04.04.2020
Gott gegen Ben Gurion – Corona und Israels interner Machtkampf
Jerusalemer Viertel Mea She’arim. Foto: „Mea Shearim, una comunidad ultraortodoxa“, © Montecruz Foto (https://www.flickr.com/photos/libertinus/6341055371), Lizenz: CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/)
Jerusalemer Viertel Mea She’arim. Foto: „Mea Shearim, una comunidad ultraortodoxa“, © Montecruz Foto (https://www.flickr.com/photos/libertinus/6341055371), Lizenz: CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/)

Israel ist wie der Rest der Welt fest im Griff der Corona-Pandemie. Doch die Bekämpfung des Virus ist nicht die einzige Herausforderung. Alte Grabenkämpfe vertiefen sich. In ihrem Zentrum: Die (Ultra-)Orthodoxie.

Israel ist, wie der Rest der Welt, gegenwärtig in einem nie dagewesenen Ausnahmezustand. Genauso wie seine Nachbarin Palästina kämpfen Behörden und Regierung um eine größtmögliche Eindämmung und finden sogar Wege, zusammen zu arbeiten.

Auch scheint sich ein Ende der innerisraelischen Regierungskrise abzuzeichnen. Im Minimalkompromiss gehen Benny Gantz und Benjamin Netanyahu eine große Koalition ein, wodurch ein nicht unerheblicher Teil der finanziellen, infrastrukturellen und auch militärischen Ressourcen mit exekutiver Billigung in den Dienst gegen die Pandemie gestellt werden kann.

Gleichzeit wird die Eindämmung der Corona-Pandemie durch streng gläubige Jüd*innen herausgefordert und erschwert.

Diese religiösen Kräfte, (ultra-)orthodoxe Jüd*innen, repräsentieren etwa zwölf Prozent der Bevölkerung, was nach aktuellem Zensus mehr als eine Million Menschen entspricht (Stand 2018). Sie gelten in der jüdischen Bevölkerung als der religiös strenge bis radikale Teil der Gesellschaft, der konsequent jüdischem Gesetz und Ritus folgt. Meist urban organisiert, bewohnen die (Ultra-)Orthodoxen eigene Viertel, oder stellen die Mehrheit in Städten wie Bnei Brak oder Beit Shemesh.

Darüber hinaus unterhalten die (Ulta-)Orthodoxen einen eigenen Bildungssektor und sind weitestgehend vom militärischen Pflichtdienst freigestellt. Trotz dieser Autonomie und der Freiheiten bildet das orthodoxe Israel zu einem nicht unerheblichen Teil so etwas wie die Gegenthese zum säkularen, liberalen Staat. Im Laufe der Geschichte des Landes öffneten sich dadurch einige Spannungsfelder innerhalb der israelischen Gesellschaft, was den Ethos der Nation, Lebensentwürfe und individuelle Freiheiten angeht.

Wieviel Staat verträgt die Religion?

Der Konflikt zwischen den liberalen Erb*innen des Sozialisten Ben Gurion und der religiös-orthodoxen Sphäre Israels ist nicht neu und hat gerade in den letzten 20 Jahren nachhaltigen Einfluss geltend gemacht. Beginnend mit dem Sturz des letzten links-liberalen Kabinetts Ehud Barak durch religiöse Koalitionsparteien, über die Durchsetzung von Fahrverboten für den öffentlichen Nahverkehr an Sabbat, bis hin zur Sonderregelungen für Haredim im Wehrdienst, das orthodoxe Establishment Israels ist eine politische Größe und darüber hinaus widerstandserfahren und geübt im zivilen Ungehorsam.

Das religiöse Israel steht nun aber durch die Corona-Pandemie vor einem Dilemma: genauso wie Christentum und Islam ist das Judentum eine Gemeindereligion. Das heißt, dass der Ritus essentiell an die Versammlung von Gläubigen gebunden ist. Hinzu kommt die allgemeine Öffentlichkeit des Gemeindelebens in Form von religiösen Schulen, Bädern (Mikveh), Gebeten (wie an der Klagemauer) und notwendiger Nachbarschaftshilfe, besonders in streng orthodoxen und armen Gegenden wie dem Jerusalemer Viertel Mea She’arim.

Da aber die Umstellung eines vitalen Gemeindelebens auf Isolation und Kernfamilie das orthodoxe Leben zum Stillstand bringt und viele ihrer Mitglieder von der Gemeinde abhängig sind, stehen die staatlichen Behörden vor einer Mammutaufgabe.

Erschwerend kommt hinzu, dass viele der streng religiösen Viertel und Städte die größte Rate an Neuinfektionen aufweisen und die große Vielfalt an Gemeinden und Autoritäten keine gemeinsame Linie finden. Während das israelische Oberrabbinat verlauten ließ, dass alle Synagogen und Yeshivot (Talmudschulen) des Landes geschlossen seien, gibt es der israelischen Tageszeitung Haaretz zufolge sehr viele Rabbiner und Gemeinden, die sich nicht an diese Richtlinie halten. Und das nicht, weil die Synagoge unbedingt offenbleiben müsste, sondern vor allem als Statement gegen die Autorität des Staates.

Das gleiche gilt für eine Vielzahl von Mikvot, den rituellen Badeanstalten, die vor allem von den weiblichen Mitgliedern orthodoxer Gemeinden frequentiert werden. Hier gibt sogar das israelische Gesundheitsamt seine Zustimmung, ermahnt aber zu verschärften Verhaltens- und Hygieneregeln.

Der Protest findet aber nicht nur passiv, also durch die Weigerung von Schließungen statt. In den letzten Tagen kam es vermehrt zu teils gewalttätigen Auseinandersetzungen von Haredim mit israelischen Sicherheitskräften und sogar zu Angriffen auf medizinisches Personal.

Der ewige Hegemon – Gott oder die Demokratie?

Dieses Gebaren mag gerade angesichts von Corona etwas befremdlich, wenn nicht sogar unvernünftig erscheinen. Doch die Verwerfung zwischen Religion und Staat ist ein Konflikt, der fast so alt wie der Staat Israel selbst ist. Und dabei geht es um nicht weniger als die Beschaffenheit des jüdischen Staates und um die Frage, wie demokratisch das Judentum sein kann und wie jüdisch eine Demokratie.

Obwohl die (Ultra-)Orthodoxie wie bereits erwähnt, ein demographisches und politisches Schwergewicht innerhalb Israels darstellt, erscheint sie doch als eine Art Parallelgesellschaft mit eigenen Regeln, eigener Sprache (das Yiddische ist nach wie vor sehr lebendig) und teilweise autonomer Wirtschaft. Das streng jüdische Israel ist mittlerweile keine Randerscheinung mehr, sondern eine der vielen Parallelgesellschaften neben dem säkularen, arabischen, äthiopischen und liberal-religiösen Israel. Was sie jedoch von allen anderen unterscheidet, ist die Vehemenz und Konsequenz der Lebensführung und der missionarische Eifer, mit dem der Rest des nicht-orthodoxen jüdischen Israels erfasst werden soll.

Die nun verhängten staatlichen Zwangsmaßnahmen (wie die Abriegelung epidemischer „Hotspots“), die dem Schutz des Lebens dienen sollen, werden ihrerseits von haredischen Kreisen herausgefordert, weil man sich paradoxerweise auch dem Schutz des Lebens verschreibt. In diesem Fall bezeichnet „Leben“ allerdings einen sozialen und religiösen Entwurf, dessen Wirken schon immer durch liberale Kräfte als bedroht angesehen wurde und deshalb regelmäßig Anlass für schwere Ausschreitungen war und ist.

Auf die Frage, wer nun eigentlich in Israel der ewige Hegemon ist, Gott oder die Demokratie, kommt aus dem Land ein mannigfaches Echo zurück, mit unterschiedlichsten Antworten. Das allein könne schon ein Loblied auf die Demokratie an sich sein. Doch im Falle der Corona-Pandemie ist die fehlende Einhelligkeit in einem solch dicht besiedelten Land ein lebensbedrohlicher Umstand.

Das große Nebeneinander

Die prinzipielle Weigerung, staatlichen Anordnungen zum Schutz der eigenen Gesundheit Folge zu leisten, ist nur eine neuerliche Antwort des ultra-orthodoxen Israels auf die Machtansprüche des säkularen. Und es stellt einen weiteren Marker für den immer noch nicht ausgehandelten Gesellschaftsvertrag dar. In der Geschichte Israels war die Demographie und die damit verbundenen unterschiedlichen soziale Normen und Codes Anlass für Spannungen und Neujustierungen. Doch bisher war keine Gruppe damit so erfolgreich wie das orthodoxe Israel.

Egal ob die mizrahischen Neuankömmlinge ab 1948, die Rettungsmissionen für die „Beta Israel“, die äthiopischen Jüd*innen in den 1990er Jahren oder aber die Integration der arabischen Bevölkerung, keine dieser Gruppen hat vollständig Ressentiments oder soziale Benachteiligungen überwinden können. Auch an diesen sozialen Verwerfungen wird noch verhandelt und gekämpft, doch ohne hegemoniale Ansprüche.

Am Ende geht es bei dem Kampf zwischen Demokratie und Gott nicht um die Grenzen des Staates, sondern um seine Verfasstheit, seinen Ethos und die Autorität von religiösem oder staatlichem Gesetz. Die Covid-19 Pandemie verschärft diesen internen Konflikt und macht ihn offensichtlicher. In Zeiten vermeintlich leerer Straßen wird sie vor allem von Orthodoxen beherrscht - ein klare Ansage an den Rest der israelischen Gesellschaft.

Tobias Griessbach ist Konfliktethnologe, Veranstalter und Kulturnetzwerker. Er lebt seit 12 Jahren in Leipzig und verbringt viel Zeit in Israel und Palästina.
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann