Tunesien, Ägypten, Syrien – die Aufstände in der arabischen Welt brachten ganze Regime zu Fall und lösten sogar einen Bürgerkrieg aus. In Jordanien hingegen waren die Proteste kurzlebig und blieben verhältnismäßig folgenlos. Der Journalist Tamer Khorma war seinerzeit an den Demonstrationen beteiligt. Er erklärt die Ursachen für deren Verlauf und spricht über die derzeitige Situation im Land. Ein Interview von Sascha Lübbe
Herr Khorma, im Zuge des arabischen Frühlings kam es auch in Jordanien zu Protesten. Allerdings hinterließen die Demonstrationen kaum Spuren im Land. Wie kann man das erklären?
Tamer Khorma: Um die Situation von 2011 zu verstehen, muss man sich zunächst die Hintergründe anschauen. Die Proteste in Jordanien hatten zu Beginn sozioökonomische und keine politischen Ziele. Es begann 2006, als Mitglieder des Landwirtschaftsministeriums eine Protestbewegung ins Leben riefen. 2009 wurde die Bewegung größer, es schlossen sich unter anderem Hafenarbeiter an. Es gab damals beispielsweise eine riesige Demonstration im Hafen von Aqaba, auf die die Sicherheitskräfte mit unangemessener Härte reagierten. Es war furchtbar, blieb aber nicht ohne Folgen: Der Zwischenfall mobilisierte die Arbeiterklasse und bestärkte sie in ihren Forderungen.
Welche Forderungen waren das?
Hauptauslöser für die Proteste waren der Ärger über Privatisierung und Korruption. Die Mehrheit der Jordanier war zu dieser Zeit im öffentlichen Dienst beschäftigt. Nach einer Privatisierungswelle hatten sie Angst um ihre Zukunft. 2010 stieß dann auch die Mittelschicht, vor allem die Lehrer, dazu. Aber die Regierung löste die Probleme nicht. Als dann in Tunesien und Ägypten der arabische Frühling anbrach, gelang es den Aktivisten, die schon 2006 die Proteste organisiert hatten, auch in Jordanien die Massen zu mobilisieren.
Wo begannen die Proteste?
Die erste Demonstration fand am 7. Januar 2011 in Dhiban, einem Dorf südlich von Amman, statt. Innerhalb einer Woche wurden dann auch Rufe nach Protesten in der Hauptstadt laut. Aber die Oppositionsparteien zögerten. Sie waren nicht sicher, ob sie teilnehmen sollten. Erst nach langwierigen Diskussionen erlaubten sie der Jugendsektion der Partei, bei den Demonstrationen mitzumarschieren – allerdings ohne das offiziell zu bestätigen.
Wie war die Situation in Amman?
Die Demonstrationen fanden immer freitags in der Innenstadt statt. Die Demonstranten forderten damals allerdings noch nicht den Sturz des Regimes. Sie demonstrierten für soziale Gerechtigkeit, gegen Privatisierung und Korruption. Wenig später erschienen dann auch die Muslimbrüder auf der Bildfläche. Auch sie forderten politische Reformen. Sie wollten nicht den Sturz des Regimes, sie wollten mitregieren. Sie hatten damit gewissermaßen dasselbe Ziel wie die linken Parteien. Zunächst arbeiteten beide auch zusammen. Erst nach der Eskalation in Syrien kam es zum Bruch: Die Muslimbrüder unterstützten die Rebellen, die sozialistischen Parteien standen hinter Assad.
Die nächste große Welle waren die Streiks im November 2012. Was war geschehen?
Der jordanische Premierminister hatte neue Preiserhöhungen angekündigt und damit eine Protestwelle im ganzen Land ausgelöst. Es war gewaltig. Die politischen Parteien konnten die Situation nicht mehr kontrollieren. Auch Jugend- und Stammesorganisationen forderten nun den Sturz des Regimes. Es fühlte sich an, als ob die Revolution jeden Moment ausbrechen würde. Doch dann dauerten die Proteste nur eine Woche.
Warum?
Das Regime handelte sehr geschickt. Es setzte keine Kugeln, keine unverhältnismäßige Gewalt bei den Demonstrationen ein. Es drängte die Menschen nicht zum Äußersten. Auf diese Weise wurde verhindert, dass aus den Protesten eine Revolution wurde. Ein weiterer Grund, warum die Proteste wieder abebbten, war Syrien. Die staatlich-kontrollierten Medien berichteten ständig über die Demonstrationen im Nachbarland, brachten täglich Bilder der Opfer. Das machte die Leute hier vorsichtig. Sie wollten nicht, dass ihnen dasselbe widerfährt. Außerdem gab es die Vorfälle in Ägypten, wo die Muslimbrüder ihre Versprechen nicht gehalten hatten und die Menschen noch immer vor denselben Problemen standen. Das alles ließ die Jordanier verzweifeln. Es funktionierte nicht in Syrien, es funktionierte nicht in Ägypten, warum sollte es in Jordanien funktionieren?
Häufig wird auch die heterogene Struktur der jordanischen Gesellschaft, also der Unterschied zwischen Jordaniern und Palästinensern, als Ursache für den Verlauf der Proteste gesehen. Inwiefern?
Die heutige jordanische Gesellschaft hat zwei Ursprünge: Die palästinensischen Flüchtlinge, die die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, und die „Ur“-Jordanier. Letztere waren es auch, die auf den Straßen demonstrierten. Die Palästinenser blieben den Protesten zunächst fern. Dafür gibt es drei Gründe: Zum einen erkennen Palästinenser Jordanien nicht als ihre Heimat an. Sie sehen sich als Flüchtlinge, die zurück nach Palästina kehren sollten. Zweitens erinnerten sie sich an den Schwarzen September von 1970, als das Militär in Jordanien einen Bürgerkrieg gegen sie begann. Ein weiterer Grund ist, dass die Jordanier stärker von der Privatisierung betroffen waren als die Palästinenser. Es gibt nur wenige Palästinenser, die im öffentlichen Dienst arbeiten.
Wie ist die politische Situation heute?
Wir haben ein gewaltiges Problem mit der Terrororganisation IS. Deshalb haben die Aktivisten auch beschlossen, vorerst nicht mehr gegen die Regierung zu demonstrieren. Sie haben Angst, dass fanatische Islamisten das als Chance für sich sehen würden. Aus diesem Grund sind politische und soziale Reformen jetzt auch umso wichtiger. Andernfalls wird der IS sich in Jordanien festsetzen. Und das wäre furchtbar.
Welche Möglichkeiten sehen Sie für die Zukunft in Jordanien?
Ich sehe drei Möglichkeiten: Erstens, der Unmut der Bevölkerung über die wirtschaftliche Lage wird so stark, dass es zu bewaffneten Aufständen kommt. Die zweite Möglichkeit wäre ein Militärputsch. Und die dritte Möglichkeit ist die, auf die ich hoffe: Dass der König einsieht, dass Reformen notwendig sind und die wirtschaftlichen Probleme des Landes löst. Nur so kann Jordanien überleben.
Tamer Khorma ist Redakteur der jordanischen Online-Zeitung jo24.com. Seine Studie über den arabischen Frühling in Jordanien erschien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.