21.06.2020
Musik: die zweite Stimme des Volkes?
Ultras das Kairoer Fußballclubs Al-Ahly Foto: Wiki Commons
Ultras das Kairoer Fußballclubs Al-Ahly Foto: Wiki Commons

Vom Unabhängigkeitskampf bis ins Fußballstadion: Protestlieder spielen in der Revolutionsgeschichte der Länder Westasiens und Nordafrikas immer wieder eine wichtige Rolle. Analyse einer Musiktradition, die droht, vergessen zu werden.

Politische Haltung als Musikstil       

Im modernen Geschichtsgedächtnis kommen arabische Songs und das Politische seit der ägyptischen Revolution 1919 zusammen. Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren eine Zeit der intensiven kulturellen Kreativität, vor allem in Ägypten charakterisiert durch die Entwicklung des Theaters. Ein bekanntes Beispiel ist das anti-koloniale Lied „Biladi Biladi“ („Oh mein Land“) von Sayed Darwisch. Es ist ein Lied gegen die britische Präsenz, das später die Hymne Ägyptens wurde und den Künstler zu einem der ersten regionalen Musikstars machte.

Ähnlich wie Darwisch haben auch andere Künstler ihre politische Position in Liedern ausgedrückt. In Algerien zum Beispiel reagierten während der Revolution 1954-1962 mehrere Chaabi-Sänger*innen [traditionelle algerische Musik, Anm. d. Red.] auf den Streikaufruf der „Nationalen Befreiungsfront“. Die Chaabi-Ikone Cheikh al-Anka beispielsweise verzichtete bis zur Unabhängigkeitserklärung auf Auftritte. Er tauchte pünktlich zum algerischen Sieg am 5. Juli 1962 um Mitternacht im Radio auf, um den Titel „Gott sei Dank, der Kolonialismus ist nicht mehr in unserem Land“ zu singen.

Parallel dazu entstanden in allen kolonialisierten Ländern viele Revolutionslieder aus der ländlichen Bevölkerung und der Arbeiter*innenklasse, die oft von Frauen, aber auch von Männern gesungen wurden. Einige Songs, wie „Min djibalina“ („Von unseren Bergen“) erreichten ein nationales Prestige. Bekannt wurde dieser Song unter anderem dadurch, dass er am 8. Mai 1945 in Algerien zu einem der größten Massaker durch die französischen Armee führte. Algerisch-muslimische Pfadfinder*innen hatten ihn während einer Demonstration gesungen, gemeinsam mit hunderten ihrer Mitstreiter*innen. Insgesamt verband die nationalistischen und anti-kolonialistischen Songs eher eine politische Positionierung als ein musikalischer Stil.

Nach der Unabhängigkeit: Musik für die jungen Nationen

Das musikalische Revolutionsvermächtnis wurde bald darauf von der neu entstandenen postkolonialen Elite genutzt. Der „politische Song“ wurde zur Werbung für politische Projekte der jungen, unabhängigen Staaten. Auch wenn sie ihre Karriere in König Faruks Ägypten begannen, sangen beispielsweise Umm Kulthum und Mohammad Abd al-Wahab in den 1950er und 1960er Jahren vom Traum der arabischen Nation als politischem Projekt. In anderen Nationen, die den panarabischen Nationalismus nicht übernommen hatten, sangen die Künstler*innen Lieder über den Ruhm der Nation und über anti-imperialistische Ideen.

Die 1960er und 1970er waren wiederum ein Wendepunkt hinsichtlich der politischen Bedeutung von Protestsongs, die trotz der Einverleibungs- und Unterdrückungsversuche seitens der Politik große Aufmerksamkeit erlangten. In dieser Zeit nahm die Infragestellung der autoritären Regime zu, befeuert von Debatten über soziale Missstände und den Betrug durch die Eliten.

Musikalischer Widerstand gegen politische Missstände

Ein zentraler Punkt in der Entwicklung der Protestmusik war der Sechs-Tage-Krieg, in dem die israelische Armee im Juni 1967 in die Sinai-Halbinsel, den Gazastreifen, das Westjordanland und die Golanhöhen einfiel. Die Niederlage wurde von politischen Gegner*innen heftig kritisiert: Politisch engagierte Künstler*innen, die mit Klageliedern nicht mehr zufrieden waren, prangerten das mangelnde Verantwortungsbewusstsein der arabischen Länder an und forderten Widerstand. Palästina erschien in der Musik als neues Sinnbild für Kämpfe und Proteste. Eine Figur verkörperte diese Musik: Sheikh Imam, ein ägyptischer Sänger, formte gemeinsam mit seinem Freund, dem ägyptischen Dichter und Experten für Poesie, Ahmed Fuad Negm, das Genre des Protestsongs.

Die beiden, aus armen Verhältnissen stammenden Musiker lehnten den „Würgegriff“ des ägyptischen Regimes ab und machten ein neues Genre populär. Es entsprach nicht dem Tarab-Kanon, einem zu dieser Zeit dominanten klassischen Musikgenre. Der linken politischen Sphäre nahe stehend, sang Sheikh Imam in seinem bekannten Lied „Guevara ist tot!“ (1967) über die Revolution. Er forderte das Regime zudem heraus, in dem er über die Leiden des palästinensischen Volkes und das Elend des Proletariats in Ägypten sang.

Trotz Zensur wurde die Verbreitung seiner Lieder durch linke Oppositionsparteien, insbesondere die ägyptische kommunistische Partei, ermöglicht. Kleine Kassetten zirkulierten versteckt und wurden dann in allen Universitäten abgespielt, bevor sie bei Protesten gesungen wurden. Nachdem Nasser erfolglos versucht hatte, die populären Musiker auf seine Seite zu ziehen, sperrte er sie ein. Ihre Haft dauerte von Mai 1969 bis Oktober 1971 und auch unter Anwar al-Sadat (1970-1981) musste das Duo noch einmal ins Gefängnis. Auch wenn Sheikh Imam das Aushängeschild dieser Bewegung war, führten gleichzeitig weit verbreitete Ernüchterung und soziale Ungerechtigkeit dazu, dass vielerorts neue Künstler*innen des Genres auftauchten.

Historische Bezüge als Inspirationsquelle für neue Lieder

Ein Beispiel war Debza, eine engagierte marxistisch-leninistische Theatertruppe, die 1979 von einer Gruppe Student*innen aus Algier gegründet wurde. Die Truppe entstand aus der von der Dramatikerin Kateb Yacine gegründeten Cultural Action Worker Association. Die Debza-Truppe hinterließ ungefähr 50 Songs in algerischem Arabisch und Kabyle. Die Künstler*innen forderten die kulturelle Anerkennung dieser unterdrückten Sprachen.

In Marokko entstanden während der Regierungszeit von Hassan II und innerhalb des Zeitraums, der heute als „Lead-Jahre" (eine Zeit der staatlichen Gewalt und Unterdrückung von Regimekritikern und Demokraten) bekannt ist, zwei große Bands: Nass El Ghiwane und Jil Jilala. Sie wurden zum Symbol des Protests und ein politisches Gegengewicht zum Königshaus. Ihre Musik und Texte entstammen einem Repertoire mittelalterlicher Proteste und Wehklagen. Sie kehrten zur Tradition der Majadibs zurück (erleuchtete Mystiker aus der marokkanischen Sufi-Tradition des 15. Jahrhunderts). Diese Majadibs durchquerten das Land, manchmal hielten sie der Menge eine Strafpredigt, manchmal beklagten sie das Schicksal der muslimischen Staaten nach dem Fall Granadas im Jahr 1492. Ihre Texte etablierten sich als Protesttradition und wurden über Jahrhunderte neu interpretiert. Als Jil Jilala und Nass el Ghiwane in den Jahren der politischen und sozialen Not in Marokko diese Texte neu interpretierten, wurden sie sowohl von Studierenden, als auch von Teilen der marxistischen Linken übernommen - trotz ihres teilweise religiösen Inhalts.

In Westasien galt der Libanese Marcel Khalifa als neue Säule des Protestliedes, der der palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) nahesteht. Er vertonte die Poesie von Mahmoud Darwish, der über die Befreiung Palästinas, die politische Unterdrückung, den Mangel an Freiheit und die fehlende Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen schrieb. Als Khalifas Nachfolger gelten der Syrer Sami Shokair von den Golanhöhen und der Libanese Ahmed Qabbur.

Rolle des Fernsehens

Die allmähliche Abschwächung der linken Bewegungen und das Ende des Kalten Krieges wirkten sich auf das Medium der Verbreitung von Protestmusik aus. Bereits Ende der 1970er Jahre begannen die Saudis in die audiovisuelle Industrie und insbesondere in das Satellitenfernsehen zu investieren, oft durch Geschäftsbeziehungen zur königlichen Familie.

So auch Walid Ibrahim. Ibrahim gründete 1991 das Middle East Broadcasting Center (MBC), die erste panarabische Kette. 2003 wurde der Mogul der arabischen Medienwelt,  Prinz al-Walid Ibn Talal,  Mehrheitsaktionär der „Lebanese Broadcasting Corporation International“ (LBCI) und Besitzer von Rotana, das 1987 gegründet wurde. Dadurch vereinte der Prinz Unterhaltungsfernsehkanäle mit Videoclips im amerikanischen Stil, Radiosender, eine Performance-Firma und eine Plattenfirma unter einem Dach. Das Unternehmen strahlte, mit wenigen Ausnahmen, Lieder aller Stars der arabischen Musikwelt aus.

Die Golfstaaten beeinflussten den Medienkonsum in den arabischen Ländern, indem sie zum massiven Aufstieg der Popkultur im US-Amerikanischen Stil beitrugen und traditionellere Stile im selben Zug verdrängten. Die Folge war eine massive Zensur des politischen Diskurses und ein religiöser Konservatismus, den der ägyptische Regisseur Youssef Chahine in seinem Film „Für immer Alexandria“ (1991) anprangerte. Er erzählte, ebenso wie der algerische Regisseur Farouk Beloufa in „Nahla“ (1979), Geschichten über den Einfluss des Golfgeldes in der arabischen TV-Landschaft.

Das Fußballstadion als Bühne

Diese Entwicklung fällt mit der Organisation von Ultra-Fußball-Bewegungen in den Ländern Nordafrikas, insbesondere in Ägypten, Algerien, Tunesien und Marokko zusammen. In diesen Ländern gibt es die renommierten kontinental-internationalen Vereine al-Ahly (Kairo), Esperance Sportive de Tunis und Raja Casablanca. Die Ultra-Bewegung erlebte mit der Entwicklung des Internets einen neuen Boom und das in einem Ausmaß, welches die Behörden beunruhigte. Tatsächlich konnten sie sich durch einfache Online-Aufrufe zu Tausenden versammeln und verfügten über autonome Budgets, mit denen sie Choreografien finanzieren konnten. Die meisten Fans waren sich bewusst, dass sie als Gefahr wahrgenommen wurden, lehnten jeden Kontakt mit der Presse ab, verwendeten Aliase und entwickelten eine Kultur der Geheimhaltung.

Auch wenn die Ultra-Bewegung Anhänger*innen in allen sozialen Schichten und mit einem Spektrum politischer Meinungen hatte, kamen viele von ihnen aus der Arbeiter*innenklasse und wurden regelmäßig mit Polizeibrutalität konfrontiert. Die soziale Frage spielte eine dominante Rolle in den Liedern der Ultras. Manche bezogen sich auf systemische und globale Behauptungen und richteten sich gegen Regime. Andere sprachen spezifischere Themen an, wie (oft missbräuchliche) Stadionverbote oder die Inhaftierung einiger Ultras. 

Hymnen des Arabischen Frühlings

Seit 2011 unterstützen die Ultras alle Revolten der arabischen Länder, bringen ihr Fachwissen in Bezug auf Mobilisierung und Sicherheit ein und beeinflussen die Gesänge der Proteste. So gehörten die Ultras der beiden größten Clubs in Ägypten, al-Ahly und al-Zamalek, zu den Initiatoren der Bewegung gegen Hosni Mubarak in Ägypten. Ihre Lieder wurden auf dem Tahrir-Platz von den Massen aufgenommen, wo die Ultras halfen, den Platz vor der Polizei zu schützen.
Auch der algerische Hirak (Protestbewegung) hat eine Hymne und auch sie ist das Werk der Ultras, hier der Union Sportive de la Medina d'Alger (USMA, ein Fußballverein mit Sitz in Algier). Mit dem Song
„La Casa del Mouradia“ von Ouled el Bahja, einer Ultra-Gruppe, die für das Komponieren von Liedern verantwortlich ist, wurde 2019 der Rücktritt von Präsident Abdelaziz Bouteflika gefordert.

Der Fußball entwickelt sich zum neuen Kanal für die Verbreitung von Protestsongs, der die Zensur der Herrschenden umgeht. Zu Beginn eines jeden Spiels ist die Dakhla (Eröffnung) der entscheidende Moment für die Erneuerung und Erweiterung des Repertoires: Während dieser 10 bis 15 Minuten wird das Tifo (ein gigantisches Banner) präsentiert, die Choreografien und neue Songs aufgeführt. Die Dakhla dreht sich um wichtige politische Themen und um alte populäre Protestmusik.

„Die Ungerechtigkeit in meinem Land“

Eine ganze Generation junger Menschen in ganz Nordafrika und Westasien sang „Dalmouni fi Bladi“ („Die Ungerechtigkeit in meinem Land“) vom Raja Athletics Club, Casablanca. Das Lied entstand während des Hirak al-Chaabi, einer der größten Protestbewegungen seit 2011, in der marokkanischen Rif-Region: „Talente wurden zerstört! Zerstört durch die Drogen, die du ihnen gibst. Wie sollen sie glänzen? Du hast den Reichtum unseres Landes gestohlen, ihn mit Fremden geteilt, du hast eine ganze Generation zerstört...“.

Während Protestlieder in mehreren Genres verwurzelt sind, sind sie durch dem Wunsch nach sozialem und politischem Wandel verbunden und von Lyrik geprägt. Darüber hinaus zeichnen sie sich durch eine politische Haltung aus, eine aktivistische Verpflichtung, die über die Benennung sozialer Ungerechtigkeiten hinausgeht.

Trotz der sozialen und künstlerischen Vitalität und der langen Geschichte, wird das Protestlied jetzt an den Rand gedrängt. Dies ist die Konsequenz einer Musikindustrie, die einem starken politischen Druck ausgesetzt ist und deswegen Unterhaltung bevorzugt. Das Protestlied wird weiter aus dem traditionell künstlerischen Bereich verdrängt, sodass es seinen Platz in der Popmusik heute nur noch durch seine Popularität unter den Fußballfans halten kann.

 

Dieser Text von Hajer Ben Boubaker  erschien im Original unter dem Titel  „Against Oblivion: Documenting Protest Music Traditions in the Middle East and North Africa” in The Funambulist” Nr. 25 Self-Defense (September-Oktober 2019) und wurde von dis:orient übersetzt.

Hajer Ben Boubaker studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Gender Studies an der Sorbonne Universität und der EHESS in Paris und arbeitet nun von dort aus als Wissenschaftlerin. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit Migration von Frauen in der Türkei, UNHCR-Strategien zu Geflüchteten sowie kolonialen Strukturen in...
Redigiert von Clara Taxis, Johanna Luther
Übersetzt von Zeinab Herz