Das iranische Regime ist eifrig dabei, Kunst und Kultur für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Der jüngst verstorbene Sänger Shajarian hat gezeigt, dass man trotzdem unabhängig sein kann – ein Beispiel für andere, findet Omid Rezaee.
Er hat traditionelle Musik wieder aufleben lassen. Wie kein*e zweite*r verwandelte er klassische persische Poesie in musikalische Kompositionen, die ihn weltweit bekannt machten. Nun verstarb Mohammad Reza Shajarian im Alter von 80 Jahren. Am 8. Oktober erlag der legendäre Sänger seinem langjährigen Krebsleiden in einem Teheraner Krankenhaus. Mit ihm starb nicht nur der wohl beliebteste Sänger Irans, sondern auch eine Symbolfigur: für den Kampf, den er im Namen der freien Kunst zeitlebens gegen die Instrumentalisierungsversuche der Islamischen Republik führte.
Während in den ersten Jahren nach der Islamischen Revolution 1979 die Popmusik als ein Symbol der westlichen Kultur in Verruf geriet, förderte das Regime die traditionelle Musik. Auch wenn Shajarians Schaffen aus Sicht des Regimes gut in das Bild islamischer Kultur gepasst hätte, entstand selbst in diesen Jahren keine Zusammenarbeit zwischen Shajarian und dem staatlichen Rundfunk.
Ganz im Gegenteil: Shajarian scheute nie davor zurück, seine Stimme gegen die Machthaber zu erheben. Nur einige Monate nach der Revolution, als die ersten Gerüchte über ein geplantes Gesangsverbot für Frauen die Runde machten, fand Shajarian klare Worte: „Man darf den Frauen das Singen nicht verbieten“, sagte er der Zeitung Bamdad in einem Interview. Die Islamisten argumentierten, die Stimme der Frauen sei für Männer sexuell anregend. Shajarian entgegnete: Dann müsste die Stimme der Männer auf Frauen genauso wirken – eine außergewöhnlich mutige Aussage zu einer Zeit, in der sich kaum jemand traute, die neuen Machthaber zu kritisieren.
„Die Stimme des Staubs“
Ihren Höhepunkt hat Shajarians Auseinandersetzung mit dem Staat allerdings erst viel später erreicht. Nach den Präsidentschaftswahlen 2009 gingen hunderttausende Iraner*innen auf die Straßen, um nach Verkündung der offiziellen Ergebnisse gegen die vermutete Wahlfälschung zu demonstrieren. Mehrere Tausend Menschen wurden vertrieben, verletzt oder verhaftet; ungefähr hundert Protestler*innen kamen ums Leben. Shajarian reagierte. Er schrieb einen Brief an den Chef des staatlichen Rundfunks und verbot dem Rundfunk, seine Lieder auszustrahlen.
Nachdem der offiziell gewählte Präsident die Protestierenden von 2009 als „Staub“ bezeichnete, sagte Shajarian der BBC: „Meine Stimme hat keinen Platz im staatlichen Rundfunk, meine Stimme ist die Stimme des Staubs.“ Und als ob das nicht genügt hätte, veröffentlichte Shajarian noch im selben Jahr ein Lied namens „Leg’ deine Waffe nieder“, in dem er sich auf die Seite der Protestierenden stellte und das Regime aufrief, mit der Unterdrückung aufzuhören.
Für Shajarian hatte das schwere persönliche Konsequenzen: Bis zu seinem Tod durfte er innerhalb des Landes nie wieder ein Konzert geben. Gleichzeitig machte ihn sein Protest zu weit mehr als einem Sänger traditioneller Musik, Shajarian wurde eine wichtige Figur im Kampf um Freiheit.
Kultur im Dienste staatlicher Propaganda
Unabhängige Kunst, kritische Literatur und freie Presse: Dem islamischen Regime, das seit über vier Jahrzehnten das Land beherrscht, ist all das zuwider. Seit seiner Gründung versucht der Gottesstaat, die Kulturszene in zwei Kategorien zu spalten: „die Treuen“ und „die Anderen“.
Die Treuen sind diejenigen, die ihre Werke in den Dienst staatlicher Propaganda stellen. Sie können ihren Beruf sicher ausüben und werden gefördert. Sie arbeiten mit staatlichen oder halbstaatlichen Organisationen zusammen, engagieren sich in den ideologischen Projekten der Kulturbehörden und werden so zum kulturellen Arm des Staates. Doch sie machen in der iranischen Kulturszene nur eine kleine Minderheit aus. Die große Mehrheit gehört zu „den Anderen“. Sie werden kontrolliert und dürfen, wenn überhaupt, nur eingeschränkt arbeiten. Notfalls werden sie zensiert, inhaftiert oder sogar ermordet.
Trotzdem haben die letzten dreißig Jahre unter Beweis gestellt, dass sich iranische Künstler*innen von diesen Repressionen nicht einschüchtern lassen. So hat die Regierung, oder besser gesagt der Sicherheitsapparat der Islamischen Republik, in den letzten Jahren einen neuen Weg eingeschlagen, um die Kunstszene unter Kontrolle zu halten: mit massiver finanzieller Förderung für Regimetreue.
Die Revolutionsgarden haben zahlreiche Kulturvereine gegründet, die Film-, Musik-, Theater- und Literaturprojekte fördern. Auch das Ministerium für Nachrichtenwesen, der Geheimdienst der Islamischen Republik, ist inzwischen ein bedeutender Spieler im Kulturbereich geworden. Mehrere Künstler*innen, die man noch vor einer Dekade für unabhängig und kritisch hätte halten können, nehmen das Geld der (halb-)staatlichen Organisationen an. Heute kooperieren sie mit eindeutig staatstreuen und vermeintlichen Künstler*innen, und engagieren sich in Projekten, die sich gezielt gegen die Intellektuellen des Landes und die Werte der freien Welt richten.
Shajarian beweist: Es geht auch anders
Die Islamische Republik setzt also nicht nur die „nicht treuen“ Kunst- und Kulturschaffenden unter Druck, sondern sie manipuliert mit ihrem schmutzigen Geld die gesamte Branche. Shajarian ließ sich davon nicht beirren. Der legendäre, unfassbare Künstler war ein Beweis dafür, dass man auch unter diesen Umständen unabhängig und frei bleiben kann.
Während zahlreiche staatstreue Organisationen und Investor*innen ihr Kapital in jene Kulturprojekte fließen lassen, die ihre politische und ideologische Agenda vorantreiben, blieb Shajarian sich selbst treu. Damit wurde er zu einer so allseits akzeptierten musikalischen Größe, dass nach seinem Tod selbst die Konservativen und Regime-Anhänger*innen seine Musik lobten und nur seine politische Haltung kritisierten.
Es sind Künstler*innen wie Shajarian, die durch ihren Mut und den Respekt, den sie in der Bevölkerung genießen, kulturell und gesellschaftlich wirklich etwas bewegen können. Die nächsten Jahre werden zeigen, wie groß der Verlust ist, den Shajarians Tod für Iran bedeutet – oder ob es auch andere Kulturschaffende gibt, die seinem Beispiel folgen und sich nie auf die Seite der Macht stellen werden.