Welche persönlichen Erinnerungen haben die Menschen im Libanon an den Krieg vor zehn Jahren? Wie prägt der Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah die Gegenwart? Fürchten die damals Betroffenen eine neuerliche Konfrontation? Alsharq sprach mit Libanes_innen, die den Krieg miterlebt haben.
Erinnerungen aus der Dahiyeh
Ein Abend in Concord, einem Viertel im Westen Beiruts. Wir treffen drei Libanes_innen aus den südlichen Vororten Beiruts, der überwiegend schiitischen Dahiyeh, die vor zehn Jahren während des Kriegs zwischen Hisbollah und Israel wochenlang aus der Luft bombardiert wurde.
Abbass erzählt von der Freude, die sich im Juli 2006 auf den Straßen in der Dahiyeh ausbreitete, als die Neuigkeit von der Entführung der israelischen Soldaten die Runde machte. „Wir haben Tag um Tag auf diese Nachricht gewartet und glaubten, dass das die einzige Möglichkeit sei, die libanesischen Gefangenen in israelischer Hand zu befreien. Es gab zuvor Vermittlungsversuche, auch von arabischen Ländern, aber nichts wirkte, um sie zurück zu bringen. Ich habe mit meinem Vater telefoniert und wollte aufschreien vor Erleichterung. Noch in derselben Nacht begann die Bombardierung unseres Viertels.“ Die Lautstärke der Raketen wirkt auf Mohammad nachhaltig. „Du weißt erst, dass sie dich nicht getroffen haben, wenn du weiterlebst. Sie sind unglaublich laut, wie ein Flugzeug, das direkt über dir startet – und ich dachte einmal, sie hätten unser Nachbarhaus getroffen, wegen des Lärms. Die Detonation war dann doch immerhin 100 Meter entfernt.“ Hiba erinnert sich vor allem an das Massaker von Qana, an die Raketen, die mit „Liebesbriefen“ beschriftet waren – „von den Kindern Israels für die Kinder des Libanon“. Am Tag nach dem Angriff sollte ein Fairuz-Konzert stattfinden, für das Mohammad bereits Karten hatte. Es musste abgesagt werden, wurde aber später nachgeholt.
Die Dahiyeh haben alle drei während des Krieges verlassen und in anderen Landesteilen Zuflucht gesucht. Abbass wollte eigentlich nur für einen Tag mit seiner Familie in die Bekaa-Ebene und konnte dann aufgrund der israelischen Drohnen nicht mehr zurück. „Die haben jede Bewegung überwacht; sie hätten auf uns geschossen.“ Die Zerstörung war massiv, sehr viel schlimmer, als er sich das vorgestellt hatte, erzählt Mohammad. Durch die Detonationen und die Druckwellen wurden viele Türen und Fenster zerstört. Hiba berichtet, dass die Hisbollah die Häuser bewacht und sie nach ihren Ausweisen gefragt hätte, als sie einmal während des Krieges in ihre alte Wohnung zurückwollte, um Plünderungen zu verhindern. Gerade in den letzten zehn Tagen verstärkte die israelische Armee die Bombardements – und zerstörte auch vollständig Abbass‘ Haus, das mal sieben Stockwerke hatte.
Auch Samira, die mittlerweile in Berlin lebt, musste ihre Wohnung in der Dahiyeh aufgrund der Bombardierungen verlassen. Sie versuchte mit den Leuten des Civil Society Movements (CSM), Medikamente in die Dahiyeh zu bringen: „Während wir die Taschen mit Medikamenten im Stadtteil Badaro packten, hörten wir vier oder fünf aufeinanderfolgende Bombeneinschläge in der Dahiyeh. Das Geräusch war so laut, dass wir dachten, die Erde bebt. An diesem Tag konnten wir die Medikamente nicht liefern, es war zu gefährlich.“ Samiras zweite starke Erinnerung ist eine Fernsehansprache Hassan Nasrallahs im Juli 2006, als er über einen Überraschungsangriff der Hisbollah auf ein israelisches Kriegsschiff sprach. „Ich bekam Gänsehaut. So sehr ich gegen diesen Krieg war, so sehr ich die Hisbollah ablehne: An diesem Tag dachte ich nicht an die getöteten israelischen Soldaten auf dem Schiff. Ich war einfach nur glücklich, dass uns jemand verteidigte. In diesem Fall schien mir die Gegengewalt der Hisbollah gerechtfertigt.“
Der Krieg vor dem Fernseher – und in der Luft
Auch Rola berichtet aus Saida von dem Klang der Luftangriffe und der Angst, die diese bei ihr ausgelöst hätte, die sie aber ihrer Kinder zuliebe nicht zeigen konnte. An dem Tag, an dem der Waffenstillstand ausgerufen wurde, flog sie aus ihrem gewählten Exil in den Vereinigten Arabischen Emiraten zurück, um dann ihren Vater in ihren Armen sterben zu sehen. Der Stress, den er während des Krieges erlebte, habe dazu beigetragen. Nach dem Krieg hat sie Lehrer_innen im öffentlichen Dienst psychosoziale Trainings gegeben und dabei viele erschütternde und dramatische Geschichten gehört. „Alles war ausgelöscht, Plätze, Straßen, sogar Parfum. Obwohl viele alles verloren hatten, ihre Familien, ihre Liebsten, sogar ihre Vergangenheit und ihre Erinnerungen, hatten sie Vertrauen. Das ist sehr erstaunlich für mich. Ihre Widerstandsfähigkeit war stärker als ihre Trauer; sie glauben an diesen Kampf und daran, dass sie in diesem Krieg erfolgreich waren.“
Mohamad lebte in Sour, auch Tyr genannt, und hatte den Südlibanon vor 2006 verlassen, um in Deutschland zu studieren. Er erinnert sich, wie schwierig es für ihn war, den Krieg vor dem Fernseher fernab von seiner Familie zu verfolgen. Die Bilder zerstörter Brücken und die zerbombte Dahiyeh blieben bei ihm haften. Doch auch sein neuer Wohnort: „Es war ein warmer Sommer in Berlin, zum letzten Mal fand die Love Parade in der Hauptstadt statt.“ Seine Mutter erzählte ihm, wie die Familie aus dem Süden gen Beirut flüchtete, im Minibus mit Höchstgeschwindigkeit über Schleichwege und behelfsmäßige Brücken, da die wichtigsten Verkehrsknotenpunkte schon zu Beginn des Krieges von der israelischen Luftwaffe bombardiert worden waren. Die Scheinheiligkeit der internationalen Gemeinschaft bleibt ihm bis heute in Erinnerung, die einerseits einen neuen Nahen Osten fördern wollte und zugleich Kriegsverbrechen einer verbündeten Partei, Israel, rechtfertigte.
Timmy lebte 2006 auf einem Schulcampus in einem christlich-drusischen Dorf der Bekaa-Ebene. Kein direktes Kampfgebiet, aber doch so nahe an Hisbollah-Operationsgebieten gelegen, dass er täglich Luftangriffe hören konnte. In der Schule wurden Hunderte, größtenteils schiitische, Geflüchtete aus dem Süden aufgenommen. Ein vom Roten Kreuz begleiteter Flüchtlingskonvoi wurde am 11. August 2006 von der israelischen Luftwaffe attackiert, drei Kilometer, nachdem er seine Schule passiert hatte. Mindestens fünf Personen wurden getötet. Das Gefühl der Ohnmacht bestimmt Timmys Erinnerungen: „Sowohl wir Dorfbewohner als auch die Geflüchteten hatten ständig das Gefühl, dass unser Schicksal in der Hand der Präsidenten ferner Länder war. Wann immer der Präsident der USA, Frankreichs oder Irans im Fernsehen auftraten, hingen wir an ihren Lippen. Wir fühlten uns so abhängig. Das Gefühl, dass diese Großmächte scheinbar diktieren konnten, ob der Krieg weiterging oder nicht, war beunruhigend.“
Trotz der Zerstörung sei die Stimmung gut und ausgelassen gewesen, als nach einer Resolution der Vereinten Nationen am 14. August ein Waffenstillstand ausgerufen wurde. „Der Widerstand“, so die weit verbreitete Bezeichnung des bewaffneten Arms der Hisbollah im Libanon, „hat sofort begonnen, sich um die Menschen zu kümmern, die ihre Häuser verloren haben. Sie haben Informationen eingeholt und sehr schnell Geld ausbezahlt, lange, bevor die Regierung das getan hat“, erzählt Abbass. „Wir haben auf der Straße gefeiert. Manche sagen, der Preis war zu hoch, zu viele Tote, zu viel Zerstörung. Israels Ziel war, den Widerstand zu zerstören und ihre Soldaten zu befreien und sie haben beides nicht geschafft. Dem Widerstand ging es darum, uns zu verteidigen, und das hat er erreicht, deswegen hat er gewonnen. 2008 wurde dann der Gefangene Samir Kuntar nach 30 Jahren ausgetauscht. Es ging ja um ihn – und um ein paar andere.“
Der Krieg als Zerreißprobe für die libanesische Gesellschaft – und die Region
Samira zog zu einer Tante in den christlichen Ostteil der Stadt. Dort wurden die Geflüchteten nicht von allen mit offenen Armen empfangen: „Für mich war es eine aufschlussreiche Erfahrung, in Ostbeirut verstörende Stimmen zu hören. ‚Sollen die Israelis die Schiiten doch bombardieren‘, forderten radikale Gruppen. Das zeigte mir, dass der sektiererische Geist des Bürgerkriegs immer noch präsent war.“
Abbas, Mohammad und Hiba sind starke Verfechter_innen des Widerstands – und betrachten gleichzeitig den politischen Arm der Hisbollah skeptisch. Die Partei könne das Land nicht verbessern, auch wenn sie das gerne würde. Sie käme nicht gegen die Korruption und die politische Blockade im Zedernstaat an. Mohammad ergänzt, dass das Land nach wie vor geteilt sei und die Hisbollah ihren Teil hierzu beitrage. Deshalb haben sie bei den Stadtratswahlen, die im Mai stattfanden, nicht für die Kandidat_innen der Hisbollah gestimmt – oder gar nicht abgestimmt. „Sie haben ihre eigenen Regeln und Regularien, mit denen ich nicht vollständig übereinstimme,“ sagt Hiba.
Die Hisbollah hat sich selbst zur Siegerin des Krieges erklärt. „Das hat ihre Inszenierung und ihr Verhältnis zu anderen Parteien stark beeinflusst“, ist sich Rola sicher. Sie fürchtet jedoch nicht nur deren vermeintliche Stärke oder ihre Widersacher in der israelischen Regierung, sondern generell alle Parteien und Gruppen in der Region, die zuschlagen können.
Timmy zögert zunächst etwas, um dem Krieg letztlich eine starke regionale Bedeutung bis hin zum gegenwärtigen Krieg in Syrien zuzusprechen. „Dass die USA darauf bestehen, dass al-Assad zurücktreten muss, soll die Schwächung der Hisbollah bewirken. Ob wir es direkt oder indirekt beweisen können, aber die derzeitige Situation in Syrien ist eine Konsequenz des Krieges von 2006.“ Daraus schlussfolgert er, dass die Weltmächte unzuverlässig sind, wenn es um Krieg und Frieden im Libanon geht, dass Milizen entwaffnet und eine vertrauenswürdige Regierung ein starkes Militär befehligen sollten.
Wann kracht es wieder?
Samira, Mohamad und Timmy sind sich sicher, dass es wieder und wieder zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hisbollah kommen wird. Timmy führt dies vor allem auf die militärische Stärke der Gegner zurück, die zu ihrer immensen Uneinigkeit hinzukäme. Samira: „Ich weiß, dass wieder etwas passieren wird. Das ist nur eine Frage der Zeit. Du kannst einen Krieg nicht beenden, wenn die Beteiligten dazu nicht bereit sind. Ich hoffe, dass die zivilen Opfer gering sein werden. Wenn israelische Soldaten oder Hisbollah-Krieger ihr Leben verlieren, dann kümmert mich das nicht so sehr. Schließlich ist es deren Entscheidung, in den Krieg zu ziehen.“
„Wir wollen keinen Krieg; wir wollten auch diesen Krieg nicht, aber wir haben auch keine Angst davor.” Abbas, Hiba und Mohammad glauben, dass die Hisbollah der einzige Weg zur Freiheit und zu ihrem Schutz ist – „solange die Armee so schwach ist und so wenige Waffen hat.“ Sie bekräftigen das alte Hisbollah-Mantra, dass jeder „Widerstandskämpfer“ gerne zu seiner Familie zurückkehren würde, wenn die libanesische Armee den Schutz des Landes gewährleisten könnte, sei es gegenüber Israel oder gegenüber der Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien. „Vor 2006 waren nicht alle Schiit_innen pro-Hisbollah, aber nach dem Krieg bekam sie viel mehr Zulauf und Unterstützung. Sie wirkte als Beschützerin“, erklärt Hiba.
Der Krieg habe die Spaltung im Libanon verstärkt und verdeutliche umso mehr die Bedeutung seiner Einheit. Die sieht Mohamad aber nicht gegeben, da das Land sehr schwach und sehr abhängig von anderen Ländern sei. Die Zukunft, sagt auch er, hänge von der Entwicklung in Syrien ab. Sollte sich die Situation irgendwann stabilisieren, so fügt er bitter an, könnte Israel die Hisbollah bei Gelegenheit wieder zerstören wollen.