03.07.2020
„Allahu Akbar“ – Wir traumatisierten Industrienationen
„Allahu Akbar" heißt „Gott ist groß". Wenn es nur so einfach wäre. Illustration: Paul Bowler
„Allahu Akbar" heißt „Gott ist groß". Wenn es nur so einfach wäre. Illustration: Paul Bowler

Für viele Muslim*innen ist „Allahu Akbar“ ein ganz alltäglicher Ruf zu Gott. Doch dass er in gewissen Kontexten auch als Schlachtruf gegen religiöse Minderheiten genutzt wird, lässt sich nicht wegdiskutieren, findet Cem Bozdoğan.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Ich bin damit aufgewachsen, dass der islamische Ruf „Allahu Akbar“, also „Gott ist groß“, bösartig und fundamentalistisch ist. Prägend war für mich das Sivas-Massaker vom 2. Juli 1993, also ziemlich genau vor 27 Jahren: Eine Meute bestehend aus 15.000 Menschen setzte das Madımak-Hotel in der zentralanatolischen Stadt Sivas in Brand. Dort befanden sich 33 alevitische Künstler*innen und Intellektuelle nach einem Konzert zu Ehren des alevitischen Dichters Pir Sultan Abdal.

Ich bin auch alevitisch, eine vorwiegend in der heutigen Türkei lebende religiöse Minderheit. Wegen solcher Massenmorde wurde meine Religion für mich gleichzeitig zu einer politischen Existenz – vor allem, weil es allein in den vergangenen 100 Jahren ein Dutzend derartiger Massaker gab, die Alevit*innen am liebsten auslöschen wollten. Während meine Leute in dem Madımak-Hotel verbrannten, schrien ihre Mörder draußen, in Anwesenheit von Polizei und Presse, „Allahu Akbar“. Das Hotel in Flammen und die schreiende Meute, all das hat mein Verhältnis zu diesem Gottesruf negativ geprägt. Jedes Jahr am 2. Juli gedenke ich dieser 33 Menschen. Rest in Power.

Gleichzeitig bin ich mit dem Rassismus in Deutschland aufgewachsen, der sich strukturell und tagtäglich zeigt. Im Juni vergangenen Jahres wird eine Gruppe junger Männer im Kölner Hauptbahnhof gewaltvoll gestoppt, auf dem Boden fixiert und vor den Augen etlicher Menschen bloßgestellt. Die Männer hätten „verdächtige Gewänder“ getragen, heißt es in Medienberichten. Diesmal sind die „Allahu Akbar“-Rufenden nicht die Täter, sondern Opfer rassistischer Gewalt. Was die Männer trugen, war alles andere als „verdächtig“, sondern festlich-traditionelle Kleidung. Ihre Rufe waren nicht fundamentalistisch oder bösartig gemeint. Denn an diesem Tag wurde einer der höchsten muslimischen Feiertage, das Ende des Fastenmonats Ramadan, gefeiert.

Ereignisse wie diese führen uns vor Augen, wie wichtig Tage wie der 1. Juli sind, also der Aktionstag gegen antimuslimischen Rassismus. Seinen Ursprung hat dieser in der gewaltsamen Ermordung der ägyptischen Pharmazeutin Marwa El-Sherbini in Dresden. Wegen ihres Kopftuchs wurde sie von einem Mann rassistisch beleidigt. Die damals 31-Jährige sagte als Zeugin vor Gericht gegen ihn aus, anschließend stach er noch im Gerichtsaal 18 Mal auf sie ein. Auch ihr gedenke ich jedes Jahr. Rest in Power.

Von Perspektivwechseln...

Als Alevit und muslimisch gelesener Mann in Deutschland prägen mich der 1. und 2. Juli besonders. Das Sivas-Massaker erinnert mich an die grausamen Taten einer islamisch-fundamentalistischen Gesellschaftsgruppe, deren Ideologie in der Türkei breite Unterstützung findet. Der Mord an Marwa El-Sherbini wiederum an die rassistische Gewalt gegen Muslim*innen selbst. Diese beiden aufeinanderprallenden Tage zeigen, dass sich Mächteverhältnisse ändern können: Sunnitische Muslim*innen, in den meisten muslimischen Ländern eigentlich eine religiöse Mehrheit, können in einem ganz anderen Kontext auch in die Betroffenen-Perspektive rutschen.

Und doch überkommt mich jedes Mal ein Unwohlsein, wenn ich diesen Ruf höre. Zum Beispiel, als bei den Ausschreitungen in Stuttgart Ende Juni die Bild-Zeitung sich nicht vor Meinungsmache scheute und ganz groß aufmachte: „Randalierer rufen ‚Allahu Akbar‘“. Dass die besagten „Randalierer“ aus Stuttgart keine islamistischen Fundamentalist*innen waren, sondern ein paar Jugendliche, schrieb Bild natürlich nicht in den Artikel.

Muslim*innen auf sozialen Netzwerken reagierten wütend und zogen den Artikel teilweise ins Lächerliche, zum Beispiel indem sie ironisch die von Rechten gefürchtete Islamisierung beschworen. Was aber immer wieder fällt in solchen Diskussionen, ist das Argument, „Allahu Akbar“ würde einfach eine arabische Übersetzung des alltäglichen „Grüß Gott“ sein.

Auch wenn ich die Reaktionen auf die Bild-Hetze verstehen kann, finde ich es anmaßend, mir diesen Ruf als bloßes „Grüß Gott“ erklären zu wollen oder zu sagen, er würde von den Falschen missbraucht werden. Es hat schon etwas Übergriffiges, wenn eine muslimische Mehrheitsgesellschaft einer religiösen Minderheit erklären will, dass ihre Angst unbegründet ist.

Die Meute in Sivas hat nicht bloß einen Gott gegrüßt. Sie sind auch nicht „die Falschen“ gewesen, die diesen Ruf „vereinnahmen“, sondern bilden eine nicht unbedeutsame Gesellschaftsgruppe ab – die es auch außerhalb der Türkei gibt. Erst vor ein paar Tagen schallte auch in Wien „Allahu Akbar“ durch die Straßen, als graue Wölfe ein autonomes Zentrum angriffen. Immer wieder heißt es unter Antirassist*innen: Betroffenen muss zugehört werden. Wer Angehörige hat oder sogar selbst Zeug*in war, wie religiöse Minderheiten mit diesem Ruf öffentlich verbrannt oder enthauptet werden, würde verstehen, dass der Ruf für diese Menschen retraumatisierend ist.

...und Pauschalisierungen

Nicht valide ist jedoch die Instrumentalisierung dieser Fälle, die antimuslimischen Rassismus unter weißen Menschen salonfähig macht. In Reaktion auf die Debatte um den Gottesruf kramt die Welt am Sonntag eine ihrer berühmt berüchtigten säkularen Ex-Muslim*innen aus, die dann in ihrer Kolumne einem konservativ-rechten Publikum erklären darf, wie schlimm ihre Erinnerung an den islamischen Ruf „Allahu Akbar“ in ihrem Herkunftsland ist.

Solche pauschalisierenden Sichtweisen von (Ex-)Muslim*innen aus anderen Ländern mit oftmals fundamentalistischen Regimes machen muslimisch gelesenen Menschen in Deutschland das Leben schwer. Denn sie bedienen eine rassistische und islamfeindliche Narrative, die von einer weiß-deutschen Gesellschaft gefeiert wird. Sie scheren sich nicht um die Traumata religiöser Minderheiten, sondern instrumentalisieren sie für ihre eigene politische Agenda – Hauptsache gegen den Islam ihrer Herkunftsländer.

Aber welche Perspektive gewinnt? Kann ich frei sagen, dass mir dieser Ruf Unwohlsein bereitet, ohne unsolidarisch zu sein und mir antimuslimischen Rassismus vorwerfen lassen zu müssen? Ich weiß, dass es der falsche Weg ist, den Ruf „Allahu Akbar“ unter Generalverdacht zu stellen oder ihn als Schlachtruf zu konnotieren. Aber wenn er in meiner Assoziation nun einmal auch ein Aufruf ist, mit dem Menschen getötet wurden? Muss ich mich dafür schlecht fühlen?

Letztendlich entscheidet der Kontext. Ich verbinde mit dem Gottesruf das Sivas-Massaker oder den Genozid an den Ezid*innen durch den sogenannten „Islamischen Staat“. Ich denke an die Randale der rechtsextremen, türkischen Grauen Wölfe in den Hauptstädten Europas. Ich denke aber auch an die islamfeindliche Polizeigewalt in Köln. Während der iranischen Präsidentschaftswahlen im Jahre 2009, auch die „Grüne Revolution“ genannt, versammelten sich Oppositionelle auf den Dächern Teherans und riefen „Allahu Akbar“, um gegen den Wahlbetrug der islamischen Regierung zu protestieren. Auch daran denke ich.

In meiner Welt ist „Allahu Akbar“ alles, aber kein religiöser Ruf. Für alle Nachfolgegeneration in den postmigrantischen Industrienationen dieser Welt wünsche ich mir, dass sie ihre politischen Traumata ablegen können. Dass „Allahu Akbar“ dafür genutzt wird, wofür ihn Millionen von Menschen, ob muslimisch oder christlich, in den Ländern Vorderasiens und Nordafrikas nutzen: Um zu sagen, dass Gott am größten ist.

 

 

Cem Bozdoğan studierte Sozialwissenschaften in Düsseldorf und Gewalt- und Konfliktforschung in London. Heute arbeitet er als Redakteur für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und schreibt als freier Autor, vor allem über Themen aus Kurdistan und der Türkei.
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Anna-Theresa Bachmann