23.08.2013
Blutige Wahlverwandtschaften
Alle gegen Einen: Militärgewalt in Ägypten. Foto: Nora Shalaby/Flickr
Alle gegen Einen: Militärgewalt in Ägypten. Foto: Nora Shalaby/Flickr

Mit Worten lässt sich die Tragik der aktuellen Ereignisse in Ägypten nicht erfassen, nur verklären. So offenbart das Morden die Allianzen, die den Tod für ihre Interessen „rechtfertigen“. Die Konsequenzen daraus betreffen uns alle, weil sie nach Aufrichtigkeit im Urteil verlangen.

„As the victims increased so did our commitment to the success of our enterprise and to the justice of our position, and going back became even more impossible. And thus, step by step, we walked into a river of blood, and then waded in it.“
Ezzedine Choukri Fishere: Bab el Khoroug (No Way Out)

 

Die Gewalt in Ägypten verläuft nach einem morbiden Kalkül. Dieses Kalkül soll die Realität verklären, um eine „Rechtfertigung“ dafür vorzutäuschen, Gewalt mit Gegen-Gewalt zu erwidern; der Tod von mehr als tausend Menschen ist dabei unerheblich, weil die Allianzen über Tod und Leben schon gebildet sind. Im Kampf gegen den „Terrorismus“ der Muslimbrüder wurde deshalb ein nationaler Notstand verhängt, in dessen Zuge Gerichtsverfahren umgangen werden können und die Sicherheitskräfte autorisiert wurden, „mit eiserner Hand“ gegen die „Staatsfeinde“ vorzugehen. Und auch die Muslimbrüder haben die Konfrontation befeuert, indem sie ihre Opferrolle kultivieren, um Vergeltung zu fordern.

Dabei unterstützen dem Vernehmen nach alle die „Revolution“, zum Wohle der Menschen natürlich. Doch von diesen Erklärungen lassen sich keine Prämissen ableiten, wie sie tatsächlich zu erfüllen ist. Vieles dabei ist Verhandlungssache und im Prozess der Auseinandersetzung umstritten. Das Recht auf Leben aber ist so fundamental, dass all diejenigen zu Komplizen des Tötens werden, die Menschenleben riskieren, um ihre Interessen durchzusetzen. Worte zur Unterstützung der „Revolution“ machen es nur schlimmer, weil sie falsche Sympathien und Solidarität heucheln, wo Lügen gestreut werden, um Fakten zu vertuschen, die so tragisch sind, dass man sie mit Worten kaum erfassen kann.

Doch diese Bekundungen sind letztlich bedeutungslos. Denn gerade im Verlauf der Ereignisse, die ihnen zugrunde liegen, offenbaren sich die Verhältnisse, die das Leben in Ägypten bestimmen: dass nämlich ein nationalistisches Militärregime seine Position festigt, indem es mordet und dabei sinistre Allianzen mit ägyptischen und ausländischen Kräften schmiedet. Dadurch betreibt es eine Restauration, die breite Teile der Bevölkerung gegen die Muslimbrüder aufbringt; die verfolgen ihrerseits einen exklusiven Machtanspruch, werden jetzt aber „im Sinne der Stabilität des Landes“ drangsaliert.

So haben die Ereignisse der vergangenen Tage vor allem deutlich gemacht, wie viel Macht Einzelne über das Leben Anderer haben. Und über alle faulen Loyalitätsbekundungen hinweg ist jetzt auch endlich klar, wer mit wem kollaboriert und zu welchem Zweck: nämlich um aus Opportunismus und Machtkalkül die „Revolution“ von 2011 mit ihren Forderungen nach Wandel, Freiheit und Gerechtigkeit endgültig zu zerschlagen. Im Zentrum dieses Konflikts ist das Militär, das so machtvoll ist (und immer war), dass es die Geschicke des Landes zu seinen Gunsten beeinflussen kann.

Klare Verhältnisse

Es überrascht daher nicht, dass kurz nach der Absetzung Mohamed Mursis durch das Militär am 3. Juli plötzlich wieder genug Strom, Gas und Benzin zur Verfügung stand. Zuvor ächzte die Bevölkerung unter mangelnder Versorgung. Das Militär kann die Muslimbrüder zudem leicht in Almosen überbieten. Mit seinem Wirtschaftsimperium, das bis zu 30 Prozent des ägyptischen Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet, ohne jedoch Steuern dafür zahlen zu müssen, kann das Militär zu subventionierten Preisen Wasser, Reis, Fleisch, Öl und Benzin sowie Immobilien und Ferienwohnungen anbieten. Das Militär, so die Botschaft, ist der Garant für die Sicherheit ebenso wie die Wohlfahrt im Lande.

Bei so viel Macht biedern sich Viele an, um sich ihr Stückchen des Kuchens zu sichern. Das befördert eine Propaganda, im Zuge derer die Dinge nicht beim Namen genannt werden dürfen und das Morden verklärt wird. So bleibt das Militärregime auch entgegen klarer Beweise nach zwei Jahren eklatanter Menschenrechtsverletzungen straffrei. Die US-Regierung, der größte Financier des Militärs, bezeichnete daher den Sturz Mursis aus Angst vor den rechtlichen Konsequenzen nicht als Coup, sondern lobte das Militär dafür, die „Demokratie in Ägypten wieder herzustellen“ (so Außenminister Kerry). Auch von Seiten Saudi-Arabiens, der Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrains, Kuwaits sowie Israels wird Unterstützung für das Militär bekundet – alles Wahlverwandtschaften, wie sich jetzt zeigt, für die es zwar unterschiedliche Motive geben mag, denen aber die repressive Intention gemein ist.

Die ägyptischen Medien überbieten sich derweil in Lobhudeleien des Militärs, das den Terrorismus bekämpft, wie das Staatsfernsehen in Dauerschleife erklärt. Kaum ein Wort zur unverhältnismäßigen Gewalt durch die Sicherheitskräfte oder zum Leid der Muslimbrüder, während immer wieder Kriegsfilme gezeigt werden, die die heroische Rolle des Militärs feiern, das 1973 den Sinai „befreit“ hatte. Und wenn doch einmal ein kritisches Wort erhoben wird, meldet sich der staatliche Informationsdienst, um „Objektivität“ zu ermahnen. So werden Meinungen normiert und Majorität durchgesetzt.

Diese Situation offenbart, dass der politische Prozess durch obsessive Sicherheitsbedenken korrumpiert ist. Der Verweis auf die Stabilität im Land, wirtschaftliche Verbindlichkeiten (Stichwort: Suez-Kanal bleibt offen) oder internationale Verantwortung (wie beispielsweise gegenüber Israel) ist ein restriktives Prärogativ. Damit ist noch ein weiteres Motiv verbunden, dessen destruktive Kraft in den vergangenen Tagen endlich deutlich geworden ist: nämlich das simpler Binarität.

Eine Alternative ohne Alternativen

So wird oft zwischen Säkularen und Islamisten, Islamisten und Liberalen, der Armee und den Muslimbrüdern unterschieden. Die vielen Nuancen und gegenseitigen Verbindungen spielen dabei keine Rolle. Dann ist die Überraschung groß, wenn diejenigen, die demokratisch gewählt wurden, plötzlich nicht liberal sind (Muslimbrüder), während viele „liberale“ Kräfte demokratische Werte verletzen, weil sie sich mit dem Militär einlassen. Das gefährliche daran ist, dass aus Unwissen oder dem Glauben daran, dass diese Prärogativen alternativlos seien, genau die Mächte unterstützt werden, die von dieser Instrumentalisierung profitieren, weil sie schon Macht haben. Wie riskant es dann ist, stattdessen mit „dem kleineren Übel“ oder „alten Bekannten“ zu kooperieren, zeigt sich jetzt in aller Dramatik.

Die Katastrophe der vergangenen Tage hat sich daher schon lange abgezeichnet. Das Ausmaß der Gewalt war vielleicht nicht vorhersehbar. Dabei war der Aufruf nach Mäßigung vergeblich, weil die Machtverhältnisse auf dem Spiel stehen. Jetzt ist klar: das Militär regiert autoritär, indem es die Öffentlichkeit aufwiegelt und in der Lage ist, Andere ungestraft auszulöschen; dagegen ist es unaufrichtig und analytisch falsch, den Muslimbrüdern, auch angesichts all ihrer Fehler, unverzeihlich wie sie sein mögen, die Schuld für die Krise zuzuschieben. Denn die Gewalt ist vor allem im Sinne des „deep state“, der Allianz aus Sicherheitskräften, alten Garden und säkularen Nationalisten, weil sich die Auseinandersetzung dadurch polarisieren und Repression damit „unvermeidlich“ wird.

So ist die letzte Konsequenz der aktuellen Ereignisse: die Forderungen nach Brot, Freiheit und Gerechtigkeit können nicht erfüllt werden, solange die Bevölkerung sich zerfleischen lässt. Nur vereinzelt und im Kleinen wird der Staatsgewalt noch Einhalt geboten. Doch muss gerade jetzt der gesellschaftliche Raum dafür geschaffen werden, um eine Alternative zu finden, die das Recht auf Leben mehr schätzt als die Interessen Einzelner. Alles andere ist ein Verbrechen. Allen Erklärungen zum Trotz.

Johannes kam 2011 zu Alsharq und freut sich sehr, dass daraus mittlerweile dis:orient geworden ist. Politische Bildungsarbeit zur WANA-Region, die postkoloniale Perspektiven in den Vordergrund rückt und diskutiert, gibt es im deutschsprachigen Raum nämlich noch viel zu wenig. Zur gemeinsamen Dis:orientierung beschäftigt sich Johannes daher vor...