Der Konflikt zwischen bewaffneten islamistischen Gruppen und dem ägyptischen Staat auf der Sinai-Halbinsel eskaliert – erst heute wurde bekannt, dass der IS-Ableger dort eine kroatische Geisel ermordet haben soll. Die Regierung unter Präsident Sisi reagiert auf die Bedrohung mit Militäroperationen und Gesetzesverschärfungen. Ein gefährlicher Kreislauf, der die Stabilität Ägyptens weiter gefährdet. Von Max Fiedler
Fast auf den Tag genau zwei Jahre nach der Machtübernahme durch eine Militärregierung wird Ägypten von einer Serie schwerer Terroranschlägen erfasst: Während es den Behörden Mitte Juni noch im letzten Moment gelungen ist, einen Terroranschlag auf den bei Touristen beliebten Karnak-Tempel in Luxor zu verhindern, kommt Ende Juni der ägyptische Generalstaatsanwalt Hischam Barakat bei einem gezielten Bombenanschlag ums Leben. Nur zwei Tage darauf greifen etwa 300 islamistische Kämpfer in einer koordinierten Angriffswelle mehr als ein Dutzend ägyptischer Sicherheitseinrichtungen auf der Sinai-Halbinsel an. Bei den stundenlangen Gefechten werden mehr als 100 Menschen getötet. Eine Woche später wird das italienische Konsulat in Kairo durch die Explosion einer 450-Kilo-Bombe schwer beschädigt, auch hier gibt es einen Toten und Verletzte. Zuletzt ist ein ägyptisches Patrouillenboot im Mittelmeer angegriffen worden. Am heutigen Mittwoch wurde bekannt, dass auf dem Sinai eine kroatische Geisel enthauptet worden sein soll.
Die militante islamistische Gruppe „Provinz Sinai“, offizieller ägyptischer Ableger der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS), hat sich zu den Angriffen bekannt. Die zunehmend präziser und tödlicher ausgeführten Anschläge belegen deutlich: Allen bisherigen Maßnahmen der Regierung zum Trotz gefährden bewaffnete Gruppierungen die öffentliche Sicherheit massiv – und befördern dadurch wiederum ein immer härteres Eingreifen der Regierung.
Der Sinai als Zentrum des Aufstands gegen die ägyptische Regierung
„Wir sind in einem richtigen Krieg“, kommentiert der ägyptische Premierminister Ibrahim Mahlab die Sicherheitslage in Ägypten. Terroranschläge und Zusammenstöße zwischen Sicherheitsbehörden und militanten Gruppen sind seit dem politischen Chaos infolge des Umbruchs vom Januar 2011 alltäglich geworden. Hunderte Soldaten, Milizionäre und Zivilisten sind in diesem zunehmend eskalierenden Konflikt getötet und verletzt worden.
Vor allem im Norden des Sinai gibt es großen Widerstand gegen die ägyptische Regierung und ihre Sicherheitsbehörden. Die im Nordosten Ägyptens gelegene Halbinsel war im Rahmen des ägyptisch-israelischen Friedensvertrags von 1979 als entmilitarisierte „Pufferzone“ vorgesehen. Inzwischen hat sie sich jedoch zu einem Ort der Schmugglerkriminalität und islamistischen Aufstandsbewegungen entwickelt.
Die Sinai-Halbinsel ist strategisch bedeutsam gelegen: Im Osten grenzt die Region an Israel und den Gazastreifen, was der Situation zusätzliche Brisanz verleiht. Die Gebühren aus dem im Westen des Sinais gelegenen Suezkanals und die Umsätze der Tourismusbranche im Süden am Roten Meer stellen eine bedeutende Einnahmequelle der ägyptischen Wirtschaft dar. Doch der Tourismus auf dem Sinai ist aufgrund der angespannten Sicherheitslage in den vergangenen Jahren bereits stark eingebrochen. Eine weitere Eskalation könnte die ägyptische Wirtschaft und die Regierung weiter unter Druck setzen.
Der Nordsinai wird seit Jahrzehnten systematisch vernachlässigt
Aufgrund des unwirtlichen Wüstengeländes der Halbinsel eignet sich der Sinai als Rückzugsgebiet für militante Gruppen, denn der Einfluss des Staates ist hier traditionell schwach ausgeprägt und sein Gewaltmonopol strittig. So konzentriert sich das Zentrum der Aufstandsbewegung rund um die Städte al-Arish und Rafah, beides Hochburgen ägyptischer Salafisten, deren soziale und religiöse Institutionen zunehmend die staatlichen Institutionen verdrängen.
Militante islamistische Gruppen haben vor allem aufgrund der jahrzehntelangen wirtschaftlichen und politischen Marginalisierung des Nordsinais Fuß fassen und die Unterstützung von Teilen der Bevölkerung erwirken können. Bereits in den 1980er Jahren wurde unter dem damaligen ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak im Südsinai in Tourismusressorts investiert, während die Infrastruktur des Nordsinais vernachlässigt wurde. Die Regierung forcierte zeitgleich die Arbeitsmigration von Bewohnern des ägyptischen Niltals in den Südsinai, um die neu entstehenden Arbeitsplätze auszufüllen. Den Bewohnern des Nordsinais, hauptsächlich Beduinen, wurde dagegen der Zugang zu Arbeitsplätzen verwehrt. Auch ist es ihnen bislang nicht möglich, im Polizei- oder Militärdienst tätig zu werden, wodurch die Konfrontation der beduinischen Bevölkerung mit dem Staat weiter befördert wird.
Als Folge des Ausschlusses von formalen Erwerbstätigkeiten hat sich für viele Bewohner dieser Region ein alternativer Wirtschaftszweig aufgetan: Drogenproduktion und -verkauf sowie Schmuggel von Gütern und Menschen. Seit der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen im Jahr 2007 und dessen sukzessiver Isolierung durch Israel und Ägypten floriert der transnationale Schmuggel mit Nahrungsmitteln, Treibstoff, Baumaterialen und Waffen. Darüber hinaus schlagen kriminelle Beduinenbanden Profit aus afrikanischen Flüchtlingen, indem sie diese verschleppen und von Angehörigen Lösegelder erpressen.
Von „Ansar Beit al-Maqdis“ zu „Provinz Sinai“
Nach der Wahl des Muslimbruders Mohammed Mursi zum ägyptischen Präsidenten im Juni 2012 führte die Regierung zunächst eine Versöhnungspolitik mit der Sinai-Region ein: Mursi stattete dem Sinai einen persönlichen Besuch ab und versprach neue Regierungsinitiativen zur Entwicklung der Region. Doch der Sturz der gewählten Muslimbrüder und die Rückkehr des Militärs an die Spitze des Landes im Juli 2013 machte dem gerade erst aufkommenden Glauben vieler Islamisten an den demokratischen Prozess den Garaus. Bereits kurz nach der Machtübernahme des Militärs nahm die Anzahl und Intensität der Angriffe gegen ägyptische Behörden durch islamistische Gruppierungen rasant zu.
Die gefährlichste Gruppierung ist die salafistisch-dschihadistische Ansar Beit al-Maqdis, die seit Januar 2011 aktiv ist. Der neue Name „Provinz Sinai“ macht dabei zunächst einen unmissverständlichen Anspruch auf die langfristige Beherrschung und Kontrolle dieses Gebietes deutlich; als IS-Ableger erhält sie zudem zusätzliche finanzielle und militärische Ressourcen und erhöht damit ihre Reputation unter islamistischen Terrorgruppen.
Die Angriffstaktik der „Provinz Sinai“ wurde an die des IS in Syrien und im Irak angepasst. Sie bedarf einer langen und präzisen nachrichtentechnischen und logistischen Vorbereitung. Zunächst wird ein Selbstmordattentäter vorausgeschickt, um Verwirrung zu stiften und die Abwehrstellungen des Militärs zu brechen, bevor das Ziel mit Mörsern und Panzerfäusten attackiert wird. Bei erfolgreicher Stürmung verminen die Angreifer das Gebiet, um nachrückende Truppen aufzuhalten.
Gegen Informanten der ägyptischen Sicherheitsbehörden gehen die Kämpfer der „Provinz Sinai“ äußerst brutal vor: Sie köpfen Spitzel und Widersacher, um anschließend die toten Körper als Warnung an Straßenrändern zurückzulassen. Dadurch verbreiten sie Angst und Schrecken unter der Bevölkerung und erschweren gleichzeitig die Arbeit ägyptischer Sicherheitsbehörden, die in dieser Region auf Informanten angewiesen sind.
Die Antwort der Regierung: Militäroffensiven…
Angesichts von Terroroperationen in diesem Ausmaß sah sich die ägyptische Armee gezwungen, unter hohen Verlusten mit F16-Kampfjets, Kampfhelikopter und Panzern vorzugehen, um die Angreifer zurückzuschlagen. Die Regierung unter dem neuen Präsidenten Abd al-Fattah al-Sisi hat dabei in Reaktion auf die steigende Bedrohung einen „Krieg gegen den Terror“ ausgerufen. Darunter versteht sie eine Kombination aus umfangreichen Militäroffensiven und Gesetzesverschärfungen, die allerdings oft massiv Grund- und Freiheitsrechte beschneiden.
Heute ist der Nordsinai praktisch vom Militär mit Sicherheitscheckpoints abgeriegelt. Dazu gilt seit Oktober 2014 das Notstandsgesetz und eine strenge Ausgangssperre. Die Armee ist seit 2012 im Rahmen der Militäroffensiven Operation Eagle und Operation Sinai mehrfach auf den Sinai vorgerückt. Nahe der Grenzregion zum Gazastreifen wurde eine Pufferzone eingerichtet, wozu Medienberichten zufolge mehr als 1100 Familien vertrieben und über 800 Häuser durch das Militär zerstört wurden. Auch die meisten Tunnelnetzwerke zwischen Gaza und dem Sinai wurden zerstört, um den Waffenhandel zu unterbinden.
Unabhängige Informationen über die Situation sind schwer verfügbar, da Journalisten der Eintritt auf die Sinai-Halbinsel durch das Militär verwehrt wird. Daher stützen sich die meisten Berichte auf die offiziellen Angaben der ägyptischen Behörden und der staatsnahen Presse. Die Berichte der wenigen unabhängigen Journalisten, die auf den Sinai vordringen, lassen darauf schließen, dass die Armee bei den Militäroperationen mit wenig Rücksicht auf zivile Opfer vorgeht. So macht sie ganze Dörfer dem Erdboden gleich, in denen auch nur ein oder zwei Menschen der Kollaboration mit der „Provinz Sinai“ verdächtigt werden. Dies führt zu einem weiteren Vertrauensverlust und der Radikalisierung einzelner Bewohner gegenüber den ägyptischen Sicherheitsbehörden, wodurch wiederum die Rekrutierungsmöglichkeiten militanter Gruppen erhöht werden.
…und Gesetzesverschärfungen
Präsident Sisi selbst macht für die Bedrohung die Muslimbrüder und ausländische Akteure verantwortlich, die angeblich die Destabilisierung Ägyptens zum Ziel haben. Unmittelbar nach dem Sturz Mursis setzte eine Verfolgung der Muslimbruderschaft ein, die in dem Verbot ihrer Partei und der Verhaftung, Verurteilung und Tötung hunderter Unterstützer mündete. Dutzende andere Organisationen, die der Verbindung zur Muslimbruderschaft bezichtigt wurden, wurden ebenfalls verboten.
Anfang dieses Jahres hat Sisi angesichts der eskalierenden Gewalt verkündet, den „Terrorismus“ mit noch schärferen Gesetzen „vernichten“ zu wollen. Dazu hat er im Februar per Dekret ein neues Anti-Terrorismus-Gesetz in Kraft gesetzt. Dieses ermöglicht es ägyptischen Sicherheitsbehörden, quasi gegen jede Form von öffentlichem Protest und oppositionelle Vereinigungen vorzugehen. Die Definitionen, welche Gruppen als terroristisch eingestuft werden, sind dabei allerdings derart vage, dass sie durch die Behörden beliebig ausgelegt werden können. Viele Menschenrechtler und Oppositionelle kritisierten das Gesetz daher stark.
Als Reaktion auf die Angriffe auf dem Sinai wurde im Juli dann jedoch eine erneute Verschärfung des Anti-Terror-Gesetzes eingebracht, die das Feld der „Verdächtigen“ noch erweitert. So sah die Novelle zunächst vor, Journalisten einzusperren, die Informationen über Terroranschläge veröffentlichen, welche den offiziellen ägyptischen Behördenangaben widersprechen. Nach massiver Kritik von Medienvertretern und internationalen Menschenrechtsorganisationen wurden die Haftstrafen zuletzt in Geldstrafen umgewandelt.
Ägypten als stabiler Partner des Westens – Rückkehr zur Mubarak-Ära?
In einer Region, die seit dem „Arabischen Frühling“ von politischer Instabilität gekennzeichnet ist, scheinen einige westliche Regierungen ähnliche außenpolitische Positionen wie zur Amtszeit Mubaraks einzunehmen. Damals wurden Menschenrechtsverletzungen und Einschränkung von Grundrechten als notwendiges Übel für einen politischen Partner im Nahen Osten beurteilt, der verlässliche Stabilität gewährt.
Kurz nach dem Sturz Mursis wurde in Berlin und Washington noch viel darüber diskutiert, wie man zukünftig mit Ägypten verfahren sollte. Doch wie zuletzt bei Sisis Einladung nach Berlin, wird die ägyptische Regierung mittlerweile hofiert. Gleichzeitig erhält Ägypten wieder Militärhilfe der Amerikaner in Form von Kampftechnik und Zuwendungen von bis zu 1,3 Milliarden US-Dollar. Auch Italien hat Sisi volle Rückendeckung im „Kampf gegen den Terror“ zugesagt. Und die militärische Zusammenarbeit ist nicht zuletzt auch mit Israel eng, was vor allem an der Bedrohung durch islamistische Terrorgruppen im Grenzgebiet liegt: Denn nur durch Vereinbarungen mit Israel ist es möglich, dass Ägypten mit schwerem Militärgerät auf der eigentlich entmilitarisierten Zone der Sinai-Halbinsel aktiv wird.
Ein explosives Gemisch aus jahrzehntelanger politischer Vernachlässigung, Armut und schwacher Staatlichkeit hat die jüngste Ausbreitung und Stärkung bewaffneter islamistischer Gruppen auf der Sinai-Halbinsel ermöglicht. Dass es sich bei dem Konflikt zum großen Teil um ein sozioökonomisches und politisches Problem handelt, das durch militärische Maßnahmen und die Unterdrückung der Opposition langfristig nicht zu lösen ist, scheint die Regierung allerdings nicht zu interessieren. Ebenso wenig, dass durch die Maßnahmen Hass und Polarisierung zwischen Regierung und islamistischen Gruppen weiter verstärkt werden. Diese Strategie ist selbst kurzfristig nicht erfolgreich. Im Gegenteil, der IS-Ableger „Provinz Sinai“ ist mehr denn je in der Lage, großangelegte und professionelle Angriffe und Terroranschläge auszuführen.
Solange Kairo keine umfassende Strategie zur Entwicklung des Nordsinais unternimmt und die politische und wirtschaftliche Marginalisierung der Bewohner befördert, werden radikale Gruppen wie die „Provinz Sinai“ auf die Unterstützung der lokalen Bevölkerung und ein großes Rekrutierungsreservoir zurückgreifen können. Unter dem Mantel des Anti-Terror-Kampfes versucht die ägyptische Regierung, jegliche Opposition und kritischen Journalismus zu unterdrücken. Wie die Entwicklungen im Rahmen des „Arabischen Frühlings“ und den Protesten gegen Mubarak gezeigt haben, ist es aber nur eine Frage der Zeit, bis sich die Wut der Unterdrückten gegen ein repressives Regime entlädt.