Tanzen oder sterben – so lautet das Mantra des syrischen Balletttänzers Ahmed Joudeh. In der Dokumentation „Dance or Die“ porträtiert Regisseur Roozbeh Kaboly Ahmads Weg von Syrien ins niederländische Staatsballett.
Roozbeh Kabolys Dokumentarfilm „Dance or Die“ beginnt mit einer Aufnahme vom Nacken des Protagonisten Ahmad Joudeh. Dann ein Schnitt. Ahmad steht in seiner Heimatstadt im Süden Syriens und berichtet, wie IS- und Al-Qaida-Anhänger:innen ihm den Tod androhten, wenn er nicht aufhöre, den Kindern das Tanzen beizubringen. Doch er hört nicht auf, stattdessen lässt er sich auf Sanskrit die Worte „Tanzen oder Sterben“ in den Nacken tätowieren.
Den gesamten Film über gelingt es dem niederländische Regisseur Roozbeh Kaboly die Zuschauer direkt mit einzubeziehen, besonders in die Kindheitserinnerungen Ahmads. Beispielsweise berichtet Ahmad von gewalttätigen Übergriffen, die er durch seinen Vater erfahren hat, von der darauffolgenden Scheidung seiner Eltern und von den Schuldgefühlen, die ihn plagen. Das Publikum erfährt, dass sein Vater ihm schon im frühen Alter das Singen und Gitarre spielen beibrachte. Doch als Ahmad Tänzer im „Enana Dance Theatre“ in Damaskus wird, bricht ein Großteil seiner Familie mit ihm. Denn als Tänzer verkörpert er das Gegenteil der vorherrschenden traditionell-konservativen Vorstellung von Männlichkeit.
Auch in Amsterdam begleitet die Kamera feinfühlig Ahmads erste Schritte. Sie hält fest, wie er sein erstes Tanztraining im niederländischen Nationalballett absolviert, wie eine innige Freundschaft zwischen seinem Mitbewohner Daniel und ihm entsteht und wie Ahmad voll Sehnsucht mit seiner noch in Damaskus lebenden Mutter telefoniert. Regisseur Roozbeh Kaboly gibt den Kommentaren Ahmads dabei viel Raum. Ahmads Gedanken untermalen die Aufnahmen, die dessen vergangenes Leben in Damaskus und sein gegenwärtiges Leben in Amsterdam zeigen.
In den Niederlanden avanciert Ahmad zum Superstar des Balletts. Er wird zu Talkshows eingeladen, renommierte internationale Medien wie die New York Times berichten über ihn. Ahmad wird engagiert, um in Oslo und Paris aufzutreten. Doch der Film hält auch die Schattenseiten fest. Einmal als Ahmad mit seinen Freund:innen in Amsterdam ausgelassen feiern gehen möchte, wird er von Fremden euphorisch angesprochen und neugierig gefragt, wie es sei, aus einem Land zu kommen, wo Tanzen lebensgefährlich sein könne, während in Holland alles „so einfach“ und „locker“ sei. Die Szene macht deutlich, wie Ahmad als Projektionsfläche herhalten muss für die Erzählung eines vermeintlich fortschrittlichen weiß-europäischen Kollektivs, welches dem muslimisch gelesenen Mann nun endlich die Möglichkeit gibt, sein „wahres“ und „emanzipiertes“ Ich auszuleben.
Leistungsdruck und Schuldgefühle
Die Kehrseite seines Erfolgs und der medialen Aufmerksamkeit ist Ahmads Schweigen: Das Schweigen über seine posttraumatischen Belastungsstörungen, das Schweigen über das schmerzhafte Wiedererleben von Kriegserlebnissen.
In einem Café bestellt Ahmad sich mit seinen niederländischen Freund:innen einen Cappuccino. Während sie zusammensitzen, muss er daran denken, dass eine ganze Familie in Syrien so viel Geld für Essen benötigt wie ein Cappuccino in Amsterdam kostet. Diese Momente verdeutlichen den inneren Konflikt Ahmads. Im Gegensatz zu seinen in den Niederlanden aufgewachsenen Freund:innen ist Ahmad sich seiner eigenen Privilegien bewusst und leitet daraus ein Gefühl der Verantwortung ab.
Nach Jahren der Trennung begegnen sich Ahmad und sein Vater im Film zum ersten Mal wieder. Die beiden treffen sich in einer Geflüchteten-Unterkunft in Deutschland, wo der Vater lebt. Auch hier werden die politischen Dimensionen von Ahmads Geschichte unterschwellig sichtbar: Während Ahmad mithilfe des niederländischen Staatsballetts sein Visum ausgehändigt bekam, muss sein Vater – wie viele andere Geflüchtete – lange Zeit in einem asyl- oder aufenthaltsrechtlichen Verfahren zubringen – mit ungewissem Ausgang.
In Szenen wie dieser gelingt es dem Regisseur Roozbeh Kaboly ein sensibles Portrait Ahmads zu zeichnen, ohne ihn zu exotisieren und sein Leben als Balletttänzer zu romantisieren. Er gibt Ahmads Aussagen genug Raum, um dessen eigenes Leben und die Nuancen darin authentisch zur Geltung zu bringen. Als Zuschauer:in lernt man so einen jungen syrischen Mann kennen, der voller Mut und Leidenschaft seiner Liebe zum Tanzen nachgeht. In eindringlichen Bildern beobachtet man, wie sich Ahmad in aller Bescheidenheit und mit viel Ehrgeiz seiner künstlerischen Tätigkeit widmet und versucht, dem belastenden psychischen Druck und der Sehnsucht nach Familie und Freund:innen aus Syrien standzuhalten.
Wenig politisch
Die Stärke der Dokumentation ist zugleich ihre größte Schwäche: Da Ahmads Aussagen im Vordergrund stehen, zeigt Kaboly wenig Ansatzpunkte auf, Ahmads Biografie innerhalb eines größeren politischen Kontexts zu verstehen und vermeidet so eine herrschaftskritische Perspektive einzunehmen. Es bleibt offen, ob die Dokumentation ein europäisches Publikum auch zu einer kritischen Selbstreflexion über die Erzählung des „weißen Retters“ anregen soll. Der Film deutet zwar viele Problematiken an, im Detail wird aber keine von ihnen erzählt.
Auch wäre es interessant gewesen, näher zu beleuchten, dass ein niederländisches Staatsballett in der Lage ist, eine ausgewählte syrische Person aufgrund ihrer Leistungen als Tänzer Aufenthalt in Europa zu gewährleisten, während tausende Menschen keinen Zugang zum europäischem Asylsystem haben. Zudem bleibt der Regisseur schuldig zu erläutern, inwiefern das Leben Ahmad Joudehs kommerziell vermarktet wird und wer daran mitverdient.
Alles in allem schafft „Dance or Die“ die Persönlichkeit Ahmad Joudehs facettenreich zu illustrieren. Sie verfehlt jedoch ausreichend zu thematisieren, welche Rolle eine postkoloniale europäische Gesellschaft einnimmt, die sich nicht erst seit 2015 ihrer Verantwortung gegenüber geflüchteten Menschen aus WANA entzieht. Indem Kaboly diese kontroversen Themen lediglich oberflächlich anreißt, wird Ahmads Leben entpolitisiert.