Seit Mai gehen die Menschen im Irak wieder auf die Straße. Nach einer Pause aufgrund der Corona-Pandemie und der Bildung einer neuen Regierung zeigen die Demonstrierenden nun erneut, dass ihnen oberflächliche politische Veränderungen nicht genügen.
Dieser Text ist im Rahmen des Kooperationsseminars „Grenzen und Möglichkeiten journalistischer Berichterstattung aus postkolonialer Perspektive zu WANA (Westasien, Nordafrika)“ an der Universität Leipzig entstanden. Das Seminar fand im Wintersemester 2019/2020 unter Leitung von dis:orient-Mitglied Leonie Nückell statt. Alle dabei entstandenen Texte finden sich hier.
Wie alles begann: #IraqiRevolution
Was als Demonstration von Arbeitslosen in Bagdad im Oktober 2019 begann, hat sich schnell in großen Teilen des Landes auf eine Revolution von Menschen aller Schichten, Ethnien und Konfessionen ausgeweitet. Auffällig ist dabei die, im Vergleich zu vorherigen Protesten hohe Teilnahme von Frauen, charakteristisch aber auch die blutige Niederschlagung durch Staat und Milizen: Nach Angaben der Gruppe Workers against Sectarianism wurden bis März über 600 Menschen getötet und 25.000 verletzt.
Trotz der brutalen Reaktionen auf der Straße und Verfolgungen von Aktivist*innen, blieben die Protestierenden in weiten Teilen des Landes über Monate hinweg friedlich und standhaft: Auf den besetzten Plätzen, wie beispielsweise dem Tahrir-Platz in Bagdad, leben sie eine Utopie der Gemeinschaft und Selbstorganisation, mit Tuktuks als Krankenwagen, geteiltem Essen, medizinischer Versorgung und politischer Bildung.
Ausgelöst wurden die Proteste durch die Entlassung eines in der Bevölkerung beliebten Generals der irakischen Anti-Terror-Einheit. Ermutigt wurden die Menschen zudem durch die kurz zuvor begonnenen (und schnell zerschlagenen) Proteste in Ägypten im Herbst 2019. Doch die Unzufriedenheit mit dem politischen System und das Anprangern der zahlreichen Probleme im Irak sind nicht neu und haben bereits in den letzten Jahren immer wieder zu Demonstrationswellen geführt.
Prekäre Lebensbedingungen: #save_the_iraqi_people
Die Probleme im Irak sind zahlreich: hohe Arbeitslosigkeit, besonders unter jungen Menschen, führt zu Existenzängsten und Perspektivlosigkeit. Der selbsterklärte „Islamische Staat“ und von Iran unterstütze Milizen verbreiten Angst in der Bevölkerung. Den zahlreichen Regierungen der letzten 17 Jahre gelingt es nicht die Staatsverschuldung unter Kontrolle zu bringen und auch die Grundversorgung, beispielsweise mit Wasser und Strom, wird nur unzureichend gewährleistet.
Die Politikerin Haifa al-Amin der oppositionellen kommunistischen Partei berichtet im Interview mit der taz zudem, dass auch die medizinische Versorgung mangelhaft, das staatliche Bildungssystem fast komplett zusammengebrochen und Kinderarbeit weit verbreitet sei. Zudem gäbe es kein funktionierendes Sozialversicherungssystem, sodass die Schere zwischen arm und reich immer weiterwachse.
Stark kritisiert wird von den Demonstrierenden zudem die politische Einflussnahme aus dem Ausland. Diese sei zwar aus Iran am direktesten zu spüren, aber auch die Interessen und das im Irak stationierte Militär der USA, der Einfluss der Türkei, Israels wie auch die Truppenstationierung zahlreicher europäischer Länder verhindern echte Souveränität, betont beispielsweise der irakisch-US-amerikanische Schriftsteller Sinan Antoon.
Die Forderungen der Demonstrierenden gehen damit weit über den Austausch der Regierungsbeteiligten hinaus und visieren einen grundsätzlichen politischen Wandel an, der auch Änderungen an der irakischen Verfassung und des Wahlgesetzes beinhaltet. Sie kritisieren das politische System, welches auf konfessionellen Quoten basiert und als eine der Hauptursachen für inter-religiöse Spannungen und die grassierende Korruption im Land angesehen wird.
Das politische System: #Thanks_Muhasasa
Eingeführt wurde das System der sogenannten Muhasa Ta’ifiya [1] nach der US-Invasion 2003. Den Entwurf lieferte der US-Diplomat Paul Bremer, der in den Augen vieler, ein simplistisches und falsches Verständnis von den sozialen und politischen Zusammenhängen im Irak hatte. Der Komiker Ahmed Albasheer etwa paraphrasiert Bremers Iraksicht als „eine Kombination aus Konfessionen und Ethnien, welche schon seit Anbeginn der Zeit verfeindet sind“. Bremer leitete zwischen 2003 und 2004 die Koalition, welche den Irak übergangsweise verwaltete und entwickelte gemeinsam mit Exil-Iraker*innen eine neue Verfassung. Dabei wurde die irakische Bevölkerung vor Ort nicht einbezogen und der neue Verfassungsentwurf erst nach Monaten ins Arabische übersetzt.
Bremer selbst sah sich, laut dem auf Irak spezialisierten Historiker Reidar Visser als „Hüter der irakischen Einheit“. Visser hingegen argumentiert, dass erst die politische Instrumentalisierung der Religionsgemeinschaften die Bevölkerung zu „konfessionalistischen Extremisten [machte],“ was ganz im Gegenteil zu Iraks Geschichte konfessioneller Koexistenz stünde [2]. Das von außen aufgezwungene System habe die ethno-konfessionelle Aufspaltung der irakischen Gesellschaft demnach hauptsächlich mitverursacht, anstatt, wie von Bremer behauptet, das Land zu einen.
Im wissenschaftlichen Diskurs finden sich jedoch auch Stimmen, nach denen die Trennung der drei religiösen Gruppen schon deutlich länger ein fundamentales Problem im Irak gewesen sei. So argumentiert etwa der Politikwissenschaftler Malik Mufti, dass bei der Staatsgründung 1920 durch Großbritannien drei grundsätzlich verschiedene mesopotamische Regionen willkürlich zu einem Land zusammengefügt wurden und die Trennlinien dieser drei ethnischen Gruppen nie an Wichtigkeit verloren hätten. Konfessionelle Spannungen seien daher nicht allein als Folge der US-Invasion zu begreifen [3].
„Das Muhasasa-System sollte dem Irak die Demokratie bringen. Der Prozess, welcher das System brachte, war aber alles andere als demokratisch und selbstbestimmt. Wie konnte man also ein demokratisches Ergebnis erwarten, das auch noch Iraks Bedürfnissen entspricht?“ kritisiert daher Ahmed Albasheer im Rahmen seiner Satiresendung Albasheer-Show.
Auch der Iraker Mohammed, welcher seit einigen Jahren in Leipzig lebt, berichtet im Interview: „Die Verfassung von 2003 ist wie eine Bombe, die jeden Moment explodieren kann.“ Er verfolgt die Demonstrationen in seiner Heimatstadt Basra und im ganzen Land mit und hält Kontakt zu Demonstrierenden vor Ort. „Durch das konfessionalistische System können nur die großen Parteien und keine unabhängigen Kandidat*innen gewinnen, sodass die Politiker*innen im Parlament nicht die Bevölkerung repräsentieren, sondern nur für ihre jeweiligen Parteien wirtschaften.“ Dadurch, dass das neue System nach dem Sturz Saddam Husseins sehr schnell eingesetzt wurde, konnten, seiner Meinung nach, viele Menschen von religiösen Parteien beeinflusst werden.
Erneute Proteste: #AnotherIraqIsPossible
„Wenn sich unmöglich ein Sinn hinter Geschehnissen im Irak finden lässt, schaffen ein paar Phrasen über ‚Sunniten und Schiiten‘ immer einen Schein, den viele in den westlichen Medien als Fachwissen betrachten“ [4] attestiert Visser. Dies passiert auch in der Berichterstattung über die Proteste, wenn auch mit abnehmender Tendenz. Zu Recht: Denn viele der Demonstrierenden betonen gerade den vereinten, überkonfessionellen Kampf gegen die unterdrückende und korrupte politische Elite und leben einen neuen Irak vor, in dem die Ethnien und Konfessionen wieder friedlich koexistieren können.
Durch die Corona-Pandemie waren die Proteste zunächst ausgesetzt, aufgegeben wurden sie aber nicht. Auf dem besetzten Tahrir-Platz in Bagdad wurde beispielsweise entschieden, dass 20% der Menschen den Platz weiter verteidigen, während der Rest sich zu Hause vor dem Virus schützt. Seitdem verstärkt die Quarantäne, wie überall, bestehende Probleme wie Armut und häusliche Gewalt – wobei im Irak noch die belastende Entwicklung des Öl-Preises hinzukommt.
Laut Aktivist*innen der Gruppe Workers against Sectarianism schien die Pandemie „das System vor der Revolution zu schützen“, aber am 10. Mai feierten die Protestierenden ihre Rückkehr auf die Straße und zeigen seitdem erneut: Ein neuer Premierminister reicht ihnen nicht aus und sie lassen sich selbst während einer Pandemie nicht abhalten, für einen vereinten Irak zu kämpfen. Denn für viele Protestierende ist dieser Kampf zu einer „Frage von Heimatland oder Tod“ geworden.