01.10.2021
Aus dem Kokon
Seinen eigenen politischen Weg zu finden ist oft mit Irrungen und Neuorientierungen verbunden – für Palästinenser:innen wie für Israelis. Illustration: Kat Dems.
Seinen eigenen politischen Weg zu finden ist oft mit Irrungen und Neuorientierungen verbunden – für Palästinenser:innen wie für Israelis. Illustration: Kat Dems.

Nicht nur im pro-palästinensischen Milieu werden junge Menschen wie Nemi El-Hassan politisch instrumentalisiert. Auch für jüdische Menschen ist es schwierig, sich von den Positionen des eigenen Umfelds loszulösen, findet Marina Klimchuk.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Es gibt ein Foto von mir als 19-jährige, geschossen irgendwo im Norden Israels. Ich lächele in die Kamera, eingewickelt in eine überdimensionale israelische Flagge, gesättigt von Stolz und dem Gefühl, dazuzugehören. Aufgenommen wurde das Foto 2008 auf einer Gruppenreise mit unserem Jugendzentrum einer jüdischen Gemeinde in Bayern. 

Auf der Rundreise durch Israel bestiegen wir das Nationalsymbol des jüdischen Widerstandes: die Palastfestung Masada am Toten Meer. Wir wanderten durch die Golan-Höhen und tanzten am Unabhängigkeitstag in Tel Aviv zu israelischer Popmusik. Mit unserem Reisebus fuhren wir zum Wildwasserrafting in die Provinzstadt Kiryat Shmona an der Grenze zum Libanon und hörten allesamt unter Tränen die berührende Geschichte eines Mädchens, deren Bruder nicht aus dem Krieg zurückgekehrt war, den Israel im Jahr 2006 gegen die Hisbollah im Libanon geführt hatte.

Erschöpft und überglücklich

Wir trafen Soldat:innen, die uns von ihren Erfahrungen an Checkpoints und mit palästinensischen Menschen berichteten, die sie Terrorist:innen nannten. Einen ganzen Tag lang spielten wir mit ehemaligen Kommandant:innen die „authentische“ Armeeerfahrung nach, spielten Krieg, rannten Rekordgeschwindigkeiten und krochen auf Ellenbogen gestützt und in Armeeuniform auf dem steinigen Wüstenboden.

Jede:r von uns durfte einmal mit einem echten Maschinengewehr auf ein Ziel schießen. Nur ich und noch ein Mädchen wollten nicht schießen – nicht aus politischen Gründen, sondern einfach so, intuitiv. Am Ende des Tages sangen wir alle gemeinsam die Hatikvah, die israelische Nationalhymne und campten in der Negev-Wüste. Nach zwölf Tagen Abenteuer war ich erschöpft und glücklich und dachte: Das war der beste Trip meines Lebens. Ich nahm mir fest vor, später nach Israel zu ziehen.

Als wenige Monate später im Dezember israelische Truppen in der Militäroperation „Gegossenes Blei“ den Gazastreifen angriffen und innerhalb von drei Wochen über 1000 palästinensische Zivilist:innen töteten, demonstrierte ich gemeinsam mit anderen jungen Menschen aus dem Jugendzentrum mit selbstgebastelten Plakaten und Flaggen für Israels Recht auf Selbstverteidigung.

Israel zu unterstützen und gleichzeitig in Deutschland linke Positionen zu beziehen, stellte für mich keinen Widerspruch dar: Dazu fehlte mir das Wissen und auch das Verständnis, wie man überhaupt an alternative Informationen zu dem Thema kommen könnte. Vielleicht war ich auch nicht neugierig genug, um auf eigene Faust zu recherchieren. Ich wusste nur: Der Konflikt ist kompliziert und als jüdische Person fühlte ich mich dazu berufen, Israel in kontroversen Diskussionen zu verteidigen. Von der Besatzung der palästinensischen Gebiete hatte ich noch nie gehört, von der Hamas und Selbstmordanschlägen dafür schon. Meine Welt war eingebettet in die Realität des Jugendzentrums, wo ich Betreuerin war.

Nur auf den ersten Blick unpolitisch

Im Jugendzentrum waren die allermeisten Aktivitäten auf den ersten Blick nicht explizit politisch. Es ging um Zusammenhalt, darum, Kindern jüdische Identität und Traditionen näher zu bringen, Feste zu feiern, Lieder auf Hebräisch zu singen. Sich trotz christlicher Mehrheitsgesellschaft in Deutschland sein Jüdisch-Sein zu bewahren. Pro-israelische Politisierung war ein selbstverständlicher und beiläufiger Nebeneffekt dieser Institution, über den ich erst viel später im Studium nachzudenken begann.

Diese persönlichen Erlebnisse mit dem Fall Nemi El-Hassans zu vergleichen, die als 21-jährige am antisemitischen Al-Quds-Marsch teilnahm, wird der Sache vielleicht nicht gerecht. El-Hassan, die die Sendung „Quarks“ beim WDR moderieren sollte, darf dies aufgrund von Antisemitismusvorwürfen nicht mehr tun: obwohl sie sich entschuldigt und von ihrer Teilnahme am Marsch distanziert hat. Ihre pro-palästinensischen Positionen behielt sie aber bei, etwa indem sie auf Facebook Organisationen wie die Jewish Voice for Peace unterstützt. Diese wurde von der Bild-Zeitung abfällig und simplifiziert als „linksaußen-Organisation, die für Stimmungsmache gegen Israel und Unterstützung der antisemitischen Boykott-Bewegung BDS bekannt ist“ bezeichnet. Nach eigenen Angaben steht die Organisation für Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Würde aller Menschen und gründet ihre Werte in Menschenrechten und dem Völkerrecht.

Ich war auf keinen Demonstrationen, auf denen menschenverachtende Parolen gegrölt und zur Zerstörung von ganzen Staaten aufgerufen wurde. Und doch muss ich an meine eigene Geschichte denken, seit El-Hassan zur Zielscheibe von Hass und Hetze wird. Nur zu gut weiß ich, wie es ist vom eigenen sozialen Umfeld politisch instrumentalisiert zu werden. Denn die durch diese Mechanismen entstehende Polarisierung der Gesellschaft kennzeichnet nicht nur das pro-palästinensische Milieu. Sie ist ein breites gesellschaftliches Phänomen, von dem auch jüdische Jugendliche nicht verschont bleiben.

In zionistische Ideale hineinsozialisiert

Meine eigenen Erfahrungen innerhalb einer Gemeinde sind vielleicht wenig repräsentativ – weder für die Mehrheit der jüdischen Gemeinden in Deutschland noch für das breite politische Spektrum, das jüdische Menschen vertreten. Aber sie sind so passiert und ich nehme an, sie sind kein Einzelfall. Sie zeigen, dass Jugendliche auch in jüdischen Gemeinden in eine Solidaritätshaltung mit Israel und zionistischen Idealen hineinsozialisiert werden, die nichts mit dem wichtigen und richtigen Kampf gegen Antisemitismus zu tun hat.

Zwar werden innerjüdische Meinungsvielfalt und Dialog gerühmt und es wird nicht offen zur physischen Gewalt aufgerufen. Gleichzeitig werden historische Fakten verklärt und um politische Unterstützung eines Staates und seiner aggressiven Politik geworben, indem die Militarisierung der israelischen Gesellschaft verharmlost und romantisiert wird. Dieser Ansatz legitimiert physische und strukturelle Gewalt, selbst wenn er sie nicht ermutigt. Palästinenser:innen werden in diesem Diskurs entweder als Terrorist:innen etikettiert oder bleiben unsichtbar. Das ist höchst problematisch – wird aber nirgendwo öffentlich kritisiert.

Heute bin ich israelische Staatsbürgerin und lebe trotz allem gerne in diesem Land. Die Indoktrinierung hinter mir zu lassen, die ich als Jugendliche erfahren habe, hat viele Jahre gedauert. Mittlerweile weiß ich, dass Jüdisch-Sein und die Unterstützung des Staates Israel nicht zusammengehören, sondern zwei Paar Schuhe sind.  Politischer Instrumentalisierung zu entkommen ist also möglich, wenn auch nicht selbstverständlich. Das zeigt auch der Fall Nemi El-Hassan, die sich heute klar von den Parolen des El-Quds-Marsches abgrenzt und alles andere als antisemitische Positionen vertritt. Nur, dass die Gesellschaft ihr das nicht glaubt.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Kat Dems finden sich auf ihrem Instagram-Account oder auf ihrer Webseite.

 

 

Marina ist in der Ukraine geboren und als Kind nach Deutschland eingewandert. Sie ist freie Journalistin, leitete bis zur Corona-Pandemie politische Studienreisen in Israel und Palästina und führte Gruppen durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Im Moment besucht sie die Reportageschule in Reutlingen.
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Johanna Luther