Zwischen gefährdeten Arbeitsplätzen, Klimaschutz und verängstigten Tieren werden in Deutschland lebende, von Krieg traumatisierte Menschen im Diskurs um ein Böllerverbot kaum mitgedacht. Das muss sich ändern, findet Nawar Diab.
Feuerwerk an Silvester ist kein Ritual, das ich erst in Deutschland kennengelernt habe. Ich kann mich noch daran erinnern, als Kind mit meinen Geschwistern, Cousins und Cousinen jedes Jahr um kurz vor Mitternacht auf das Dach unseres Hauses in Damaskus gerannt zu sein, um uns von den unterschiedlichsten Farben und Formen am Himmel bezaubern zu lassen. Voller Freude kamen wir ins Wohnzimmer zurück und sagten zueinander: „Wie schön, dass wir so lange wach bleiben durften. Hoffentlich lassen uns unsere Eltern nächstes Jahr auch selber zündeln.“
Ich kann mich gleichzeitig genauso gut daran erinnern, als es anders wurde und ich mich vor jedem Knallgeräusch erschrecken und meine Hände über den Kopf reißen musste. Ein Taxifahrer meinte einmal nach einer Explosion und darauffolgenden Schüssen, deren Nähe ich nicht einschätzen konnte, zu mir: „Keine Sorge, mein Sohn, solange du die Geräusche hörst, bist du noch am Leben.“ Dieser Satz wurde zu meinem ersten Mantra bis ich mich entschloss, meine Heimat zu verlassen.
Zwischen Freude und Angst
Meine Ankunft in Deutschland bot mir die Möglichkeit, einen Alltag in meinem neuen kulturellen Umfeld aufzubauen und eine neue Zukunft für mich zu gestalten. Die Winterbräuche begeisterten mich, der Geruch der gebackenen Plätzchen, die Lichterketten an den Fenstern, der unerträglich süße Glühwein und die Tatsache, dass es überhaupt heißen Wein gibt. Menschen zündeten Kerzen an, backten Plätzchen, besorgten Weihnachtsgeschenke und die feierliche Stimmung war überall zu spüren. All das half mir dabei, kurz zu vergessen, was ich ein paar Monate zuvor hatte erleben müssen.
Dann kamen die ersten Weihnachtsferien, meine neuen Freund:innen fuhren zu ihren Eltern und die Stadt war auf einmal leer. In der Woche vor dem 31. Dezember saß ich alleine in meiner verlassenen WG und mit dem ersten Knallen des Feuerwerks fing ich an, den ganzen Abend ein neues Mantra zu wiederholen: „Du lebst jetzt in Deutschland, hier herrscht kein Krieg, das ist nur Feuerwerk.“
Doch auch die inzwischen vielen Jahre außerhalb Syriens genügen immer noch nicht, um mich von dieser Angst zu befreien und sorglos den Jahreswechsel genießen zu können. Jeden Dezember fange ich an, mich mental darauf vorzubereiten, dass an Silvester geböllert wird. Dabei ist die größte Herausforderung noch nicht einmal der 31. Dezember selbst, sondern die Wochen davor und danach, in denen ohne Ankündigung immer wieder geknallt und gezündelt wird. Da ich mich auf solche Situationen nicht vorbereiten kann, bleibt mir nichts anderes übrig als mein neues Mantra immer und immer wieder aufzusagen.
Schweigen zwischen den Böllern
Ich fragte unter meinen syrischen Freund:innen nach. Ich wollte wissen, ob sie ähnliche Gefühle haben oder ob ich der Einzige bin, der nach all den Jahren von den Erlebnissen seiner Vergangenheit nicht loslassen kann. Und es stellte sich heraus: ich bin nicht alleine. Manche suchen direkt eine sichere Stelle zum Verstecken, manche müssen in den lokalen Nachrichten checken, ob das wirklich nur Feuerwerk ist, manche sitzen im Zimmer alleine und wünschen sich, dass die Nächte schnell vorbeigehen, an denen geböllert wird, andere tun alles drei.
Vor allen Dingen tun wir aber eins – wir reden nicht darüber, weder unter uns Betroffenen noch mit anderen. Dabei ist unser Schweigen untereinander sicherlich Ausdruck des Vergessen Wollens. Die Vergangenheit wurde aber weder vergessen noch verarbeitet, auch wenn wir jetzt in Sicherheit sind. Und von Außen gefragt werden wir auch nicht. Kriegstraumata und Trigger im Alltag sind trotz der immer wieder aufflammenden Debatte um ein Böllerverbot keine präsente und ernstgenommene Sorge in diesem Diskurs.
Dort finden sich zunächst einmal Stimmen, die die Freiheit, gefährdete Arbeitsplätze in der Branche oder die leuchtenden Kinderaugen als Rechtfertigungen gegen ein Böllerverbot verteidigen. Auf der anderen Seite gibt es viele, die sich wegen des Klimaschutzes, des Schutzes verängstigter Tiere, des vielen Geldes und der durch Böller und Raketen verletzten Menschen dafür aussprechen. Aber wo tauchen die 1,7 Millionen Geflüchteten auf, die seit 1990 in Deutschland leben? Deren Mehrheit aus Kriegsgebieten stammt und die andere Bilder und Gefühle mit den Knallgeräuschen der Pyrotechnik verbinden. Mit ein paar Ausnahmen 2015 aus Sorge um die Geflüchteten Syriens, Iraks und Afghanistans und einem weiteren Artikel im Mai diesen Jahres aufgrund der Geflüchteten aus der Ukraine werden ihre Erlebnisse ganz und gar im Diskurs übertönt.
Keine Verbotsdebatte
Ich möchte hier niemandem etwas verbieten, auch kein Mitleid erregen, vielleicht Mitgefühl. Vor allen Dingen erwarte ich, ernst genommen zu werden. Es kann nicht immer nur darum gehen, wie Geflüchtete besser in Ausbildung und Arbeitsmarkt integriert werden können, solange sie gleichzeitig bei allen anderen Debatten komplett unter dem Radar laufen. Dabei bedeutet „Integration“ laut Duden: „Eingliederung in ein größeres Ganzes oder Verbindung einer Vielheit von einzelnen Personen oder Gruppen zu einer gesellschaftlichen Einheit“.
Aber werden unsere Bedürfnisse, Sorgen und Herausforderungen tatsächlich anerkannt und miteinbezogen? Während es zum Ende des Jahres um mich herum knallt, fühlt es sich sicher nicht danach an. Dabei ist die viel beschworene „gesellschaftliche Einheit“ nicht zu erreichen, wenn es kein einheitliches Interesse an unterschiedlichen Erfahrungen und Bedürfnissen gibt. Es darf nicht immer nur um die Messbarkeit von Integrationserfolgen gehen, ohne mitzudenken, wie auch wir nach Feierabend mit Freude und ohne Retraumatisierung ins neue Jahr kommen können.
Ich weiß nicht, ob es von uns schon Menschen gibt, die Frieden mit ihren grausamen Erfahrungen gefunden haben, sodass die Knallgeräusche bei ihnen nicht mehr so viel Angst auslösen. Tatsächlich aber leben zahlreiche von uns hier, die damit kämpfen, solche Erinnerungen und Emotionen zu unterdrücken, die sich entfremdet fühlen, die vielleicht denken, sie seien die Einzigen. Für all jene versuche ich, meine Stimme zu erheben – eine Gruppe, die seit dem Krieg gegen die Ukraine nun wieder schneller wächst. Euch möchte ich erzählen, ihr seid nicht allein. Und falls die kommenden Tage wieder schwierig werden: „Wir leben jetzt in Deutschland, hier herrscht kein Krieg, das ist nur Feuerwerk.”.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.