der Bataillone [FSA] angewiesen sein, die ihre Hilfe nur gegen Zugeständnisse in Sachen Machtbefugnis und Loyalität zusichern werden. Die Lokalen Räte müssten sich so den Kämpfern unterwerfen. Solch eine Tatenlosigkeit wird bald Konsequenzen zeitigen, so wie es in den anderen befreiten Regionen passiert ist.“ - Razan Zeitouneh, 6. September 2013

Friedliche Proteste zu Beginn der syrischen Revolution Foto Adopt a Revolution

„Adopt a Revolution"  hat sich Anfang 2012 gegründet, um Strukturen der neu entstandenen syrischen Zivilgesellschaft durch praktische Solidarität zu unterstützen – durch Spenden, durch Beratung auf Augenhöhe, und indem wir hierzulande jenen Gehör verschaffen, die sich in Syrien gewaltfrei für Menschenrechte und Demokratisierung einsetzen.

Ohne dass ihr die Chance hattet

„Wir gründeten von den Menschen gewählte Lokale Räte, um die Angelegenheiten der befreiten Gebiete managen zu können. Wir begannen Urban Farming zu praktizieren […] Wir gründeten alternative Schulen unter der Erde, damit die Kinder weiterlernen konnten [...]. Wir gründeten ein Zentrum zur Unterstützung von Frauen, um deren Rolle in der Gesellschaft zu stärken, sowie Zentren zur psychologischen Unterstützung der vom Krieg geschädigten Kinderseelen. […] Dennoch bestand die zivilisierte Welt in ihren Medien darauf, unsere friedlichen Aktivitäten zu ignorieren. Sie konzentrierte sich auf Daesh („Islamischer Staat“, Anm. d. Red.) und das Regime und reproduzierte die Idee, dass die einzige Alternative zum Regime diese verbrecherische Organisation sei.

Die Welt ignorierte meine Freund:innen Razan, Samira, Nada, Samir, Munir, Ahmad, Bassam, Hassan, Jamal sowie Tausende andere friedliche Aktivist:innen, die auf dem Weg der Revolution, nach Freiheit und Demokratie strebend, verschleppt wurden oder starben – ohne dass ihr die Chance hattet, ihre Namen zu hören, weil sich eure Medien zu großen Teilen auf Abu Bakr al-Baghdadi konzentrierten.“ - Abdallah al Khatheeb

 

 

„ Adopt a Revolution" ist eine im Zuge der syrischen Revolution entstandene deutsch-syrische Solidaritätsintiative zur Unterstützung der syrischen Zivilgesellschaft. Seit 2012 unterstützen sie gewaltfreie emanzipatorische Projekte in Syrien und in der syrischen Diaspora.
Redigiert von Johanna Luther, Anna-Theresa Bachmann