Wie gut muss ein Kind Deutsch sprechen, bevor es eingeschult wird? Jenseits vom Schlagabtausch zwischen Schulpflicht und Integration, ist es an der Zeit, grundlegend über Sprachenvielfalt in Deutschland zu reden – und über eine tiefsitzende Angst vor ihr –, grübelt Kolumnistin Leonie Nückell.
Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen. Alle Texte der Kolumne findest du hier.
Es ist bereits viel erwidert worden auf die in ihrer Flachheit schlicht trivialen Äußerungen des CDU-Abgeordneten Carsten Linnemann zur Frage von Einschulung und Deutschkenntnissen. Lachen könnte ich drüber, wenn diese Geistlosigkeit nicht eine Stimmung von Ausgrenzung aufgreifen würde, die in Deutschland erfolgreich ist – und reale Folgen für hier lebende Menschen hat.
Geistlos ist nicht allein Linnemanns Ausdrucksweise, wenn er bestimmen will, wer wo „nichts zu suchen“ habe. Geistlos ist auch seine Argumentation, der Ausschluss von Kindern mit geringen Deutschkenntnissen könne einer voranschreitenden Etablierung von Parallelgesellschaften entgegenwirken, da die obere Mittelschicht ihre Kinder seltener auf Privatschulen schicke. Eine seit Jahren geführte Debatte zur schlechten Ausstattung von Schulen und zu großen Klassen mit dem Verweis „die Ausländer sind Schuld“ zur Seite zu wischen – das ist nicht geistlos, das ist Seehofer-Niveau.
Dagegen erfordert der Gedanke, Parallelgesellschaften könnten mit früher systematischer Ausgrenzung verhindert werden, wiederum einiges an Phantasie. Danke für diesen Beitrag aus der Bundes-CDU, kurz vor der Sachsenwahl. Durch solche Stimmen erscheinen bestimmte Koalitionen immer wahrscheinlicher.
Mehrsprachigkeit und Unwohlsein
Angesichts der Tatsache, dass Linnemann mit falschen Zahlen argumentiert und Forderungen nach Sprachtests stellt, die in vielen Bundesländern bereits Praxis sind, kann es in der Debatte nicht wirklich darum gehen, den Alltag in Grundschulen zu erleichtern. Somit bleibt die Frage: Worum geht es eigentlich?
Hier lösen wir uns von der Debatte um Grundschulunterricht und steigen ein in die Metaebene. Sprache fungiert in Deutschland häufig als Ausschlusskriterium. Das passiert durch verschiedene Auslöser. Wenn zum Beispiel zur Aufnahme eines englischsprachigen Hochschulstudiums Deutschkenntnisse nachgewiesen werden müssen oder Schreiben im Asylverfahren ausschließlich in (Jurist*innen-)Deutsch verfasst werden, zeigt sich Sprache als Machtinstrument.
Wenn im Freundeskreis Personen dabei sind, die kein Deutsch sprechen und in der Runde häufig trotzdem Deutsch gesprochen wird statt bei einer gemeinsamen Sprache, zeigt sich Sprache als Hemmung. Und wenn Filme synchronisiert werden, zeigt sich Sprache als Faulheit und vertane Chance zur Gewöhnung an Mehrsprachigkeit. Im Fall von Linnemann und ähnlichen Aussprüchen wie: „Wir sind hier in Deutschland, hier wird Deutsch gesprochen“, zeigt sich Sprache als Ausübung kultureller Hegemonie.
Mehrsprachigkeit als Bedrohung, als Verlust kultureller Hegemonie?
Mehrsprachigkeit ist in vielen Weltregionen alltägliche Realität. In Skandinavien werden Filme nicht synchronisiert und es ist wirklich auffällig, wie gut viele Menschen Englisch sprechen. In Tunesien wachsen Kinder mit dem tunesischen Dialekt, Hocharabisch und Französisch praktisch dreisprachig auf. In Südafrika ist es nicht ungewöhnlich je nach Kontext in sechs verschiedenen Sprachen zu kommunizieren. Dazu kommen Phänomene wie das Codeswitching, wenn zwischen Sprachen teilweise innerhalb eines Satzes hin- und hergesprungen wird. Hierzulande wird das abwertend als „Denglisch“ bezeichnet.
Von einem solch lockeren Umgang mit Mehrsprachigkeit könnte Deutschland viel lernen. Angesichts einer de facto mehrsprachigen Gesellschaft wäre dies ein folgerichtiger Schritt. Und tatsächlich herrschte im heutigen deutschen Staatsgebiet eine Vielfalt an Dialekten bevor sich das Hochdeutsche durchsetzte.
Sprache und Territorium stellen einen Sinnzusammenhang dar, mit dem sich die postkoloniale Linguistik beschäftigt. Zwar geht es hier vorrangig darum, den Prozess nachzuvollziehen, wie Kolonialmächte kolonisierte indigene Sprachen beschrieben, beforscht und bewertet haben. Jedoch kann dies im Umkehrschluss den Umgang mit Mehrsprachigkeit in Deutschland nachvollziehbarer machen.
Sprache und Territorium
Mit der Aufklärung setzten sich rationalisierte Ideale von Zentrierung und Bestimmbarkeit durch. Die Idee des Nationalstaats ist eine Ausformung dieser Ideale und basiert auf der Annahme, dass genau ein Volk (Nation) auf einem durch Grenzen bestimmbaren Territorium (Staat) wohnt. Ein Volk muss aber erst geschaffen werden, denn in der Realität ist diese Übereinstimmung Quatsch. Schließlich hat Ostfriesland mit der Region Groningen kulturell mehr gemein als mit einem bayrischen Voralpendorf.
Da die Idee des Nationalstaats aber sehr effektiv ist, um Menschen regierbar zu machen, müssen diese irgendwie davon überzeugt werden, sich als ein Volk zu verstehen. Also wird versucht, eine gemeinsame Identität zu schaffen, damit die Menschen glauben, sie gehörten zueinander. Hierfür werden eine gemeinsame Geschichte (Heiliges Römisches Reich deutscher Nation), gemeinsame Traditionen (Bier und Oktoberfest) und eben eine gemeinsame Sprache (Hannoverisch) erfunden bzw. als Erzählung stark gemacht.
Sprache ist dabei ein zentrales Moment und keinesfalls eindeutig. Es musste definiert werden, wo die Grenze zum Niederländischen verläuft und warum das Friesische als Sprache dazwischensteht und nicht als Dialekt. Die Idee von einer klar bestimm- und zu anderen abgrenzbaren Sprache wurde durch verschiedene Unternehmungen abgesichert. Die Linguistik beschreibt detailliert Grammatik und Semantik, der Duden klärt uns auf, welche Wörter deutsch sind und welche nicht und der Knigge bestimmt, welche Ausdrucksformen wann angemessen sind. Das alles sind Ergebnisse von Aushandlungsprozessen, die unter bestimmten Voraussetzungen stattgefunden haben. Sprache und Territorium bestehen also als eine konstruierte Einheit von „Volk“.
Die Idee von Einheitlichkeit wird in der Folge zur notwendigen Bedingung gegenseitiger Solidarität. Das Volk ist jetzt bestimmbar, ebenso mein Verhalten ihm gegenüber. Dadurch bekommt das alles eine für jede*n Einzelne*n nachvollziehbare Ordnung mit einer „deutschen Kultur“ als Leitbild. Doch alles, was aus dieser Ordnung fällt, gefährdet sie. Somit ist es kaum verwunderlich, dass Herr Linnemann Grundschulkinder als Bedrohung für die Mittelschicht empfindet.
Was man vom bayerischen Kultusministerium lernen kann
Wo Mehrsprachigkeit als positiv markiert wird, verlaufen die Trennlinien zwischen Wertschätzung und Sprache als wirtschaftliche Ressource unklar. Beispielhaft dient hier der Leitfaden zu Grundschulbildung des bayerischen Kultusministeriums. Hier leistet Mehrsprachigkeit „einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der interkulturellen Kompetenz. Kinder können durch das Kennenlernen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden kulturelle und sprachliche Neugier und Offenheit entwickeln“. Und das sei wichtig, weil Mehrsprachigkeit „in der globalisierten Arbeitswelt […] zunehmend erforderlich ist, und […] für das Zusammenleben in Europa große Bedeutung hat.“
Ich stelle die steile Behauptung auf: Hier geht es eher um Französisch als um Türkisch. Ist ja auch viel praktischer, denn schließlich spricht halb Afrika Französisch. Weiter heißt es:
„[z]ur Familiensprache […] haben Kinder einen starken emotionalen Bezug. Die Wertschätzung und die Präsenz der Familiensprache in den Bildungseinrichtungen wirken für das Kind nicht nur motivierend, sich für das Erlernen von Sprachen im Allgemeinen zu begeistern (z.B. durch ein Angebot an mehrsprachigen Büchern und Medien oder den Einbezug der Eltern als Vorlesepaten), sondern leisten auch einen wesentlichen Beitrag zur Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung.“
Woher kommt diese Wertschätzung gegenüber Vielfalt im Anker-Zentren-Land? Tatsächlich kriegen die bayerischen Kultusmenschen noch die Kurve und schlagen einen Bogen zur eigenen Tradition von Mehrsprachigkeit. Denn „Familiensprache – dazu zählt auch der Dialekt“.
Würde Bayern nun durch Besinnung auf Tradition einem modernen Phänomen begegnen, dabei den Horizont weniger durch EU-Außengrenzen beschränken und wirkliche Offenheit suggerieren, könnten wir alle etwas davon lernen. Nämlich den Umgang mit Mehrsprachigkeit als selbstverständlichem und allgegenwärtigem Zustand. Selbst Herr Linnemann könnte das, vielleicht mit einer intensiven Sprachförderung.