Kontrollen, Belästigungen, Einschüchterungen, Zwangsräumungen, Vertreibungen, Zerstörungen von Unterkünften und Zwangsverlegungen. In Vorbereitung auf die Spiele rüstet sich Paris gegen marginalisierte Gruppen auf.
In wenigen Tagen beginnen die Olympischen Spiele in Paris. Fast 3000 Athlet:innen machen mit, es werden 15 Millionen Besuchende erwartet. Groß angekündigt wurden die diesjährigen Spiele als Olympiade der Partizipation und Teilhabe: Die Spiele sollten paritätisch sein, die Stadt wollte in Infrastruktur und soziale Programme investieren, Pariser:innen wie sportbegeisterte Gäste sollten einbezogen werden und die Veranstaltungen barrierefrei und für alle zugänglich sein. „Olympiade der Inklusion“ (JO de l’inclusion) – der Slogan ist in aller Munde.
Doch der Schein trügt. Denn nicht alle scheinen für die Stadt Paris und die Organisator:innen ins Bild einer Olympia-Stadt zu gehören. Das Kollektiv Le revers de la médaille (dt.: Die Kehrseite der Medaille) prangert seit Monaten die Verdrängung von Menschen aus dem öffentlichen Raum im Zuge der Olympischen Spiele an. Im Juni 2024 veröffentlichten das Kollektiv einen Bericht mit dem Titel „1 an de nettoyage social avant les JOP 2024“ (dt.: „Ein Jahr der sozialen Säuberung vor den Olympischen Spielen in Paris 2024“). Der Begriff der sozialen Säuberung deutet auf politische und polizeiliche Maßnahmen, die repressiv gegen bestimmte marginalisierte Gruppen der Gesellschaft vorgehen.
Im April 2023, so berichten sie, fand die erste massive Vertreibung statt, ganz in der Nähe des Olympischen Dorfes nahe Paris. Seitdem nehmen Kontrollen durch Polizei und Behörden zu, Nichtregierungsorganisationen melden eine starke Zunahme von Zwangsräumungen, Vertreibungen und Zwangsverlegungen von Menschen aus Bereichen nahe der Innenstadt und den geplanten Sportstätten. Unter den Vertriebenen: Obdachlose, Asylsuchende, Geflüchtete, Drogenkonsumierende, Sexarbeiter:innen. Dabei ist der öffentliche Raum genau für diese Personen ein Arbeitsort, eine Unterkunft und ein Lebensort zugleich.
Olympiade: Inklusion oder eher Exklusion?
Im Frühjahr letzten Jahres eröffnete der französische Staat zehn temporäre regionale Anlaufstellen für jene Menschen, verteilt in den anderen Regionen Frankreichs. Sogar in Toulouse, ganz im Südwesten. Offiziell sollen die sozialen Unterkünfte in Paris entlastet werden, praktisch werden dabei aber marginalisierte Personen weit weg von den Spielen gebracht, wie der Bericht von Le revers de la médaille ausführt. Die regionalen Anlaufstellen versprechen, laut internem Schreiben des Innenministeriums „eine systematische Prüfung der administrativen Situation der Personen und eine Weiterleitung in eine ihrer Situation angemessenen Unterkunft und/oder Verwaltungsmaßnahme, die mit ihrer Situation in Bezug auf Asyl, Aufenthalt und Abschiebung verbunden sind“. In den regionalen Anlaufstellen gibt es jeweils nur 50 Plätze, längst nicht genug für alle, die aus Paris vertrieben werden. Für Menschen ohne französischen Pass, die eingesammelt werden, gibt es zwei Optionen: entweder sie steigen ein in Richtung „unbekannt“ und werden in eines der regionalen Zentren gebracht oder sie bleiben in Paris, haben dort aber keine Chance auf einen Platz in einer Notunterkunft.
Die Kapazitäten der bereits bestehenden Notunterkünften waren noch nie ausreichend – weder in Paris noch in der Provinz. Der Bericht von Le revers de la médaille macht darauf aufmerksam, dass kurzfristige Unterkünfte, wie soziale Hotelzimmer, bereits nach drei Wochen wieder frei gemacht werden müssen. Auch in den regionalen Zentren können Menschen nur drei Wochen bleiben. Dann werden sie zu anderen Notschlafstätten geschickt, bevor die sie wieder auf der Straße landen – nur außerhalb von Paris.
Mögen die Spiele beginnen: Unter Kontrolle
Die Olympiade in Paris ist für Stadt und Staat dabei ein Anlass, um Verdrängung marginalisierter – „ungewollter“ – Menschen aus dem öffentlichen Raum und dem Stadtbild fortzutreiben. Polizeipräfektur der Region Île-de-France, das Pariser Rathaus und der französische Staat stehen hinter den Zwangsverlegungen und Vertreibungen, die durch die kommenden Spiele massiv beschleunigt wurden.
Der Staat zeigt Präsenz: Allein für die Olympiade wurden 30.000 zusätzliche Polizist:innen aus der Provinz nach Paris beordert und es werden um die 20.000 Soldat:innen während der Olympiade in Paris und Umgebung mobilisiert. Auch der Plan Zéro Délinquance (dt.: „Null Kriminalität“), der Ende 2022 spezifisch zur Vorbereitung für die Olympiade aufgestellt wurde, trifft marginalisierte Menschen besonders.
Die Bewegungsfreiheit marginalisierter Menschen wird durch andauernde Kontrollen und Patrouillen von Sicherheitskräften gefährdet, sowie ihr Zugang zu Tagesstätten und Notunterkünften, die sich oft in der Nähe größerer Bahnstationen befinden. Dazu wird Paris während der Olympiade in Zonen aufgeteilt, „um die Sicherheit und den Schutz von Einwohner:innen, Athlet:innen und Besucher:innen zu gewährleisten“, wie es auf der Webseite der Stadt Paris heißt. Der Zugang zu bestimmten Zonen, sogenannte Anti-Terror-Zonen, ist streng kontrolliert, es müssen QR-Codes vorgezeigt werden, und in einigen dieser Zonen ist unter anderem Schlange stehen verboten. Im Norden der Stadt wurde die Ausgabe von Lebensmitteln verboten was dazu geführt habe, dass mehrere Essensausgabestellen, drei Tagesstationen und ein Nacht-Auffanglager geschlossen worden seien.
Polizeigewalt und Racial Profiling sind in Frankreich alltäglich und treffen vor allem Schwarze Menschen und Menschen aus der WANA-Region sowie Demonstrant:innen. Und noch bevor die Olympiade anfängt, melden Nichtregierungsorganisationen bereits gewalttätige polizeiliche Eingriffe gegen marginalisierte Personen: Menschen berichten von Schlägen ins Gesicht, dem Zerstören und Verbrennen ihrer Schlafzelte, von rassistischen Beleidigungen, davon, mit Tränengas geweckt und mit Hunden verfolgt worden zu sein.
Verlierer der Spiele: Freiheitsrechte
Oktober 2023: Die größte Strafvollzugsanstalt in Europa, die sich am Rand von Paris befindet, bekommt 400 zusätzliche Plätze. Genau zum richtigen Zeitpunkt für die Olympiade, so der französische Justizminister Éric Dupont-Moretti. Es wird jetzt schon von Masseninhaftierungen und Überfüllung der Gefängnisse gesprochen. Auch wird erwartet, dass Menschen nach einem neuen Schnellverfahren direkt zu einer Haftstrafe verurteilt werden könnten.
Nicht nur Polizist:innen und Soldat:innen sollen die Durchführung der Olympiade gewährleisten. Frankreich nutze die Olympiade als Testphase und Vorwand zur massiven Überwachung durch Drohnen und algorithmische Videoüberwachung, kritisierte Amnesty International schon letztes Jahr. Dabei wird künstliche Intelligenz damit beauftragt, die eingehenden Bilder in Echtzeit zu analysieren und die Polizei sowie andere Sicherheitskräfte bei Situationen und Verhaltensmuster zu alarmieren, die von der KI als „von der Norm abweichend“ kategorisiert werden.
Es ist bekannt, dass die Lerndaten, die zum Training künstlicher Intelligenz genutzt werden meistens voreingenommene und diskriminierende Inhalte umfassen. Was gilt also als „normales“ Verhalten? Und wie kann sichergestellt werden, dass nicht allein aufgrund des Algorithmus marginalisierte Gruppen besonders ins Visier geraten? Darauf gibt es bislang keine Antworten – nur Warnungen und Aufrufe verschiedener NGOs. Diese befürchten außerdem, dass das Gesetz, welches algorithmische Videoüberwachung während Olympiade erlaubt, danach beibehalten wird. Die Nutzung bei den Spielen könnte auch ein Präzedenzfall für weitere größere Veranstaltungen werden – und das nicht nur in Frankreich.
Modus operandi: Nichts Neues
Massive Verdrängungen und Vertreibungen von Obdachlose, Asylsuchende, Geflüchtete, Drogenkonsumierende und Sexarbeiter:innen vor großen Events wie einer Olympiade sind nichts Neues. Ähnliches zeigten bereits Studien zu den Olympiaden in Beijing 2008, in Vancouver 2010, in London 2012 und in Rio de Janeiro 2016. Ebenso häuften sich die Berichte im Vorfeld der Fußball-EM, die vor kurzem in Deutschland stattfand. „Durch meist rechtswidrige Platzverweise werden Menschen aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Die extremste Form der Armut soll unsichtbar gemacht werden“, kritisiert die NGO Gesellschaft für Freiheitsrechte in Bezug auf die EM. Es ist der gleiche modus operandi: Repressionen gegen obdachlose Menschen und deren Verdrängung aus dem öffentlichen Raum. Das alles begründet durch Sicherheitsaspekte und eine potentielle Gefahrensituation.
Für die Olympischen Spiele werden Menschen aus dem öffentlichen Raum verdrängt, marginalisierte Gruppen aus dem Stadtbild – und der Stadt – entfernt und ihre Rechte systematisch missachtet. Die existenziellen Folgen für die Betroffenen, die aus ihrem Alltag und Lebensumfeld gerissen werden, bleiben unbeachtet – ebenso wie die dauerhaften und gefährlichen Grundrechtseinschnitte, die insbesondere weniger privilegierte und armutsbetroffene Menschen sowie Migrant:innen treffen. Paris, die Stadt der Lichter, soll strahlen. Doch zu welchem Preis?