In Kairo reißt die Stadtverwaltung eine Mauer ein. Dahinter steckt mehr als eine bauliche Maßnahme: Die Mauer und ihre Graffiti sind Teil der Erinnerung an die Revolution. Der Kampf um die symbolische und politische Deutungshoheit in der Stadt ist in vollem Gange. Von Patrick Stegeman
Man kann den Fall auch pragmatisch sehen, wie der junge ägyptische Twitter-Nutzer Ahmed: „Die Erinnerung an die Revolution ist in unseren Herzen, nicht auf Wänden“, schreibt er am 17. September.
@Zeinobia @MohamedEisH the memories of the Revolution in our hearts not on walls.
— عَابِدْ (@Ahmed_Abed0) 17. September 2015
Ganz so entspannt sehen es die meisten Künstler_innen und Aktivist_innen in Kairo allerdings nicht: Vor etwa einem Monat begannen Arbeiter im Auftrag der Stadtverwaltung eine Mauer in der Mohammed-Mahmoud-Straße in Downtown einzureißen. Ein politischer Affront: Das Militärregime des Präsidenten Sisi tilgt die Spuren der Revolution aus der Stadt, so sehen das hier viele. Teil eines Renovierungsprogramms für das Areal rund um den Tahrir-Platz sei das, sagen Stadt und Regierung.
Der Glanz der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, als große Teile der Innenstadt nach französischem Vorbild erbaut wurden, solle wieder erleuchten. Die Straßen werden geordnet, die grauen, von Smog und Wüstenstaub deutlich gezeichneten Fassaden in Buttergelb getüncht. Der Tahrir-Platz, Herz der Stadt, aber vor allem Zentrum der ägyptischen Revolution, wird seither schrittweise umgestaltet.
Es gibt hier jetzt eine Tiefgarage, die U-Bahn fährt seit dem Sommer auch wieder die zentrale Haltestelle Sadat am Tahrir-Platz an. Die meisten Eingänge und Tunnel des U-Bahnhofes bleiben jedoch geschlossen. Sie dienten den Demonstranten häufig als Rückzugsort vor den Gewaltexzessen des Staatsapparats. Über dem Tahir-Platz weht mittlerweile eine übergroße ägyptische Flagge an einem 20 Meter hohen Fahnenmast - als „Appel an den Nationalstolz“, wie Präsident Sisi das nennt.
Ein von jungen Tahrir-Besetzer_innen errichtetes Denkmal für die in den Revolutionstagen ums Leben gekommenen Demonstranten musste dafür weichen. Von den wilden Tagen am Tahrir bleibt derzeit nicht viel: Die Regierung fürchte jede Art von ungeordneter Aktion und Eigeninitiative, sie will „Ordnung“ ins Chaos bringen. Das politische Herz der Stadt soll zum Open-Air-Museum werden, hatte Kairos Gouverneur Galal al-Saïd daher verkündet.
Die brutale Realität des Regimes ist dennoch weithin sichtbar: In jeder Nebenstraße des Tahrir stehen Stacheldrahtbarrieren, Polizei und Panzer, der Platz kann innerhalb von Minuten abgesperrt werden. Alles unter Kontrolle, so die Botschaft des Regimes.
Bringing down the famous Mohamed Mahmoud #graffiti wall 😥😥 #Egypt #Egypt #Blogger #Tahrir #jan25 pic.twitter.com/m9jyUMvE47
— Zeinobia (@Zeinobia) 17. September 2015
Mittlerweile hat die Stadt auch die Mauer in der Mohammed-Mahmud-Straße abgerissen. Man muss die Geschichte dieser Straße, ihre Legende, kurz erzählen, um zu verstehen, was das heißt.
Im November 2011 ereignen sich hier schwere Straßenschlachten. Der verhasste Diktator Mubarak ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit sieben Monaten zurückgetreten. Das Militär hält die Kontrolle im Land, zentrale Forderungen der Aufstände, wie freie Wahlen und eine umfassende Umgestaltung des Staatsapparates, sind nicht erfüllt. Am 19. November 2011 spitzt sich die Lage zu: Auf dem Tahrir demonstrieren Familien von Angehörigen, die in den letzten Tagen des Mubarak-Regimes hier ihr Leben ließen. Das Militär nennt die Toten zwar „Märtyrer“, will aber von einer rechtmäßigen Verfolgung der Täter nichts wissen. Die Polizei greift das Sit-in mit Tränengas und schweren Waffen an, die Nachricht über brutale Übergriffe verbreitet sich rasend schnell in der Stadt, Videos und Fotos von äußerster Polizeigewalt werden in den sozialen Netzwerken geteilt, hunderte, bald tausende Demonstranten eilen zum Tahrir.
Aus dem friedlichen Sit-in wird eine sechstägige Straßenschlacht, die sich vor allem in der kleineren Seitenstraße Mohammed-Mahmoud abspielt, die zum Innenministerium führt. Die Mohammed-Mahmoud-Straße wird so zum Symbol der Revolution, besungen in unzähligen Liedern, verewigt in Graffitis, die an den meisten anderen Orten der Stadt längst getilgt wurden. Die Mohammed-Mahmoud-Straße war einer der letzten Orte, wo man sie noch finden konnte: die Straßenkunst gegen das Militär, die Erinnerung an die verstorbenen Mitkämpfer_innen.
Das ist nun vorbei. Neben der Mauer entsorgt das Regime auch die Erinnerung an die Kämpfe um Ägyptens Zukunft. „Jetzt, wo die Mauer weg ist, kann man tatsächlich bis zum Tahrir laufen und denken, dass hier nie etwas passiert ist“, sagt Tarek, ein Aktivist der ersten Tage.
Lang lebe die ägyptische Street-Art!
Einen politischen Akt will die Stadt im Abriss der Mauer nicht sehen. Die American University, zu der die Mauer gehört, verteidigt den Schritt ebenso. In einer Stellungnahme sieht sich die Universität gezwungen „klarzustellen“, dass der Abriss der Mauer allein der Umgestaltung des AUC-Campuses diene. Seit 2008 residiert die Universität nicht mehr in Downtown, sondern auf einem neugebauten Campus in Neu-Kairo. Seither steht das Gebäude leer. Nun soll der Campus zur Stadt hin geöffnet und begrünt werden. Man werde behutsam die Arbeitsschritte und die Graffiti dokumentieren und in einer öffentlichen Ausstellung präsentieren, versprach die Universität.
Ein kleiner Trost, der an der eigentlichen Problemlage vorbei zielt: Die schrittweise Verdrängung der Erinnerung an die Revolution. Das ist, betrachtet man die aktuelle politische Situation, mehr als ein symbolischer Kampf. In all den Ärger mischt sich derweil auch Trotz und Ironie. Street-Art-Künstler Pit Becker verkündete kämpferisch: „Lang lebe die Ägyptische Street-Art!“.
Etwas spaßiger schaut Ahmed M. Tuni auf die Szenerie. Seine virale Collage zeigt die eingerissene Mauer, hinter der Präsident Sisi hervorlugt mit der Bildunterschrift: „Graffiti lässt ihn so gucken“.
Long live Egypts #StreetArt & Artists!! Demolishing Mohamed Mahmoud graffiti walls #flickr https://t.co/3SaPo7jNJL v @Zeinobia #Graffiti — PIT BECKER ARTwork (@paintmyblues) 5. Oktober 2015