Tausende Jordanier*innen protestierten während des Ramadan gegen eine geplante Steuererhöhung, so lange, bis der Ministerpräsident zurücktrat. Das Ganze ist bald drei Monate her — und das Land hat sich verändert.
Ende Mai 2018 erlebte das jordanische Königreich Proteste, die es in dieser Größe seit dem sogenannten Arabischen Frühling nicht gegeben hat. Auslöser war der Entwurf für eine Einkommenssteuerreform, der am 30. Mai dem Parlament überreicht wurde und dem Königreich helfen sollte, seine wachsenden Haushaltsschulden durch höhere Steuereinnahmen abzubauen und die Wirtschaft langfristig anzukurbeln. Die Einkommenssteuererhöhung ist Teil eines dreijährigen neoliberalen Sparprogramms, das das Land unter Aufsicht des Internationalen Währungsfonds (IWF) seit 2016 verfolgt.
Die landesweiten Proteste dauerten acht Tage und Nächte an, bis der Ministerpräsident und die Regierung ihren Rücktritt einreichten und der Gesetzesentwurf zurückgezogen wurde. Seitdem warten die Jordanier*innen auf Veränderung. Jedoch ist das neue Kabinett nicht sehr vielversprechend und das Ende einer gesetzten Frist von 100 Tagen für Reformen rückt immer näher. Es bleiben Hoffnungen, Analysen und Einschätzungen der Proteste im Klima danach.
1. Es geht nicht nur um die Einkommenssteuer
Die Einkommenssteuerreform, die dem Parlament am 30. Mai 2018 vorgelegt wurde, war der Auslöser der Proteste in Jordanien. Ihr zufolge hätten alle Jordanier*innen mit einem Jahreseinkommen von mehr als 8.000 Dinar (etwa 9.700 Euro) eine Steuererhöhung von mindestens 5 Prozent verkraften müssen. Gleichzeitig sollte die Grenze des besteuerbaren Familieneinkommens, welches das addierte Einkommen aller Familienangehörigen in einem Haus beschreibt, auf 16.000 Dinar (19.700 Euro) gesenkt werden. Unternehmen sahen einer Steigerung der Gewerbesteuer in den meisten Branchen von bis zu 20 Prozent entgegen. Weiterhin sollte strenger gegen Steuerhinterziehung vorgegangen und ein besseres Kontrollsystem aufgebaut werden.
Die Einkommensteuerreform ist jedoch nur ein Baustein in einer Reihe von Steuererhöhungen und Streichungen von Hilfsgeldern. Anfang des Jahres verabschiedete die Regierung ein umstrittenes Gesetz, welches die Subventionierung der Brotpreise aufhob. Geringverdienende jordanische Familien können eine Auszahlung dieser Subventionen individuell beantragen; Familien ohne jordanische Staatsbürgerschaft sind von dieser Hilfe jedoch ausgeschlossen. Weiterhin wurden Steuern auf Grundnahrungsmittel wie Zucker, Tee, Reis und Milch erhoben, die bis zu diesem Zeitpunkt steuerfrei waren.
Einen Tag nach der Bekanntgabe der genannten Einkommenssteuererhöhung und den ersten Protesten kündigte die Regierung zudem eine Erhöhung der Elektrizitätssteuer von 23,5 Prozent und eine Erhöhung des Benzinpreises von ca. 5 Prozent an. Der Benzinpreis wurde jedoch einen Tag später auf Bitte von König Abdullah II eingefroren.
Die Steuererhöhungen kommen zu einem Zeitpunkt, zu dem die wirtschaftliche Lage in Jordanien angespannt ist. Die Arbeitslosigkeit liegt bei ca. 18,5 Prozent und der Anteil der von Armut betroffenen Menschen wird auf ca. 25 Prozent geschätzt.
Die Steuererhöhungen sind Teil des Haushaltsplanes für 2018, der das Ziel verfolgt, Mehreinnahmen von mindestens 450 Million Dinar (circa 548 Million Euro) zu generieren, um die derzeitige Verschuldung des Landes auf ihrem jetzigen Stand von 37 Millarden Dollar (circa 95 Prozent des BIP) zu halten und langfristig auf 77 Prozent im Jahr 2021 zu reduzieren. Aufgrund der hohen Verschuldung hat Jordanien 2016 einen Kredit des IWF über 723 Millionen Dollar angenommen und sich somit einem über drei Jahre konzipierten neoliberalen Strukturprogramm verpflichtet. Viele der Demonstrierenden sehen daher die Verantwortung für die schwierige wirtschaftliche Lage in Amman und in Washington.
2. Die Proteste: Organisiert ohne Organisation
Als Reaktion auf den Steuerentwurf riefen am 30. Mai mehr als 33 Gewerkschaften zum Streik auf. Die Proteste, die sich bis in die Morgenstunden erstreckten, waren jedoch nicht von den Gewerkschaftsbündnissen organisiert. Viele Teilnehmer*innen lobten gerade, dass die Proteste von niemandem beansprucht wurden und sich von selbst – über soziale Medien, Nachrichten und persönliche Freund*innengruppen – frei organisierten. Die Proteste wurden vor allem von ärmeren Gesellschaftsgruppen sowie von der Mittelschicht getragen, die in den Sparmaßnahmen der Regierung einen gemeinsamen Feind fanden.
Insgesamt waren viele Familien mit ihren Kindern, viele Frauen und Menschen verschiedenen Alters und sozialen Hintergrunds unter den Demonstrierenden. Jordanisch-palästinensische Familien bildeten einen großen Teil der Proteste und gingen zum ersten Mal in der Geschichte Jordaniens auf die Straße. Das machte einen großen Unterschied im Vergleich zu früheren Protesten, sagt Journalist Shaker Jarrar, der für die links-alternative jordanische Nachrichtenagentur 7iber schreibt. Palästinenser*innen ohne jordanische Staatsbürgerschaft sowie Syrer*innen waren nur in sehr geringen Zahlen Teil der Demonstrationen. Sie hielten vor allem Angst und ihr prekärer Rechtsstatus von der Teilnahme ab.
In Slogans forderten die Protestierenden in verschiedenen Städten den Rücktritt der Regierung, speziell des Ministerpräsidenten Hani Mulki, und kritisierten die Korruption in staatlichen Behörden. Die Demonstrierenden waren darauf bedacht, den Protest gegen die Regierung zu richten, jedoch nicht gegen das Regime, was den König und seine Autorität miteingeschlossen hätte. Laut einem Bericht von 7iber wurden die Proteste in kleineren Städten außerhalb der Hauptstadt als gewaltvoller dargestellt, eben weil sie dem gesamten Regime kritischer gegenüberstanden.
Die Proteste verliefen insgesamt friedlich, auch wenn es zwischenzeitlich zu einigen Ausschreitungen kam, zu Rangeleien mit der Polizei, zum Einsatz von Tränengas, zu Straßensperrungen mit brennenden Autoreifen und zu Verhaftungen. Davon abgesehen bestimmte eine fast festliche Stimmung die Proteste - besonders gegen Ende der acht Tage und nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Mulki. Bei Sonnenuntergang wurde das Fasten gebrochen und Essen verteilt, es wurde Tee ausgeschenkt und Musik gemacht. Die Polizei und Demonstrierende aßen zusammen und oftmals waren nicht mehr zwei feindliche Lager erkennbar.
Am letzten Tag der Demonstrationen kam es insbesondere in der Hauptstadt Amman zu einem Stimmungsumschwung, als mehrere Gruppen mit Bannern, die den Namen ihres Stammes trugen teilnahmen. Die großen jordanischen Stämme sind politisch sehr einflussreich und wichtige lokale Kräfte, auf die das Regime angewiesen ist. Einerseits sind sie wichtige Akteure, um den Einfluss von Demonstrationen zu steigern, andererseits bekamen viele Demonstrierende den Eindruck, es ginge weniger um die eigentlichen Ziele der Demonstration, sondern um ein Kräftemessen zwischen der Regierung und den Stämmen.
Die Proteste endeten nicht mit dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Mulki am 4. Juli 2018, sondern dauerten bis zum Rückzug des Entwurfes der neuen Einkommenssteuerreform an, ganz nach dem Prinzip „ein neues Gesicht allein reicht nicht“ - auch nicht das des neuen Ministerpräsidenten Omar Razzaz.
3. Regierung, IWF und die Strategie von König Abdullah II
Ministerpräsident Mulki antwortete auf die Proteste mit dem Verweis, dass die Einkommenssteuer bislang nur ein Entwurf sei, der dem Parlament vorgelegt wurde. Er lehnte es jedoch ab, den Entwurf zurückzuziehen und betonte, es liege in der Hand des Parlaments, über den Entwurf zu entscheiden.
Die Regierung und der IWF verwiesen darauf, dass eine Einkommenssteuer im Gegensatz zu einer Mehrwertsteuer, nicht alle Bürger*innen gleich belaste, sondern insbesondere Geringverdienende entlasten solle. Dies wiederum bestritten die Gewerkschaften und warnten vor einer massiven Verschlechterung der Lebensbedingungen, da die Einkommenssteuergrenze gesenkt und der jeweilige Prozentsatz erhöht würde. Zudem würde sich die Gewerbesteuer für Unternehmen indirekt auf alle Konsument*innen auswirken.
König Abdullah II rief mehrmals zu einem nationalen Dialog auf, verbot den Einsatz von Gewalt gegen Demonstrierende und wiederholte, Geringverdienende sollen nicht unnötig belastet werden. Der König hielt sich ansonsten im Hintergrund der Geschehnisse, während Mulki mit seinem Rücktritt die politische Verantwortung übernahm. Viele der Demonstrierenden wiesen jedoch darauf hin, dass Regierung und Regime wichtige wirtschaftliche Entscheidungen gemeinsam treffen.
Die Proteste kamen politisch günstig für Abdullah II, da sie ihm halfen, die fehlenden Hilfsgelder, die selbst zur schwierigen finanziellen Lage im Land beigetragen hatten, zum Teil wieder einzunehmen. Finanzhilfen aus Saudi-Arabien waren 2017 ausgelaufen und wurden nicht verlängert. Gleichzeitig herrschte Unklarheit darüber, ob Finanzhilfen aus den USA stabil bleiben würden. Zudem erhöhten die USA den Druck auf Jordanien, da sie ihre finanzielle Unterstützung des UN Hilfsprogramms für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) um mehr als die Hälfte kürzten. Der König nutzte nun die Proteste, um die Golfstaaten und die USA daran zu erinnern, wie wichtig ein stabiles Jordanien für die beiden Länder und die Region ist. Eine verbreitete Erklärung für die friedliche Strategie der Regierung gegenüber den Demonstrierenden liegt darin, dass König Abdullah II auf Finanzhilfen aus dem Ausland hoffte und sich durch gutes Benehmen hervortun wollte. Tatsächlich sagten verschiedene Golfstaaten ein Hilfspaket von über 2,5 Milliarden Dollar zu; weniger als erhofft aber immerhin etwas.
4. Stellenwert der Proteste und gesellschaftliche Veränderungen
Auf Grund ihrer Größe, ihrer sozialen Vielfalt und ihrer politischen Tragweite wurden die Proteste häufig mit denen des „Arabischen Frühlings” verglichen. Doch sie unterschieden sich von diesen in vielerlei Hinsicht. Die Vorsicht der Menschen, nicht in eine Spirale von immer neuen Demonstrationen mit immer neuen Forderungen bis hin zum Fall des Regimes zu geraten, war merklich spürbar. Somit haben die beteiligten Akteure beim Formulieren der Slogans besonders stark darauf geachtet, eine deutliche Unterscheidung zwischen den Wörtern „Regierung” und „Regime” zu machen und sich vom Auftreten der einflussreichen jordanischen Stämme zu distanzieren. Viele der Demonstrierenden, mit denen ich gesprochen habe, beschrieben die Proteste als Beweis dafür, dass Demonstrationen eine nachhaltige Form der politischen Beteiligung sind, die sich in Jordanien erstmals in dieser Form gezeigt hat. Viele der Demonstrierenden nannten den größten Gewinn der Proteste, dass die Menschen ihre Angst verloren haben auf die Straße zu gehen und ihre Rechte einzufordern. Noch im Jahr 2012 fanden große regimekritische Proteste statt, die gewaltvoll von der Polizei beendet wurden. Seitdem hat es nicht einmal die Erhöhung der Brotpreise geschafft, die Menschen auf die Straße zu bringen. Die Ramadan-Proteste haben jedoch gezeigt, dass das Volk eine aktive Rolle in der Politik spielen kann. Wenn es diese Rolle auch in Zukunft beibehält, haben die Proteste eine wichtige demokratische Veränderung bewirkt.
5. Das Klima danach
Seit dem Ende der Proteste Anfang Juni werden Reformen in der Steuerpolitik und Korruptionsbekämpfung erwartet. Jedoch hat die Hoffnung der Jordanier*innen auf Veränderung mit der Bekanntgabe des neuen Kabinetts merklich abgenommen. Das liegt vor allem daran, dass mehr als die Hälfte der Minister schon Teil der vorherigen Regierung waren. Somit repräsentieren sie das Gegenteil der erhoffen Veränderung. Viele Bürger hatten sich zudem eine Verjüngung der Regierung erhofft, jedoch sind viele der Minister weiterhin aus der Generation 50 und älter.
Zugleich gilt Omar Razzaz als volksnah und viele Bürger vertrauen seinen konkreten Versprechen, die etwas hoffnungsvolle Stimmung erwecken. Seine Arbeit mit der Weltbank im Libanon wird von den Einen als Beweis für sein Expertenwissen gesehen und von den Andren scharf kritisiert. Er kündigte an, die staatlichen Ausgaben um 150 Millionen Dinar zu kürzen. Damit will er verhindern, dass das Haushaltsdefizit nicht lediglich über Steuereinnahmen ausgeglichen wird. Zum Beispiel soll die lebenslange Rente für Abgeordnete angetastet und die Ministergehälter gekürzt werden. Gleichzeitig kündigte der Ministerpräsident an, eine online-Plattform aufzubauen, auf der Bürger Vorschläge und Beschwerden einreichen können. Somit sollen die Bürger direkt in den Entscheidungsfindungsprozess mit einbezogen werden. Weiterhin hat der neue Ministerpräsident das Ziel, die staatlichen Sozialleistungen zu verbessern. Vor einer Erhöhung der staatlichen Ausgaben in den Bereichen Bildung und Gesundheitswesen könne es keine weiteren Steuererhöhungen geben. In Bezug auf die Einkommensteuer kündigte der Ministerpräsident eine grundlegende Überarbeitung des Entwurfes an. Wie diese Überarbeitung aussehen wird, müssen die nächsten Wochen zeigen.
Soweit bleibt es bei Versprechen und die Bürger warten auf ihre Umsetzung. Es wurde eine Frist gesetzt, doch diese scheint eher symbolisch zu sein als konkreten Druck aufzubauen. Ministerpräsident Razzaz hat 100 Tage um Veränderungen durchzuführen. Konkret soll er alle Steuererhöhungen zurücknehmen und zusätzlich eine flächendeckende Krankenversicherung einführen. Die meisten Bürger vermuten, dass es bei Ablauf der Frist vorerst zu keinen weiteren Protesten kommen wird. Journalist Shaker Jarrar stimmt dieser Vermutung zu, allerdings hänge es davon ab, ob die 100 Tage Frist im nächsten Monat noch ein größeres Momentum aufbauen kann. Ansonsten seien Proteste nach etwas längerer Zeit, einem halben Jahr oder Jahr, wieder denkbar, wenn sich gar nichts verändert.
Mit Ausnahme der Einkommenssteuer bleiben die anderen Steuererhöhungen und Subventionsstreichungen, beispielsweise auf Strom und Brot, weiterbestehen. Somit war es ein kluger Zug seitens der Regierung, am ersten Tag der Proteste neue Steuererhöhungen einzuführen, um im Laufe der Demonstrationen nur einen Teil dieser als Beschwichtigung wieder zu streichen.
Doch es gibt Veränderung im Land. Die Bürger haben aktiv in die Politik eingegriffen und einen Impuls für politische Teilhabe und demokratisches Bewusstsein gesetzt, außerhalb von institutioneller Politik, die lange ihre Glaubwürdigkeit verloren hat. Ein weiteres Zeichen für Veränderung ist die zahlreiche Teilnahme von Frauen in den Protesten. Außerdem hat Razzaz’ neue Regierung mit 7 von 28 die größte Anzahl Ministerinnen in der Geschichte Jordaniens. Natürlich bleiben grundlegende strukturelle Probleme bestehen. Korruption, Vetternwirtschaft, Unterrepräsentation von Frauen in staatlichen Positionen oder die politische Diskriminierung von Minderheiten sind Themen, die die Demonstrationen in verschiedenen Formen aufgriffen und diskutierten. Obwohl Razzaz diese Probleme thematisiert und Veränderung anstrebt, besteht die Angst, dass er als einzelner Politiker nicht viel ausrichten kann. Es braucht langfristige Veränderung, um grundlegende strukturelle Probleme zu lösen. Bis dahin ist eines sicher: Das Volk ist ein aufmerksamer Begleiter geworden.