23.12.2016
Barrfý – ein afghanisches Schneefest
Ein kalter Winter bedeutet in Afghanistan eine reiche Ernte im nächsten Jahr - diesem Mann hier in Kabul dürfte das aber in dem Moment nicht so wichtig sein... Foto: PJ Tavera Photography /Flickr, https://flic.kr/p/bsuXz8, CC BY-NC-ND 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/.
Ein kalter Winter bedeutet in Afghanistan eine reiche Ernte im nächsten Jahr - diesem Mann hier in Kabul dürfte das aber in dem Moment nicht so wichtig sein... Foto: PJ Tavera Photography /Flickr, https://flic.kr/p/bsuXz8, CC BY-NC-ND 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/.

Weihnachtsbaum, Geschenke, Verwandtschaftsbesuch erwartet die meisten Menschen in Deutschland in den nächsten Tagen. Doch winterliche Bräuche gibt es auch anderswo, zum Beispiel in Afghanistan: Wer den ersten Schnee bemerkt, muss schnell sein – oder er wird schwarz im Gesicht. Am Ende gibt's auf jeden Fall eine Party, erzählt Hewád Laraway.

Dort, wo ich aufgewachsen bin, wird der erste Schnee im Winter richtig groß gefeiert. Es gibt einen sehr leckeren deftigen Winterschmaus namens „Kecheri Quroot“ und danach eine Party durch die lange Winternacht, in der musiziert, gesungen und getanzt wird. Das Ganze fängt mit einem witzigen Spiel namens „Barrfý“ bereits am frühen Morgen an, von dem ich dir im Folgenden erzählen möchte.

In Berlin, wo ich seit einer Weile mein neues Zuhause gefunden habe, hat jetzt der Winter begonnen. Bald fällt wieder dieses mysteriöse weiße Unbekannte vom Himmel, das alle umhaut. Die jahreszyklische allgemeine Amnesie ist plötzlich mit einem flauschigen, aber kalten Schlag von oben vorbei. Zuerst legt es die unverbesserliche Berliner S-Bahn lahm, aber auch der Straßenverkehr wird davon überrascht. Jedes Jahr immer wieder. Die meisten – der großen – Leute sind ziemlich mitgenommen von dieser Überraschung; sie schimpfen über jeden und alles – sei es beim Warten am kalten, vollen Bahnsteig oder im Stau.

Aber bloß nicht falsch verstehen – meine etwas bräunliche Haut ist kein Zeugnis von einem gediegenen Leben am sonnigen Strand, sondern von meinem Leben auf 2.000 Meter Höhe, wo die Stadt Kabul liegt. Das ist quasi wie in den Alpen aufwachsen – nur ohne Bier und weit ausgeschnittenen Dirndln. Der afghanische Winter ist daher extrem kalt. Nicht (nur) aufgrund mangelnder Dirndl und Bier, sondern auch rein klimatisch betrachtet.

Aufgrund der Kälte haben die Kinder drei Monate schulfrei

Ständiges Frieren bei Temperaturen von minus 20 bis minus 30 Grad gehört zur winterlichen Normalität in Kabul. Das Alltagsleben der Menschen in dieser klirrenden Kälte gestaltet sich so beschwerlich, dass die afghanischen Kinder ganze drei Monate schulfrei bekommen! Das hindert sie aber nicht daran, in dieser freien Zeit draußen den ganzen Tag Schneeballschlacht zu spielen und ihre bunten Drachen steigen zu lassen.

Aber auch die großen ausgewachsenen Kinder in Afghanistan haben ihren Spaß dabei – zumindest für diesen einen Tag, wenn es zum ersten Mal im Winter schneit. Sie feiern nämlich ein fröhliches Fest namens „Barrfý“.

„Der Schnee ist unser, das Schneefest euer!“

In Afghanistan gibt es den ersten Schneefall fast immer in den späten Nachtstunden, sodass die Leute am nächsten Morgen davon überrascht werden. Wenn du als Erstes den neuen Schnee in der Morgendämmerung entdeckst, dann nimmst du etwas von dem Schnee, versteckst ihn in einer Tüte und gehst damit zu deinem Nachbarn, einem Freund oder Verwandten. Du klopfst an die Tür und wenn dir aufgemacht wird, drückst du diese Schneetüte dem Anderen in die Hand. Du musst aber unbedingt den berühmten Spruch vom Barrfý-Fest bei der Übergabe aufsagen: „Barrf az ma, Barrfý az shoma!“. Ins Deutsche übersetzt geht der Spruch etwa so: „Der Schnee ist unser, das Schneefest euer!“

Danach musst du ganz schnell wegrennen. Wenn es dir gelingt, das Überraschungsmoment zu nutzen, dann hast du das Spiel gewonnen. Der Verlierer, der die Schneetüte im Halbschlaf empfangen hat, muss dafür eine Party schmeißen. Sollte aber der andere Mensch den Schnee auch schon entdeckt haben, dann wird er im Eingangsbereich etwas Kohle, Ruß oder ähnliches für solche Besucher bereithalten. Wenn du dann morgens an seine Tür klopfst, macht er auf, hält dich mit deiner Überraschungstüte sofort fest und schmiert dich ordentlich mit der Kohle ein. In diesem Fall hättest du dann verloren und müsstest selbst die besagte Party für das Schneefest ausrichten.

Hetzjagd barfuß und in Schlafklamotten durch den Schnee

Oft gibt es dabei ein lustiges Gezerre an der Tür, wo die zwei Leute hartnäckig versuchen zu gewinnen. Das kann sich nach draußen bis auf die Straße verlagern. An dem Morgen des ersten Schneefalls sieht man häufig, wie einige Leute in ihren Schlafklamotten und sogar barfuß durch den Schnee rennen, um den anderen Typen zu fangen. Doch egal wie dann die Verfolgung durch den Schnee ausgeht: Es gibt in jedem Fall eine Party! Die Übergabe des Schnees steht also für viel mehr als nur der Spaß am Spiel. Ein schneereicher Winter signalisiert meist einen darauffolgenden fruchtbaren Frühling und damit eine gute Ernte im nächsten Sommer. Man gratuliert sich und feiert gemeinsam den – schneereichen – Winter.

Video zum Thema:

Afghan Memories from Hewád Laraway on Vimeo.

 
Zum Projekt Afghan Memories:

Mit der Entwicklung eines digitalen Geschichten-Archivs wollen wir – ein interdisziplinäres und internationales Team aus den Bereichen Film, Fotografie, Journalismus, Menschenrechte und Performance – die oftmals einseitige Darstellung und Wahrnehmung von Afghanistan in den deutschen Medien und Gesellschaft in Frage stellen. Dazu richten wir ein Aufnahmestudio ein, in das wir Geschichten, Erfahrungen und Erinnerungen aus Afghanistan und von der afghanischen Diaspora sammeln wollen. Komm in das Afghan Memories Studio und lade jemanden ein, der/die eine Geschichte zu erzählen hat! Die einzelnen Erzählungen werden Teil eines Online-Archivs, welches das Bewusstsein für die Erfahrungen und Lebensrealitäten aus Afghanistan und dem Exil schärfen soll.

Mehr Infos zu Afghan Memories und Möglichkeiten, einen Studio-Termin zu reservieren, gibt es unter afghanmemories.org

Artikel von Hewád Laraway