Am 11. Februar 2011 trat der Diktator Hosni Mubarak zurück. Was daraus geworden ist, beschreibt Journalist Jürgen Stryjak in seinem neuen Buch. Eine Liebeserklärung an Ägypten und seine Menschen, trotz aller politischer und wirtschaftlicher Härte.
Bereits seit 17 Tagen demonstrieren die Menschen in weiten Teilen Ägyptens, als der deutsche Journalist Jürgen Stryjak am 11. Februar 2011 am Präsidentenpalast im Kairoer Stadtteil Heliopolis ankommt. Etwa 20.000 Protestierende haben sich hier versammelt, die kurz nach 18 Uhr unruhig werden: „Eine junge Frau neben mir greift zum Handy und ruft eine Freundin an. ‚Was er ist zurückgetreten?‘, schreit sie ins Telefon. ‚Mubarak ist nicht mehr Präsident? Ägypten, endlich ist Ägypten frei – nachdem uns dieser Verbrecher 30 Jahre lang längst erstickt hat.‘“
So beschreibt Journalist Stryjak in seinem jüngsten Buch jenen Moment der Ägyptischen Revolution, der heute vor genau zehn Jahren weltweite Schlagzeilen machte und bei vielen Ägypter:innen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft weckte. Viel davon geblieben ist bekanntlich nicht. Das große Scheinwerferlicht, auch der Weltöffentlichkeit, ist längst erloschen.
Und trotzdem ist in den letzten Jahren viel passiert im Land. Wirtschaftliche Misere, Politikverdrossenheit, Repressionen – aber auch Humor, gesellschaftlicher Wandel, Herzlichkeit. Von alldem erzählt „Ägypten – Ein Länderporträt“, das bei Ch. Links im Rahmen einer Verlagsreihe mit Länderporträts von Finnland bis Indonesien erschienen ist.
Dem Land und seinen Menschen gerecht werden
Anders als es der blasse Titel des Werkes vielleicht vermuten lässt, begegnen Leser:innen in „Ägypten – Ein Länderporträt“ keinem lauwarmen Koshari oder endlosen Schwärmereien über die Pyramiden.
Auch wenn das Buch mit einem Kapitel über den Nil beginnt und der Autor die Jahrtausende währende Kulturgeschichte Ägyptens nicht ganz aus dem Blick verliert – den Kern von „Ägypten – Ein Länderporträt“ macht Stryjaks tiefgreifende Analyse gegenwärtiger Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aus. Hier jagt allerdings nicht eine Metaebene die nächste. Vielmehr, so verspricht es der Autor im Vorwort, sollen die Ägypter:innen selbst und ihr „Streben nach einem Leben in Freiheit“ im Mittelpunkt des 200-seitigen Werkes stehen.
Es ist ein Anspruch, dem „Ägypten – Ein Länderporträt“ gerecht wird. Auch deswegen, weil Stryjak, der seit 1999 mit kleinen Unterbrechungen in Kairo lebt, auf seine lange Erfahrung als Radio- und Printjournalist zurückblicken kann. Ohne sich deswegen beim Schreiben aus einer Mottenkiste selbstgefälliger Anekdoten zu bedienen, verwebt Stryjak geschickt eigenes Erleben sowie die Erzählungen und Biografien seiner Protagonist:innen mit faktensicherer Analyse.
Das „Who is Who“ der Aktivist:innen vom Tahrir findet darin einen Platz, von denen zweitweise oder gegenwärtig viele in ägyptischen Gefängnissen saßen und sitzen. Aber auch Kulturschaffende, Straßenkinder, hippe Startup CEOs, religiöse Würdenträger, Tagelöhner und Unterstützer:innen des El-Sisi Regimes kommen zu Wort oder werden erwähnt – kurzum jenes Menschengeflecht, das die Widersprüchlichkeit und Vielseitigkeit Ägyptens kennzeichnet.
Videoclip zu „Sawt El- Horeyya“ - Stimme der Freiheit - von der ägyptischen Band„Cairokee“. Auch Sänger Amir Eid kommt in Stryjaks Buch zu Wort.
Analyse wirtschaftlicher und politischer Zusammenhänge
Der Autor bemängelt in seinem Werk gleichzeitig einige Annahmen über den Demokratiewillen der Ägypter:innen, die man immer wieder aus deutschen Politik- und Medienkreisen hört: „Ich bin fest davon überzeugt, dass man die Leute nicht autoritär regieren muss, weil sie so sind, sondern dass sie so sind, weil sie autoritär regiert werden“, schreibt er.
Stryrak, der 1962 in der ehemaligen DDR geboren wurde, sieht im gegenwärtigen ägyptischen Politikapparat mit seinen Scheinwahlen und der politischen Gleichgültigkeit viele Menschen im Land Parallelen zur SED-Diktatur.
Positiv fällt auch das Kapitel zu Wirtschaft auf, ein Thema, das in manch anderem Werk der letzten Jahre über die Umbrüche in Ägypten zu kurz kam. Stryjak beschreibt in einfachen Worten anschaulich, wie tief sich das ägyptische Militär in die Ökonomie des Landes eingefräst hat und seine Macht seit 2013 noch weiter ausbauen konnte.
Eines der Beispiele, die Stryjak dafür liefert, ist der übersättigte Zementsektor des Landes. Trotz der Überproduktion öffnete 2018 die Firma Al Areesh, die in der Hand des Militärs ist, eine neue Fabrik in Beni Suef. Aufgrund der vielen Begünstigungen für das Militär können andere Akteure nicht mit Al Areesh konkurrieren: „So gehen Arbeitsplätze, Gehälter, Sozialabgaben und Steuereinnahmen verloren, also Dinge, die Militärfirmen ja nur in sehr begrenztem Maße ersetzen“, schreibt Stryjak.
Masr, ya masr!
Gemäß der in Ägypten gängigen Wortwahl, Kairo als „Masr“ – also Ägypten - zu bezeichnen und so den Status der Hauptstadt hervorzuheben, wird Kairo in „Ägypten – Ein Länderporträt“ großzügig Platz eingeräumt. Ein paar mehr Beispiele in der Peripherie der Massenmetropole wären wünschenswert. Andererseits schafft es Styrak, Kairo wunderbar treffend zu beschreiben:
„Der Stadtleib keucht und dampft wie ein gepanzerter Organismus, besonders in der Mittagshitze des Sommers. Immer wieder dehnt sich Kairo aus, urbane Metastasen fressen sich in die Wüste hinein oder in den schmalen Streifen Grünland links und rechts des Nils. Die Häuser bilden Betonlandschaften, die im diesigen Blaugrau der Mittagshitze nicht selten Trümmerbergen ähneln.“
Für Ortsunkundige mag das nach Verriss klingen. Tatsächlich spricht aus den 200-Seiten die tiefe Zuneigung des Autors, für eine Stadt, ein Land und seine Menschen. Stryjak gehört nicht zu der Art von Journalist:innen, die an ihren Schreibtischen kleben und Leser:innen vom gepolsterten Lehnstuhl aus die Welt vor ihrem Fenster erklären. Stryjak ist mittendrin im Geschehen. Das ist die große Stärke des Buches.
Fazit – „Don’t judge a book by its cover“
„Ägypten – Ein Länderporträt“ ist eine gelungene Lektüre, als Einstieg für Leser:innen in ein ihnen bisher unbekanntes Land. Aber auch für alle anderen, die sich im Corona-Lockdown danach sehnen oder aus Sicherheitsgründen vorerst nicht nach Ägypten zurückkehren können. Schön wäre es gewesen, hätte der Ch. Links Verlag ein wenig mehr Zuneigung in die Buchgestaltung gesteckt, die etwas old school und lieblos daherkommt. „Don’t judge a book by its cover“ – scheint hier der Leitspruch zu sein.