06.10.2023
„Arabic Glitch: Technoculture, Data Bodies, and Archives”
Im Rahmen von Protesten 2011 in Ägypten werden digitale Endgeräte geladen. Foto: A. Hickson, flickr.
Im Rahmen von Protesten 2011 in Ägypten werden digitale Endgeräte geladen. Foto: A. Hickson, flickr.

Laila Shereen Sakr beschreibt in ihrem Buch die Entstehung einer digitalen Infrastruktur in WANA. Diese ist eng verbunden mit den Erfahrungen digitaler Aktivist:innen, Blogger:innen und Softwareentwickler:innen.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher und Filme vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

In ihrem Sachbuch „Arabic Glitch” (2023) beschreibt Laila Shereen Sakr ein Phänomen, das sie als Störimpuls, auf Englisch glitch, der digitalen arabischen Welt charakterisiert. Ein glitch kennzeichnet eine systemische Verlustkontrolle – vergleichbar mit dem Ausrutschen auf einer Bananenschale. 

Indem sie glitches auf die digitale Welt anwendet, stellt Sakr eine Medientheorie auf, die erklärt, dass digitale glitches zwar eine Störung im System, aber auch eine Art Freiheit und Optimierungsmöglichkeit für den digitalen Aktivismus in WANA bedeuten. Solche Störimpulse hatten ihre Anfänge in den 1990er Jahren und entwickelten sich durch die Praxis der verschiedenen Blogger:innen und Softwarentwickler:innen in WANA weiter: So wurden zum Beispiel 2011 während des Maspero-Massakers Videos online gestellt, die die staatlichen Medien in Ägypten störten. 

Digitaler Aktivismus in WANA am Beispiel Ägypten

Der ägyptische Blogger und Softwareentwickler Alaa Abdel Fattah zieht sich wie ein roter Faden durch die fünf Buchkapitel. Aufgrund seines sozialkritischen Aktivismus sitzt Abdel Fattah seit 2011 immer wieder im Gefängnis. Bereits 2004 hatte er erste sozialkritische Blogs mitbegründet und verhalf, die Blogs anderer digitaler Aktivist:innen bekannt zu machen, indem er sein Wissen an diese weiter vermittelte. 

Viele der ägyptischen Blogger:innen und Softwareentwickler:innen sind unter der Herrschaft des ehemaligen Präsidenten Husni Mubarak auf die Welt gekommen. Sie legen ihre Probleme auf Websites und in Blogs offen und schaffen sich somit eine hybride Identität, die einerseits in der realen Welt fußt, und andererseits die digitale Welt mitgestaltet. Die Aktivist:innen verstehen die Arbeit von Sakr und die Störimpulse daher nicht nur als ein Phänomen, sondern auch als eine Art Widerstand gegen die offizielle Narrative, die von staatlichen Medien in WANA genutzt werden . 

Laila Shereen Sakr aka VJ Um Amel

Neben ihrer Arbeit als ägyptisch-amerikanische Autorin und Professorin für Medientheorie ist Laila Shereen Sakr selbst digitale Aktivistin und Softwareentwicklerin.  Noch bevor soziale Medien groß wurden, hat Sakr mit ihrem Archiv R-Shief eine komplexe Medien-Plattform zur digitalen Datensammlung und -analyse für Aktivist:innen in WANA entwickelt. 

R-Shief  half dabei, auf politische Ereignisse zu reagieren und diese besser zu verstehen. Insbesondere während der Revolutionen im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 kam die Plattform zur Anwendung. Mit ihrer Hilfe konnten wichtige Ereignisse dokumentiert und analysiert werden, wie beispielsweise den Sturz Gaddafis in Libyen. Die erste Software-Version von R-Shief sammelte so beispielsweise Twitter-Beiträge anhand deren Hashtags und visualisierte diese auf einem gemeinsamen Server. Einer der ersten Hashtags, der auf R-Shief archiviert und visualisiert wurde, war #Gaza

Während ihrer Tätigkeit im Netz hat sich Sakr unter dem Namen VJ Um AmelArabisch für „Mutter der Hoffnung”, eine virtuelle Persönlichkeit geschaffen. Auf Twitter zählt VJ Um Amel mehr als 10.000 Follower:innen. Sakr ist damit Teil einer virtuellen Welt aus Blogs und Websites, in der digitale Aktivist:innen, darunter Alaa Abdel Fattah, einen Raum für Kommunikation und gemeinsamen Austausch geschaffen haben.

Digitaler Feminismus, digitale Kunst

Ein weiterer wichtiger Aspekt, auf den Sakr in ihrem Buch eingeht, sind die feministischen Praktiken in der digitalen Welt. Sie berichtet hier exemplarisch von einem der größten, auf Frauen ausgerichteten Internetforum, das es bereits vor dem Aufstieg der sozialen Medien gab. Das Forum mit dem Namen Fatakat dient heute der Selbstorganisation von Frauen und basiert auf einer gemeinsamen Technologie-Vision. Ursprünglich wurde das Forum von drei Schwestern gegründet, um gegenseitig Rezepte auszutauschen. 

Nicht zuletzt beschreibt Sakr, wie Kunst die digitale Welt beeinflussen konnte – und umgekehrt. Sie geht hier unter anderem auf den Prozess der Cairo Documenta 2010 ein. Inspiriert von der Documenta in Kassel, haben hier verschiedene ägyptische Künstler:innen ein Gesamtkunstwerk geschaffen, das sich mit politischen Ereignissen, künstlerischen Prozessen und digitaler Kunst aus einer kritischen Perspektive befasst. 

Medientheorie um digitale Neuanfänge

Das Buch „Arabic Glitch” ist nicht nur die Geschichte einer neuartigen Medientheorie, sondern vor allem auch die Geschichte junger digitaler Aktivist:innen aus WANA, die durch die neue digitale Landschaft Wege der Kommunikation geschaffen haben. Menschen wie Alaa Abdel Fattah und anderen Persönlichkeiten aus dem digitalen Raum wird im Buch entsprechend viel Platz eingeräumt, da sie ein wichtiger Bestandteil dieser Geschichte sind. Im Buch geht es also weniger um die Revolutionen in WANA, sondern vielmehr um die Entstehung und Verwendung der dabei zu Tage beförderten digitalen Infrastrukturen. „Arabic Glitch” ist eine herausfordernde Ideenentwicklung, die dazu beiträgt, das Internet besser zu verstehen sowie die Geschichte der digitalen Aktivist:innen und deren politischen Aktivismus in einem neuen Licht zu sehen.

 

 

 

Tuğrul Mende hat Arabistik in Leipzig, Tunis und Kairo studiert. Seit einigen Jahren schreibt er für Arabic Literature in English, Qantara, OpenDemocracy und anderen Websites.
Redigiert von Bruna Rohling, Pauline Fischer