06.05.2013
Die politische Lage in Ägypten: Alles aus, alles drin
Mursi ganz oben: Wahlwerbung in den Straßen Kairos 2012. Foto: Philipp Spalek
Mursi ganz oben: Wahlwerbung in den Straßen Kairos 2012. Foto: Philipp Spalek

Während die Parlamentswahlen in Ägypten verschoben wurden, erschließt sich die Bevölkerung unterschiedliche Formen des Protests und der politischen Organisation außerhalb etablierter Strukturen. So wird deutlich, dass eine kollektive Ermächtigung der Bevölkerung mehr erfordert als formelle Repräsentation. Solange diese Diskrepanz besteht, ist die „Revolution“ am Ende und gleichzeitig weiter am Leben.

Mehr als zwei Jahre sind vergangen seit dem Beginn der „ägyptischen Revolution“. Zwei Jahre, in denen die Auseinandersetzungen und der Verlauf der Ereignisse undurchsichtig und verworren geworden sind; ganz anders als noch Anfang 2011, als die Unterscheidungen so viel einfacher waren: „al shaab yurid isqat al-nizam“ – die Menschen fordern den Sturz des Regimes. Gut gegen Böse, das war klar. So wurden plötzlich alle zu „Revolutionären“ und verpflichteten sich dazu, die „Revolution“ nach deren „erfolgreichem Abschluss“ zu bewahren.

Doch von dieser Verpflichtung lassen sich keine einheitlichen Konsequenzen ableiten. Wie die „Revolution“ zu erfüllen ist, bleibt daher umstritten. Das Gut der Einen wird so zum Übel der Anderen, während das Regime zugleich gestürzt und weiterhin an der Macht ist, schlicht weil die „Revolution“ unterschiedliche Dinge für unterschiedliche Akteure bedeutet.

Die Gleichzeitigkeit von Erfüllen und Scheitern der Revolution sowie die Beliebigkeit von Gut und Böse, richtig und falsch, für- und gegeneinander spiegelt sich in den aktuellen Auseinandersetzungen wider. Diese Vielschichtigkeit lässt sich nur schwer begreifen, weil die Ereignisse nicht nach den simplen Mustern von Freund/Feind, friedlich/gewaltsam, Zivilist/Terrorist, Bevölkerung/Regime, konfessionell/säkular verlaufen. Stattdessen spielen sich die Auseinandersetzungen in den Nuancen ab, über die der moralische Anspruch der einen oder anderen Seite zwar entwertet, aber ebenso die anhaltende Legitimität der Forderungen nach Würde, Freiheit, Gerechtigkeit und Wandel bekräftigt wird.

Gewaltige Spannung

Dabei geht es um Prämissen für den Wandel im Land, das Ausmaß der Revolution, den Rahmen für Reformen und die Maßstäbe der Demokratisierung; darum, was all das bedeuten soll und wie sich die unterschiedlichen Ansprüche zueinander verhalten. Das lässt sich gut an den aktuellen Kontroversen um die Parlamentswahlen verdeutlichen. Im Kern geht es dabei nämlich darum, auszuhandeln, wie sich gesellschaftliche Belange so repräsentieren und umsetzen lassen, dass sie durch die Repräsentation nicht korrumpiert werden und am Ende Einzelne auf Kosten der Bevölkerung profitieren.

Lässt sich ein korruptes, verantwortungsloses und selbstgefälliges System von innen reformieren, oder muss dieses System erst gestürzt werden, um Reformen zu erlauben? Oder nach praktischen Bedingungen gefragt: Lässt sich der Konflikt nach etablierten Maßstäben austragen, an die Verbindlichkeiten geknüpft sind, oder liegt gerade in deren Überschreitung die Möglichkeit begründet, neue Maßstäbe zu setzen und auf diese Weise bestehende Abhängigkeiten aufzulösen? Klar ist, solange dieses Spannungsverhältnis von offizieller „Reform“ und Selbst-Ermächtigung der Bevölkerung bestehen bleibt, ist revolutionäre Gewalt das Menetekel für die Unzulänglichkeiten der formellen „Demokratisierung“ Ägyptens.

Die autoritäre Vergangenheit Ägyptens wirkt sich so in aktuellen Auseinandersetzungen auf unterschiedliche Weise aus. Gleichzeitig leitet sich daraus auch das Bestreben ab, restriktive Autoritäten anzufechten und zivile Alternativen zu schaffen. Doch weil die Muster des Autoritarismus hartnäckig sind, ist dieses Bestreben heikel. Das Ziel von Politik zum Beispiel scheint heute wie gestern darin zu bestehen, Staatsmacht zu erringen. Dies legt zumindest das Verhalten der Muslimbrüder nahe, die von ihren Wahlerfolgen die Befugnis ableiten, alle Teile des Staates zu vertreten. Staatsmacht verspricht ökonomischen Ertrag. Weil dieser Ertrag von oben nach unten vergeben wird, sind politische Organisationen hierarchisch geprägt; weil er ungleich verteilt ist, ist die Gewalt ein inhärentes Mittel der Beziehungen zwischen dem Staat und der Bevölkerung sowie zwischen unterschiedlichen politischen Akteuren.

Die Schwierigkeit für die Opposition ist daher nach wie vor, revolutionäre Arbeit zu organisieren. Es soll nicht mehr darum gehen, erst Staatsmacht zu erlangen, um dann den Staat zu ändern, sondern darum, zu vermeiden, von der Macht des Staates abhängig zu werden. Dazu bedarf es sozialer Netzwerke mit flacher Hierarchie und ohne zentrale Autorität, wie sie sich seit Anfang 2011 etabliert haben. Die Krux dabei aber ist, eine Form der Organisation zu finden, die nicht rigide ist und Spontaneität befördert, ohne sich auf längere Sicht durch Restriktionen, mangelnde Ressourcen oder das toxische politische Klima zermürben zu lassen.

Formen politischer Organisation

Drei Formen von alternativer bis zu konventioneller politischer Organisation konkurrieren dabei um kollektive Selbstermächtigung und Repräsentation: Proteste im Arbeitswesen, ziviler Ungehorsam und Organisation in Parteien.

Ein besonderes Merkmal der Proteste im Arbeitswesen und für soziale Gerechtigkeit ist, dass es den Arbeitern gelang, sich über die Grenzen staatlicher Gewerkschaften hinweg zu organisieren. Bei zunehmender Kriminalisierung von Streiks und der offiziellen Kontrolle korporatistischer Vertretungen wurden stattdessen lokale Alternativen von Aktivismus erschlossen. Diese waren ohne landesweite Koordination zunächst auf einzelne Betriebe beschränkt. Doch konnten auch einzelne Ereignisse, wie beispielsweise der Aufruf zu einem landesweiten Streik am 6. April 2008 in der staatlichen Textilfabrik von Mahalla al-Kubra, breite Wirkung erzielen. Die Bewegung „6. April“, die aus den Ereignissen hervorging, gilt beispielsweise als Wegbereiter der Demonstrationen gegen Mubarak Anfang 2011.

Nur ein paar Tage nach Beginn der „Revolution“ wurde die „Egyptian Federation of Independent Trade Unions“ gegründet, um erstmals die Belange hunderter verschiedener unabhängiger Gewerkschaften landesweit zu vertreten. Dieses Vorhaben richtet sich dezidiert gegen traditionelle Staatsmacht und umfasst viele kleine Auseinandersetzungen, wodurch sich in Solidarität der Arbeiter zueinander ein „neues“ Netzwerk ziviler Institutionen ergeben soll. Hunderttausende Arbeiter sind in den vergangenen zweieinhalb Jahren in diese Auseinandersetzungen involviert. Doch aufgrund anhaltender rechtlicher Restriktionen, politischer Unsicherheiten und der Entschlossenheit alter wie neuer Regierungen, Entwicklungen dieser Art zu unterbinden, ist die Organisation der Belange von Arbeitern weiter umstritten.

Darüber hinaus gibt es anhaltende Proteste und alltägliche Akte zivilen Ungehorsams von Straßenverkäufern, Taxi-, Minibus- und Tuk-Tuk-Fahrern, Bauern oder Hausfrauen, die damit gegen steigende Essenspreise und sinkende Lebensstandards demonstrieren. Diese Aktionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein kleineres Ausmaß haben, spontaner entstehen und gegen unmittelbare Missstände im persönlichen und beruflichen Umfeld gerichtet sind. Sie stellen eine direkte Reaktion auf die schlechter werdenden Lebensumstände in Ägypten dar, unter denen die breite Bevölkerung leidet. Obwohl diese Form des Protests nicht organisiert ist, ergibt sich deren Virulenz daher daraus, die Bevölkerung gegen den Staat aufzubringen, weil der es immer wieder nicht schafft, grundsätzliche Leistungen zu erfüllen.

Vor diesem Hintergrund spielen Parteien in Ägypten eine große Rolle, weil ihnen nach konventioneller Auffassung die Aufgaben politischer Organisation und Vertretung zukommen. Doch ein funktionierendes Mehrparteiensystem hat sich in Ägypten noch nicht entwickelt. Zum einen ist die „Freedom and Justice“ Partei (FJP) der Muslimbrüder trotz aller internen Probleme und gravierenden politischen Fehler bisher die einzige Partei mit ausreichenden Strukturen für landesweite Mobilisierung. Zum anderen drohen die illiberalen Handlungen unterschiedlicher Parteien, wie der Verweis auf das Militär, „Ordnung“ in Ägypten zu bewahren oder einzelne Akteure aus dem politischen Prozess auszuschließen, die „Revolution“ eher zu untergraben. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die FJP (bisher) ohne Konkurrenz da steht, während andere Parteien um Anerkennung ringen. Das wiederum bedeutet, dass die anstehenden Parlamentswahlen nicht das Terrain sind, auf dem die wesentlichen Belange der Revolution – „aish, hurreya, karama“ (Brot, Freiheit und Würde) – erwirkt werden.

Wahlen – und dann?

Nachdem das ägyptische Parlament aufgrund eines Fehlers im Wahlverfahren im Juni vergangenen Jahres aufgelöst wurde, standen neue Parlamentswahlen zunächst für April 2013 an. Doch weil auch diesmal einzelne Artikel des Wahlgesetzes den Vorgaben der neuen ägyptischen Verfassung nicht entsprachen, sind die Wahlen auf Oktober vertagt worden – um Unklarheiten auszuräumen, wie es offiziell heißt. In diesem Rahmen rechtlicher Neu-, Um- und Un-Ordnungen des politischen Prozesses bewegen sich nun die Bemühungen der Parteien, selbst Akzente zu setzen.

Aus der „National Salvation Front“ (NSF), einer Allianz von 35 politischen Gruppierungen, die im November vergangenen Jahres in Reaktion auf die kontroverse Verfassungsdeklaration von Präsident Morsi zum „Schutz der Revolution“ entstanden ist, sind zum Beispiel Aufrufe zum Boykott der Wahlen gekommen. Auch andere Parteien und Persönlichkeiten haben diese Absicht geäußert, um gegen unlautere Maßnahmen des Regimes zu demonstrieren und sich nicht deren Spielregeln eines „nationalen Dialogs“ zu unterwerfen. Weiter heißt es, die Teilnahme würde den Wahlen und den unvermeidlichen Gewinnern nur ungerechtfertigte Legitimität verschaffen.

Andere Stimmen aus dem NSF wie auch einzelne säkulare, pro-Regime und islamische Parteien dagegen erklären, es sei eine „nationale Pflicht“ an den Wahlen teilzunehmen, um ein Machtmonopol der FJP zu vermeiden und um sicherzustellen, dass alle Belange der Bevölkerung in den Wahlen repräsentiert werden. Die Teilnahme an den Wahlen war und ist aber weiterhin an bestimmte Forderungen geknüpft. So sollen beispielsweise einzelne Minister und vor allem der kontroverse Generalstaatsanwalt Talaat Abdallah ausgetauscht und ein neutrales Kabinett eingesetzt werden. Das Wahlgesetz soll außerdem durch eine fairere Verteilung und Gewichtung von Wahlbezirken geändert werden.

Die Entscheidung, die Wahlen auf Oktober zu vertagen, wird so von vielen Parteien in der Opposition als Chance und „Geschenk des Himmels“ angesehen, sich (endlich) gegenüber der FJP zu organisieren und etablieren. Der Nasserist Hamdeen Sabbahi, der bei der Präsidentschaftswahl 2012 nur knapp den Einzug in die Stichwahl verpasste, verbindet mit den kommenden Wahlen daher gar die Möglichkeit, „die Revolution durch die Urnen zu abzuschließen“.

Offenes Ende

Doch diese Hoffnung erscheint illusorisch, weil sich auch in den nächsten Monaten nicht die notwendigen Strukturen erschaffen lassen, um politische Alternativen zu artikulieren und die revolutionären Absichten breiter Bevölkerungsteile zu einem bedeutungsvollen und nachhaltigen Wandel zu mobilisieren. Die NSF zum Beispiel kennen nur 35 Prozent der Bevölkerung; der Hälfte der ländlichen Bevölkerung ist er ganz unbekannt, während 53 Prozent der Menschen, die die NSF kennen, dessen Arbeit ablehnen.

So bleibt die Diskrepanz bestehen zwischen der Selbstermächtigung der Bevölkerung und deren Repräsentation. Es ist bisher keiner Partei gelungen, die losen Strukturen des „pro-Democracy“-Aktivismus, der Arbeiter- und alltäglichen Protestbewegung in einer Koalition zu vereinen. Gleichzeitig repräsentieren offizielle Organe des Staates, allen voran das Militär, aber auch die FJP, die „alte Ordnung“. Die Selbstermächtigung der Bevölkerung ist so genau in dem Maße beschränkt und umstritten, wie sie sich gegen diese Ordnung wendet.

Vor diesem Hintergrund erscheinen Wahlen, die den Aufbau ziviler Institutionen fördern und Bürgerrechte beschützen, als unzureichend. Einzelne nämlich, die keine politische Repräsentation haben, werden in diesem Wettstreit weiter marginalisiert. Reformen und negative Freiheiten sind nicht genug, daran etwas zu ändern. Gleichzeitig ist das Bemühen von Millionen von Ägyptern, die auf unterschiedliche Weise weiter gegen die restriktive Politik der Eliten demonstrieren, deshalb auch richtungsweisend: durch Akte kollektiver Ermächtigung wird so die Grundlage erschlossen, auf der ein neuer, verantwortungsvoller Gesellschaftsvertrag entstehen kann. Solange das passiert, ist die „Revolution“ gleichzeitig am Ende und weiterhin am Leben.

Johannes kam 2011 zu Alsharq und freut sich sehr, dass daraus mittlerweile dis:orient geworden ist. Politische Bildungsarbeit zur WANA-Region, die postkoloniale Perspektiven in den Vordergrund rückt und diskutiert, gibt es im deutschsprachigen Raum nämlich noch viel zu wenig. Zur gemeinsamen Dis:orientierung beschäftigt sich Johannes daher vor...
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