13.09.2023
Tragödie im prekären Marokko
Das Dorf Aghbar im Südwesten Marokkos vor dem Erdbeben. Foto: Hicham Hodaifa
Das Dorf Aghbar im Südwesten Marokkos vor dem Erdbeben. Foto: Hicham Hodaifa

Hicham Houdaïfa war oft für Recherchen in der vom Erdbeben am stärksten betroffenen Region Marokkos. Sie war schon damals isoliert und von struktureller Ungerechtigkeit geprägt. Nach der Katastrophe denkt Hicham an Menschen, die er dort traf.

Casablanca, Freitag, 8. September um 23.11 Uhr. Die Erde bebt. Wie alle Bewohner:innen der Wirtschaftsmetropole verlassen wir das Haus, dann versuchen wir zu verstehen, was passiert. Ein Erdbeben. Wir suchen nach der wichtigsten Information: Das Epizentrum liegt in Haouz, nicht weit von der ländlichen Gemeinde Ijoukak (sprich: Idschukak).

Ijoukak. In dieser ländlichen Gemeinde gibt es einige abgelegene Dörfer entlang der Straße, die Marrakesch und Taroudant verbindet. In Ijoukak befinden sich zwei Mädchenwohnheime – das Dar Taliba sowie das der Organisation Insaf. Beide Einrichtungen beherbergen Mädchen, die sich trotz aller Widrigkeiten dazu entschlossen haben, für ihre Ausbildung über die Grundschule hinaus zu kämpfen. Sie haben einen weiten Weg hinter sich: Sie wurden früh aus der Schule genommen und haben teilweise jahrelang als Dienstmädchen in den „großen Häusern“ von Marrakesch, Casablanca und Rabat gearbeitet. Die Organisation Insaf und vor allem Omar Saadoun und sein kleines Team fing sie auf und organisiert seit zwei Jahrzenten das Programm zur Bekämpfung von Kinderarbeit in privaten Haushalten. „Das Dar Taliba wurde teilweise zerstört und ich kann meine Mädchen nicht erreichen“, sagt Omar Saadoun. Er steht im ständigen Kontakt mit Menschen in der Region, um so schnell wie möglich Hilfsgüter dort hinzuschicken.

Schule ist ein Privileg

Es war in dieser jetzt vom Erdbeben stark getroffenen und teilweise komplett zerstörten Region, dass ich das Privileg hatte, Omar Saadoun zu begleiten. Wir waren in Aghbar, südlich von Talat N’Yaaqoub (sprich: Talat Nijakub). In diesem von der Route Nationale weit abgelegenen Dorf, das man über eine holprige Piste erreicht, muss ein Großteil der Kinder ihren Bildungsweg nach der Grundschulzeit beenden.

In Aghbar traf ich Nora, die wieder zur Schule ging, nachdem sie als Dienstmädchen in Marrakesch gearbeitet hatte. Sie vertraute mir einige ihrer Erfahrungen an: „Ich wurde geschlagen und beleidigt, weil ich den Haushalt nicht richtig gemacht habe. Nach deren Kriterien natürlich. Sie haben mich manchmal nicht einmal in Ruhe schlafen lassen. Wenn ich Mädchen auf der Straße sah, die auf dem Weg in die Schule waren, weinte ich alleine in meiner Ecke. Ich bin kein Einzelfall. Viele Mädchen aus dem Dorf arbeiten noch in Casablanca und anderen großen Städten.“ Um zur Straße zu gelangen, muss Nora mehr als sieben Kilometer laufen; von dort kann sie einen der seltenen Busse für die 54 Kilometer nach Ijoukak nutzen. Im Winter wird die Piste unpassierbar, vor allem wenn Schnee fällt. Nora aber hat beschlossen, nicht aufzugeben und weiter zu lernen.

Das Problem ist die Abgelegenheit

In diesem Dorf, das sich an den Stein schmiegt und in dem die Häuser aus Lehm sind, in dem es an allem mangelt, durfte ich einen jungen Mann kennen lernen: Brahim Aït Bouzni. Der junge Aktivist ist der erste Abiturient aus Aghbar und hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Mädchen aus den abgelegensten Siedlungen wieder an die Schulen zu bringen. Er erzählte mir von extrem isolierten Siedlungen, wo die Bevölkerung in der absoluten Mittellosigkeit lebt: Ouidrane, Imlil, Mkayate. Er erklärte mir: „Diese Region leidet unter ihrer Abgelegenheit, die Quote der Schulabbrüche ist sehr hoch. Wir leiden aber genauso unter dem Mangel an Ärzt:innen in der Krankenstation von Aghbar, das 600 bis 700 Bewohner:innen hat. Viele unserer Kinder sind nicht geimpft.“

Gemeinsam mit anderen jungen Leuten aus der Region hat Brahim den Verein Tifaouine gegründet, was Licht auf Tamazight bedeutet. Sein Ziel ist es, dass alle Kinder der Gegend zur Schule gehen, dass alle Mädchen weiter lernen können, dass die Region besser angebunden wird… Ich konnte Brahim seit dem Erdbeben noch nicht ans Telefon bekommen…

Lieferantin für Kinderarbeit

Auch in eine andere, vom Erdbeben schwer verwüstete Region hatte ich Omar und andere Aktive begleitet, um zu minderjährigen Haushaltsangestellten zu recherchieren. Chichaoua (sprich: Schischawa) und Imintanout waren als „Lieferantin“ solch minderjähriger Arbeitskräfte bekannt. In Idouirane traf ich Naïma, die heute Abiturientin ist: „Es dauerte drei Jahre. Mein Vater war alt und konnte nicht arbeiten. Ich arbeitete in dieser Zeit bei drei Familien. Ich habe jede Form der Gewalt ertragen: Beleidigungen, Ohrfeigen, Bestrafungen aller Art – aber wenn du leben willst, darfst du an all das nicht denken.“

Andere, noch stärker isolierte Siedlungen in der Umgebung verzeichnen Rekorde der Schulabbrüche. Gründe dafür sind natürlich die Armut, aber auch Elternteile, die krank werden oder sterben. Vor Ort traf ich Aktivist:innen, die mit kargen Mitteln taten was sie konnten; und Mädchen und Jungen, die von einem besseren Leben träumten.

Heute, nach dem Erdbeben, bewegen mich die Gedanken an all diese Menschen, deren Schicksal ich noch nicht kenne. Und ein Gefühl der Wut über so viel Ungerechtigkeit überkommt mich…

Dieser Text erschien im französischen Original am 10. September 2023 auf der Website von En Toutes Lettres.

 

 

 

Hicham Houdaïfa ist seit 1996 als Journalist tätig. Er ist Mitbegründer von EnToutesLettres (www.etlettres.com), einem auf Essays spezialisierten Verlag, wo er die Serie "Enquêtes" leitet. Er ist Buchautor und außerdem Mitbegründer des Openchabab Programms (www.openchabab.com). Dieses Ausbildungsprogramm ist auf junge Journalist:innen und auf...
Redigiert von Clara Taxis, Hannah Jagemast
Übersetzt von Clara Taxis