Angesichts des Klimawandels empfinden immer mehr Menschen „Flugscham“. So auch unsere Autorin. Zum Auslandssemester nach Tunesien nutzt sie deshalb eine Fähre. Und sieht sich auf dem Mittelmeer mit ihren eigenen Privilegien konfrontiert.
Seit einem Jahr träume ich von Wasser. Häufig werde ich unter Wasser gezogen, während ich schwimme oder in einem Boot sitze, das droht unterzugehen. Dann wache ich auf. Es bleibt ein unangenehmes Gefühl und der Widerspruch, dass ich Wasser eigentlich mag und schon als Kind viel schwimmen und segeln war. Kann ich mich dem Traum stellen, indem ich mich direkt damit konfrontiere, überlege ich?
Als ich im Sommer die Zusage bekomme, für drei Monate nach Tunesien zu gehen, bietet sich dazu die Gelegenheit. Denn ich überlege, wie ich es vermeiden könnte, hinzufliegen. Die Klimadebatte brachte den Begriff der „Flugscham“ hervor, was dem schlechten Gewissen, das ich bei Flugreisen seit Längerem hatte, endlich einen Namen gibt. Ich sehe mich nach Alternativen um, entdecke eine Autofähre, die zwischen Rom und Tunis verkehrt, und buche kurzerhand ein Bett in einer Damenkabine. Ein Bett in einer Außenkabine kostet 65 Euro, fünf Euro mehr als eine Innenkabine. Egal, fünf Euro, um das Gefühl der Klaustrophobie zu vermeiden. Dazu reserviere ich mir einen Platz im Nachtzug nach Rom und bin erschrocken, wie viel teurer es ist, aufs Fliegen zu verzichten.
Ciao, Italien
Am Morgen der Abfahrt bringen mich meine Eltern zum Bahnhof, von wo aus ich eine Zugverbindung zum römischen Hafen Civitavecchia nehme. Von dort geht es weiter mit der Fähre, die abends ausläuft. Meine Mutter findet meine Reise sehr aufregend und würde am liebsten mit mir mitfahren, aber ich fange vor Aufregung an zu weinen, im Hinterkopf die Angst, ins dunkle Wasser zu fallen.
Nachmittags erreiche ich dann den Hafen. Nach dem Check-In und einer kurzen Busfahrt, die mich in die Nähe des Kais bringt, sehe ich zum ersten Mal die Fähre. Es ist ein großer, eckiger Klotz, der in der Abendsonne am Kai neben Kreuzfahrt- und Containerschiffen liegt. Eine Passkontrolle liegt noch vor mir, dann laufe ich schon die riesige Rampe hoch. Es ist laut im Bauch der Fähre, wo die ersten vollgepackten Autos einparken und LKWs manövrieren. Der Dieselgeruch erinnert mich an Fährfahrten meiner Kindheit, die den Urlaub nach Skandinavien einläuteten. Das Rufen der Ordner*innen begleitet mich bis zum Treppenhaus und wird erst leiser, als ich die schmalen Treppen zum Aufenthaltsbereich erklimme, mit meinem großen Rucksack auf dem Rücken. Ich suche meine Kabine und laufe durch die Gänge, die bereits von Leuten in Beschlag genommen werden, denn es gibt weniger Kabinenplätze als Passagier*innen.
Schnell sind die besten Ecken vergeben: Es werden Luftmatratzen aufgepumpt und Feldbetten ausgeklappt, auf denen die Leute sich für die Nacht einrichten. Der Fakt, dass nicht nur Schlauchboote, sondern auch Fähren überbelegt werden, lässt mich sarkastisch schmunzeln. Ich staune über die Souveränität der Passagier*innen, die anscheinend öfters die Fähre nehmen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich einrichten, steht im Kontrast zu meiner eigenen Unsicherheit, als ich nicht sofort meine Kabine finde. Es sind viele Leute an Bord, die ihre Familien in Tunesien besuchen, und mit vollbeladenen Autos die Überfahrt antreten. Die Kabine teile ich mir mit einer jungen Frau und ihrer Mutter, die in Italien leben und den Urlaub bei ihren tunesischen Verwandten verbringen.
Beim Auslaufen der Fähre sitze ich oben an Deck. Es ist bereits dunkel, als wir den Hafen hinter uns lassen. Unser Ziel: Nordafrika. Schnell gehe ich wieder unter Deck. Genug der Konfrontation der eigenen Ängste, denke ich und gucke mich weiter auf der Fähre um. Die Leute spielen auf den Gängen Karten und Kinder gucken im bordeigenen Kino Filme. Eine allgemeine Sicherheitseinweisung gibt es nicht und zurück in der Kabine vermute ich, dass die Schwimmwesten im Schrank neben der Tür aufbewahrt werden.
Der Tod im Wasser
Rettungswesten sind in Notfällen sehr wertvoll. Sie sind orange Hinweise auf Leben, wenn zum Beispiel ein Schlauchboot im Mittelmeer in Seenot gerät und schlimmstenfalls sinkt. Ich erinnere mich an einen Bericht von der Initiative Infomigrants.net, dass Flüchtende in Libyen keine Schwimmwesten für die Überfahrtbekommen, weil sie zu teuer sind und zu viel Platz auf einem Schlauchboot einnehmen, auf dem so viele Menschen wie möglich Platz finden müssen. Es ist auch nicht gewollt, sichtbar zu sein, damit die libysche Küstenwache die Boote nicht bemerkt.
Auf offener See ist das Meer unruhig. Die Wellen schaukeln die Fähre und ich vermeide bewusst den Gedanken daran, wie viele tausend Handbreit Wasser unterm Kiel sind und wie wenige Meter mich davon trennen. Ich mag mir nicht vorstellen, wie stark mir der Wellengang in einem Schlauchboot vorkommen würde, das dem Wasser kaum etwas entgegensetzen kann. Im unwahrscheinlichen Fall, dass wir in Seenot geraten, würde die Fähre evakuiert und alle Passagier*innen in Sicherheit gebracht werden. Dem würde keine Diskussion vorangehen, geschweige denn eine tagelange Debatte über die Rechtmäßigkeit von Seenotrettung. Bald schlafe ich ein und träume von nichts.
Am nächsten Vormittag sitze ich wieder an Deck und schaue auf das Wasser, das ein direkter Spiegel des klaren, blauen Himmels ist. Ich reise die Mittelmeerroute rückwärts, aber sehe keine Schlauchboote. Wie sollte ich sie auch sehen in dieser Weite, die mich umgibt. Fast bin ich erleichtert.
Es sind laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2.277 Menschen im Jahr 2018 bei der Überfahrt nach Europa im Mittelmeer gestorben oder als vermisst gemeldet worden. Mehrere NGOs berichten über die gefährlichste Fluchtroute der Welt. Regelmäßig erreichen sie Notrufe von Schlauchbooten in Seenot und nicht immer kommt Hilfe rechtzeitig. Das Mittelmeer ist längst ein Massengrab. Es zeigt sich, dass die Kriminalisierung von privater Seenotrettung nicht das Ankommen von Menschen verhindert und das Fehlen einer staatlich organisierten Seenotrettung nur zum Anstieg der verheerenden Opferzahlen führt, nicht aber zur Lösung eines Problems. Ich werde wütend über die Ungleichheit der Situation und meiner eigenen Machtlosigkeit. Ich kann nur profitieren, jedoch kaum etwas ändern.
Das Selbstbewusstsein im Gepäck
Bald zeichnen sich die ersten Umrisse der Küste Nordafrikas in der Ferne ab. Wir nähern uns dem Hafen von Tunis und nach 18 Stunden Überfahrt legt die Fähre an einem anderen Kontinent an. Mit mir von Bord geht ein Amerikaner, mit dem ich mich auf der Überfahrt unterhalten hatte. Er ist schätzungsweise Ende 40 und von Beruf Youtuber. Mit einer speckigen Baseballcap auf dem Kopf und zwei Koffern reist er um die Welt, um keine Steuern in den Staaten zahlen zu müssen, wie er sagt.
Wir suchen das Gebäude für die Einreise und kurz vor der Passkontrolle frage ich ihn, ob er das Papier für die Einreise ausgefüllt habe, das wir an Bord bekamen. Habe er nicht und wolle er nicht, er habe schließlich den amerikanischen Pass, sagt er. „Ich habe den Deutschen“, entgegne ich, „und muss es trotzdem ausfüllen“. Dabei denke ich mir, wie viel Selbstbewusstsein es manchen Leuten verleiht, eine bestimmte Staatsbürgerschaft zu haben, und wie wenig Respekt sie davor haben. Ich gehe als Erste von uns beiden durch die Passkontrolle. Danach erwartet mich noch eine kurze Kontrolle meines Gepäcks, ein Gang durch eine Schiebetür, die der Ankunft am Flughafen ähnelt. Dann bin ich auch schon eingereist.
Von einer Zukunft träumen
Viele wissen, wie gefährlich die Überfahrt ist, aber kaum jemand in Europa möchte sich ernstlich damit auseinandersetzen, wie man die menschliche Tragödie der vielen Toten verhindern kann. Die öffentliche Diskussion wird mit zu kurzen Argumenten oder fehlleitenden Begriffen geprägt (Stichwort „Taxiservice“ nach Europa). Stattdessen schließt die EU fadenscheinige Deals mit libyschen Autoritäten, die sich später als Milizen und Teil des Schmugglernetzwerks herausstellen.
Manchmal kommt es mir vor, als würde in der öffentlichen Diskussion vergessen, dass das Mittelmeer kein abstrakter Raum oder ein großer Teich ist, sondern ein Meer, das zwei Kontinente voneinander trennt. Eine Überfahrt von Rom nach Tunis dauert 18 Stunden auf einer großen Fähre, die auf offener See selbst bei Wellengang nur leicht bewegt wird. Auf der Fähre habe ich nichts zu befürchten, auch nicht vor dem Wasser, aber wie fühlt es sich an, dicht gedrängt in einem Schlauchboot zu sitzen, das tiefe Wasser überall um einen herum?
Meine Reise offenbart zwei Privilegien, die ich genieße. Das erste ist, dass ich die Überfahrt buchen konnte, die kombiniert mit einer Zugfahrt deutlich teurer war als ein Flug. Es ist das Privileg, in die deutsche Mittelschicht hineingeboren worden zu sein, die es sich leisten kann, für klimafreundliche Alternativen höhere Kosten hinzunehmen. Das zweite Privileg konfrontiert mich direkt mit dem Paradox, dass ich problemlos in die eine Richtung reisen kann, während viele Menschen auf dem Weg in die Andere ihr Leben riskieren. Mit dem deutschen Pass ist es mir möglich, in beide Richtungen zu reisen, ohne ernstlich den Tod im dunklen Wasser fürchten zu müssen. Selbst wenn ich träume, sterbe ich nicht. Am Ende wache ich immer auf und weiß, es war nur ein schlechter Traum.
Manchmal träume ich tagsüber von etwas, das für andere ein Albtraum wäre: wie eine Welt ohne Grenzen aussehen könnte. Es gäbe sichere Reisemöglichkeiten und die globalisierte Welt würde nicht nur Geld einen freien Fluss ermöglichen, sondern auch sichere Fluchtwege schaffen. Ich hoffe, ich bin nicht die Einzige, die diesen Traum hat.