27.03.2020
Diskriminierung mit tödlichen Folgen
Der Corona-Virus breitet sich immer weiter aus. Insbesondere für nicht-weiße Menschen birgt das Gefahren. Grafik: Paul Bowler
Der Corona-Virus breitet sich immer weiter aus. Insbesondere für nicht-weiße Menschen birgt das Gefahren. Grafik: Paul Bowler

Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist angesichts der Corona-Krise zum Mantra von Politik und Medizin geworden. Dabei vergessen viele den strukturellen Rassismus in unseren Praxen und Krankenhäusern, findet Cem Bozdoğan.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Keine Woche nach dem Fernseh-Appell von Kanzlerin Angela Merkel, in der Corona-Krise zusammenzustehen, löste Journalistin Ferda Ataman auf Twitter einen Shitstorm aus. „Ich habe irgendwie eine Ahnung, welche Bevölkerungsgruppen in Krankenhäusern zuerst behandelt werden, wenn die Beatmungsgeräte knapp werden“, schrieb sie. Grünen-Politikerin Renate Künast zeigte sich entsetzt: Gerade jetzt solle „die gestresste Ärzt*innenschaft bitte nicht diesem Verdacht“ ausgesetzt werden, antwortete sie. War Atamans Tweet denn wirklich so unsensibel, ja übertrieben?

Nein, war er nicht, schaut man sich die ein, zwei in Deutschland existierenden Statistiken über Rassismus in der Medizin an: Schwarze[1], Kanax und andere nicht-weiße[2] Menschen werden im Schnitt schlechter behandelt als weiße Deutsche ohne Migrationsgeschichte. Selbst zu diesen herausfordernden Zeiten ist diese nicht wirklich bahnbrechende Erkenntnis aber der Top-Aufreger auf Deutschtwitter: Bis dato 1.200 Menschen antworteten auf den Tweet, unter ihnen Chefredakteur*innen, Ärzt*innen und selbsternannte Intergrationsforscher*innen, die in Ferda Ataman eine Hetzerin, Spalterin und Hasspredigerin sehen. Mit jedem neuen Kommentar steigt meine Körpertemperatur. Und ich schwöre, das liegt nicht am Corona-Virus. Vielleicht hilft ja ein abkühlender Blick auf den mageren Forschungsstand zu Rassismus im deutschen Gesundheitssystem.

Diagnose aus dem Jammertal

Schon 2008, elf Jahre bevor Covid-19 überhaupt existierte, kam eine Forschungsgruppe des Universitätsklinikums in Düsseldorf zu der Einsicht, dass Schwarze Patient*innen bei ihren weißen Hausärzt*innen aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert und schlechter behandelt werden. Auch die Bundesregierung erwähnte 2017, dass es strukturellen Rassismus im Gesundheitssystem gibt: In ihrem Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus schreibt sie, dass Ärzt*innen oftmals nur aufgrund des Namens von Schwarzen und nicht-weißen Patient*innen Annahmen über Verhaltensweisen und Ursachen der Beschwerden vornehmen würden.

Oft kommt hinzu, dass nicht-weiße Gruppen homogenisiert werden, es in den meisten Einrichtungen keine Dolmetscher*innen gibt und somit Patient*innen abgewiesen oder ungenügend behandelt werden. Eine viel zu gängige, aber zutiefst rassistische „Diagnose“ unter Ärzt*innen ist zum Beispiel der „Morbus Mediterraneus“, also wenn Patient*innen mit „Mittelmeer-Background“ jammern und wehleidig sind, obwohl sie laut der Diagnose der Ärzt*innen keine Beschwerden hätten. Mir geht es ähnlich: Ich habe in Deutschland schon viele „Morbus Almanicus“ diagnostiziert, zum Beispiel, wenn ich weißen Deutschen erklärt habe, dass Rassismus hierzulande kein „Einzelfall“ ist, sondern ein strukturelles Problem. Was ich dann höre, ist auch oft nur ein wehleidiges Jammern.

Mein Vater mit „Mittelmeer-Background“ entwich bei einem Arbeitsunfall im vergangenen Jahr nur ganz knapp dem Tod, daraufhin folgten wochenlange Krankschreibungen, etliche Arzttermine und Therapien. Als er seinen Arzt fragte, ob er eine Kur verschrieben bekommen könnte, entgegnete dieser, Deutschland würde pleitegehen, „wenn alle Leute ständig zur Kur fahren würden“. Ob derselbe Arzt eine andere Person genauso behandelt hätte, ist Spekulation. Klar ist jedoch, dass Schwarze, Kanax und andere nicht-weiße Menschen diese Erfahrung um einiges öfter erleben als andere Bevölkerungsgruppen.

Die Beispiele häufen sich auch international: In den USA beklagen insbesondere Schwarze Frauen, vom Gesundheitssystem nicht ernstgenommen zu werden, das zeigt eine US-amerikanische Studie der University of Virginia aus dem Jahre 2016. Aber auch jetzt, zu Zeiten der Corona-Pandemie, zeigt sich rassistische Diskriminierung im Gesundheitssystem: In London starb vergangenen Samstag eine Schwarze Frau an Covid-19, nachdem eine Rettungskraft sie zu Hause besuchte und sagte, sie sei „keine Priorität“ und müsse nicht behandelt werden.

Eine Pandemie ist keine Entschuldigung

Dass nicht-weiße Körper als weniger wert gelten, ist kein Einzelfall. Auch eine Pandemie ist keine Entschuldigung für Rassismus und darf nicht dazu genutzt werden, von struktureller Diskriminierung abzulenken. Zumal: Die Kritik am strukturellen Rassismus greift Pflegekräfte und Ärzt*innen gar nicht persönlich an, sondern richtet sich, wie es der Name sagt, gegen eine Struktur. Es geht hier nicht um die rassistischen Denk- und Handlungsweisen der Einzelnen, sondern um institutionelle Praktiken, die Angehörige der Mehrheitsgesellschaft systematisch privilegieren.

Ferda Atamans Tweet richtete sich damit weniger gegen die Ärzt*innenschaft, die Renate Künast zu verteidigen versucht, sondern vielmehr gegen Personen wie Künast selbst: Es ist die Aufgabe von Politiker*innen, vom politischen System und den Institutionen, strukturellen Rassismus in allen Lebensbereichen zu untersuchen und abzubauen. Das funktioniert nicht mit einer bundesweiten Applaus-Triade, sondern mit einer von Grund auf antirassistischen Haltung.

Später schrieb Ferda Ataman, sie bedauere, missverstanden worden zu sein. Sie wollte mit ihrem Tweet Ärzt*innen und Pflegekräfte nicht unter Generalverdacht stellen. Gerade zu Zeiten von Corona müssen sich strukturell benachteiligte Menschen offenbar entscheiden: Entweder sie sterben oder sie müssen sich dafür entschuldigen, dass sie nicht sterben möchten.

 

[1] Schwarz ist weder Adjektiv noch Hautfarbe, sondern eine politisch gewählte Selbstbezeichnung, in Ablehnung kolonialrassistischer Bezeichnungen, und wird deshalb groß geschrieben.

[2] Weiß ist kursiv geschrieben, um die Konstruktion des Begriffes zu betonen. Gemeint ist damit keine bloße Hautfarbe, sondern die privilegierte Position, die innerhalb eines rassistischen Systems mit der Hautfarbe einhergeht.

 

 

Cem Bozdoğan studierte Sozialwissenschaften in Düsseldorf und Gewalt- und Konfliktforschung in London. Heute arbeitet er als Redakteur für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und schreibt als freier Autor, vor allem über Themen aus Kurdistan und der Türkei.
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Anna-Theresa Bachmann