12.10.2018
Looking for Shirin Neshat - meine kritische Abrechnung mit einer Ikone
Kolumnistin Moshtari Hilal ist freischaffende Künstlerin in Hamburg und Berlin. Grafik: Tobias Pietsch
Kolumnistin Moshtari Hilal ist freischaffende Künstlerin in Hamburg und Berlin. Grafik: Tobias Pietsch

Kolumnistin Moshtari Hilalwagt eine kritische Betrachtung der renommierten Künstlerin und Filmemacherin Shirin Neshat: Gilt Neshat zurecht als die Ikone zeitgenössischer Kunst unter Frauen of Color? Oder ist ihre hochästhetisierte Darstellung iranischer und arabischer Frauen nicht mehr als Art House Orientalismus für das westliche Publikum?

Dieser Text ist Teil der Alsharq-Kolumne „Des:orientierungen“. Alle Texte der Kolumne finden Sie hier.

Streng zurückgekämmte schwarze Haare, schwarze Kleidung, ein breiter, unerschrockener Lidstrich und dramatische Ohrringe verleihen ihr nicht nur eine unverkennbare Uniform, sondern verkörperten auch das holzschnittartige Vorbild, dem ich als junges Mädchen hinterher eiferte. Die visuelle Künstlerin und Filmemacherin Shirin Neshat galt lange als DIE weibliche Exil-Künstlerin in der internationalen zeitgenössischen Kunst.

Als Tochter eines wohlhabenden Arztes war sie 1979 mit 17 Jahren aus Iran in die USA emigriert, um Kunst zu studieren. Kurz danach fand die islamische Revolution statt und Ayatollah Khomeini kam an die Macht. Nach mehr als 10 Jahren in New York kehrte sie nach dem Tod Khomeinis zurück nach Iran und veröffentlichte im Anschluss ihre prominenteste Arbeit, die Fotoserie “Women of Allah” (1993-97). Die kontrastreichen Schwarzweiß-Fotografien bilden bewaffnete Frauen im Tschador ab, dem iranischen Schleier, ihre Haut ist mit Texten zeitgenössischer persischer Dichterinnen beschriftet. Später folgten Videoarbeiten über die Geschlechtersegregation in Iran. Zuletzt veröffentlichte Neshat im März 2018 ihren zweiten Spielfilm “Looking for Oum Kalthum”, eine Hommage an die ägyptische Ikone klassisch-arabischer Musik.

Wenn ich groß bin, werde ich Shirin Neshat

 Als Kind wurde Moshtari zum antibakteriellen, natürlichen Schutz Kohol um die Augen gemalt. Als sie davon ein Foto auf Instagram teilte mit dem Kommentar “I turned 25 today and this is me as a baby shirin neshat (Anm. mit der Verlinkung @shirin_neshat) meeting #michèlelamy(Anm. Modeikone mit ähnlichem Make-up Stil)”, reagierte Neshat indem sie bei dem Beitrag auf gefällt mir klickte.

Man könnte Neshat mit Ai Wei Wei vergleichen: ihre Arbeiten begleitet eine tragische Biografie, die sie aufgrund der autoritären Politik ihres Heimatlandes zwingt, im westlichen Exil zu arbeiten, aus dem Abseits heraus. Beide produzieren sie Kunst, fast ausschließlich für ein westliches Kunstpublikum, aber mit ständiger Referenz zum Heimatland, teilweise sogar ästhetisch angelehnt an die jeweils persische oder chinesische Tradition. Beinahe scheint es so, dass internationaler Erfolg als nicht-weiße Künstler*in auf die eine oder andere Weise mit dem Exil verbunden oder als kultureller Kommentar über das Andere, das Abseits einhergehen muss.

Ehe ich mich versah, hing ich selbst mit nur 19 Jahren im Hamburger Museum für Völkerkunde in einer Ausstellung zu Künstler*innen im Exil, fotografiert von dem Ur-Enkel von Richard Wagner. Ich hatte selbst bis dahin kaum an einer nennenswerten Ausstellung teilgenommen und doch war ich mit der Flucht meiner Eltern aus ihrem Heimatland relevant genug, um in die repräsentative Reihe aufgenommen zu werden. Für den Fototermin erschien ich in meiner Uniform, ganz in schwarz mit blutroten Lippen - meine alternative Interpretation des schwarzen Neshat-Lidstrichs, vor dem ich noch zurückschreckte.

Die Vorstellung, dass ich als Person und Körper die Ästhetik meiner künstlerischen Arbeit, aber auch meiner vermeintlichen andersartigen Kultur tragen und kommentieren müsste, um relevant zu sein, führe ich zurück auf Shirin Neshat. Ich würde so weit gehen und behaupten, dass ihr sichtbarer Erfolg und ihre Ästhetik, aber natürlich auch ihre Identität, meine Vorstellung vom Künstler*innen-Dasein formten. Sie war ein Vorbild für mich und für viele Freund*innen, ohne Frage.

Doch mit den Jahren und wachsender Erfahrung im Umgang mit Medien erschienen mir Neshats Arbeiten ästhetisch zwar weiterhin eindrucksvoll, aber ihre politische und philosophische Einordnung oberflächlich. Ich konnte oder wollte es nicht artikulieren, bis ich die wissenschaftliche Bildanalyse von Wendy Meryem K. Shaw “Ambiguity and Audience in the Films of Shirin Neshat” las.

Wie viel Ambiguität ist verzeihlich?

Die Ästhetiken dieser zwei Bilder liegen gefährlich nah beieinander. Worin liegen die Nuancen? Oben: Shirin Neshat, Faceless, Women of Allah series, 1994, B&W RC print & ink, photo by Cynthia Preston ©Shirin Neshat (courtesy Barbara Gladstone Gallery, New York and Brussel); Unten: Blu-ray Titelbild der vierten Staffel der US-amerikanischen TV-Serie Homeland.

Shaw fragt in ihrer Analyse nach dem Publikum, für das Shirin Neshat ihre Arbeiten über Iran aus dem New Yorker Exil schafft. Sie fragt auch nach den Geldern, die ihre Ausstellungen finanzieren und den Galerien, die ihre Arbeiten verkaufen. Aber vor allem fragt Shaw, ob sich Neshat darüber bewusst ist, dass sie als internationale Künstlerin verschiedene Blickregime verwalten muss, also unterschiedlich gelesen wird.

Die einen, die ihre ästhetischen und narrativen Codes aus der persischen Dichtung erkennen, verstehen auch die Abwandlungen und Zitate. Damit sind sie fähig, Neshats Arbeiten als subtile ästhetische Kommentare zur ihrer persönlichen kulturellen Erfahrung im post-revolutionären Iran einzuordnen. Doch andere, die kein Farsi verstehen oder lesen können und womöglich zum ersten Mal eine solche Arbeit in den 90ern zu sehen bekamen, werden Neshat unweigerlich in Zusammenhang mit den stereotypen Bildern und Orientalismen aus den Medien denken.

Können wir Neshat dafür verantwortlich machen, dass das westliche Publikum die explizit iranisch kodierten Frauen im schwarzen Tschador und Kalashnikovs als Repräsentation muslimischer Frauen lesen und die Kalligrafie auf ihren Körpern als Korantext? Wie viel davon ist vielleicht sogar bewusst von Neshat provoziert worden, indem sie den Titel “Women of Allah” wählte und in ihren Ausstellungen auf englische Übersetzungen verzichtete? Oder sind Gleichgültigkeit, Naivität oder Trotz die Ursache für die Ambiguität ihrer Arbeit?

Auf jeden Fall führte eben diese Ambiguität ihrer Bildsprache und ihre Bearbeitung stereotyper Darstellungen der islamischen Revolution zu ihrem Erfolg. Shaw schreibt dazu: “Neshat`s works present the classic problem of the cross-cultural artist: how can one translate experience across the divisions of culture? Should the artist have to bear the burden?”[1]

Bildausschnitt aus Terbulent, 1998, Video/ Sound Installation, B&W, 10 Minuten, ©Shirin Neshat (courtesy Barbara Gladstone Gallery, New York and Brussel)

Shaw kritisiert weiter, dass Neshats Video-Installationen bereits in der Produktion realitätsfern sind, also kaum repräsentativ sind, dass sie als historisch oder als dokumentarischer Kommentar verstanden werden können. So wurden ihre Videos Trebulent (1998), Rapture (1999) und Fervor (2000) in Marokko gedreht mit marokkanischen Darsteller*innen, die verkleidet und sogar nachträglich synchronisiert wurden.

Sie produziert mit ihren Inszenierungen einen unbenannten, anonymen Ort, der orientalisch oder islamisch anmutet durch den Sand, sichtbare Teppiche oder die verschleierten Frauen ohne reale Zustände in Iran oder Marokko abzubilden. Weder in Iran noch in Marokko sind alle Menschen schwarz verschleiert oder tragen nur weiße Hemden. Die deplatzierten und verkleideten Körper bei Neshat werden zu eigenwilligen Metaphern verfremdet, aber wirken durch die Masse und ihre vermeintlich konkrete Lokalität in Iran oder im Islam wie ein sozialhistorischer Kommentar.

Bildausschnitt aus Terbulent, 1998, Video/ Sound Installation, B&W, 10 Minuten, ©Shirin Neshat (courtesy Barbara Gladstone Gallery, New York and Brussel)

Neshat inszeniert die Frauen in der Natur im Gegensatz zu den Männern im Urbanen, die Tradition und die Institutionen verkörpern sollen. Die schwarzen Tschadors werden zur ästhetischen Uniform der hier islamisch konnotierten unterdrückten Frauen. Aber dann stellt sich Frage: was implizieren die weißen Hemden als modernes westliches Kleidungsstück? Die Dichotomien, die Neshat aufbaut, wirken inkonsequent und ahistorisch.

Neshats Arbeiten verschweigen die Agency, also Handlungsfähigkeitmuslimischer Frauen, die keine Opfer der islamischen Revolution sind, sondern sie teilweise militärisch und ideologisch mitgetragen haben. Ebenso ist die binäre Darstellung der Geschlechter ein allzu bekanntes Narrativ aus dem amerikanischem Feminismus, der braune Frauen vor braunen Männern und ihrer braunen Kultur schützen will. Diese Narrative waren spätestens 2001 unter der Bush-Administration Teil der amerikanischen Außenpolitik und begleiteten die Afghanistan-Invasion.

Neshat arbeitet aus dem ewigen Abseits

Die optisch an Shirin Neshat angelehnte Protagonistin im Film “Looking for Oum Kulthum“ neben einer Darstellerin verkleidet als Oum Kulthum (Courtesy of Razor Film /TRTWorld)

Shirin Neshats Arbeiten werden in der internationalen Presse oft als Kommentar zur Unterdrückung von Frauen in muslimischen Ländern verstanden oder zumindest als der Beitrag einer authentischen kulturellen Informantin zu Iran. Im Jahre 2015 kuratiert das Hirshhorn Museum in Washington die Retrospektive zu ihren Arbeiten unter dem Titel “Shirin Neshat: Facing History” und kontextualisiert ihre Werke zwischen 1953 zur Zeit des Premierministers Mohammad Mosaddeq, der Revolution 1979 und der grünen Bewegung 2009.

Doch der historische Fokus der Ausstellung entlarvt viel mehr, als dass er den Fotografien und Videos von Neshat schmeichelt. Denn wie viel Relevantes kann eine Künstlerin, die fast ihr ganzes Leben in New York verbracht hat, über ein Land sagen, in dem sie seit ihrem siebzehnten Lebensjahr nicht mehr gelebt hat?

Man möchte hoffen, dass die Rolle als kulturelle Informantin Neshat nach mehr als fünfzehn Jahren zu langweilig wird und sie sich neuen Themen zuwendet. Doch ihre aktuellen Werke schreiben ihr ewiges Arbeiten aus dem Abseits fort. Der im März erschienene Kinofilm “Looking for Oum Kulthum” erzählt die Geschichte einer iranischen Exilregisseurin, die einen Film über eine ägyptische Ikone drehen will und von niemandem ernst genommen wird. Fast wirkt es so, dass sich Neshat ihren Erfolg nicht eingestehen will und absichtlich diese Rolle als unverstandene Künstlerin zwischen den Kulturen wählt und genießt.

Kritische Kommentare aus der ägyptischen Presse zählen zahlreiche Verfremdungen und ahistorische Darstellungen auf, wie etwa die falsche Datierung des ersten öffentlichen Frauenprotests in Ägypten oder die fehlerhafte Kostümauswahl wie die Männer im Tarboush, obwohl sie bereits Anfang der 50er Jahre nicht mehr getragen wurden oder der öffentliche Auftritt der Oum Kalthum-Darstellerin im ärmellosen Kleid. Die Öffentlichkeit verspricht sich wieder ein historisierbares und kulturspezifisches Werk. Stattdessen liefert Neshat eine persönliche Interpretation, die entweder schlecht recherchiert oder desinteressiert ist an den historischen und sozialpolitischen Gegebenheiten der Wirklichkeit.

Ästhetik ist kein Ausweg aus der Politik

Zur Recherche für diesen Artikel sehe ich mir alle kürzlich erschienen Interviews mit Shirin Neshat an. In einem Bericht der Deutschen Welle spricht sie über ihren Film und ihre neuste Zusammenarbeit mit den Wiener Festspielen. Neshat wurde eingeladen, die Oper Aida zusammen mit der renommierten Opernsängerin Anna Netrebko zu inszenieren. Auf die Frage der Journalistin nach dem Rassismus in den USA antwortet Neshat wie erwartet ahistorisch, realitätsfern und stark personalisiert: Sie hätte vor dem 11. September die USA nicht als rassistisch empfunden.

Die New Yorker Künstlerin folgt ihrem eigenen Muster und greift auf ihre Subjektivität zurück. An jeder Stelle, an der ich eine politische Analyse, eine kritische Selbstreflexion oder Eingeständnisse erwarte, taucht immer wieder das große egozentrische Ich von Neshat auf. Selbst dann, wenn sie über andere spricht und arbeitet, steht sie im Zentrum.

Wie kann sie so unreflektiert sein und den Rassismus in den USA über ihre eigene Erfahrung hinaus und in der Geschichte nicht benennen? Wie kann es sein, dass Neshat Anna Netrebko braun anmalen lässt, um die äthiopische Sklavin Aida zu spielen und im selben Zusammenhang glaubt, subversiv zu sein, weil sie in ihrer Adaption Migration behandelt? Die Welt von Neshat handelt ihrer Meinung nach von starken Frauen und autoritären, männlichen Regimen - aber alles, was ich sehe, sind schöne einfache Antworten auf Fragen, die viel komplexer sind. Wo sind die Effekte des Kapitalismus in ihrer Welt und wo die Folgen des Imperialismus? Kann man überhaupt etwas Politisches sagen, ohne darüber zu sprechen?

 Screenshot von dem Deutsche Welle Beitrag zu Shirin Neshat, den unsere Kolumnistin zur Recherche angesehen hat - darauf ist deutlich erkennbar, wie Anna Netrebko für die Aida Inszenierung von Neshat beim Salzburg Festival 2017 braun gefärbt wurde.

Kill your darlings

Meine Abrechnung mit Shirin Neshat klingt absoluter als sie es ist, denn ich muss gestehen, dass ich weiterhin empfänglich bin für ihre dramatische Ästhetik. Ich empfinde weiterhin etwas sehr Starkes und Sentimentales beim Anblick ihrer leidenden Frauen oder charismatischen Heldinnen. Und insgeheim wünschte ich mir, dass ich ihre Arbeiten nicht durchschaut hätte und weiterhin gefesselt wäre von ihrem Pathos und ihrer fast mythologischen Schönheit.

Aber an dem Tag, an dem ich zu der Hamburg Premiere ihres Oum Kulthum-Films ging und fest entschlossen war, ihren Film zu mögen, aber Unbehagen empfand, war meine kreative Verbundenheit zu Shirin Neshat beendet.

Unsere Kolumnistin Moshtari Hilal mit Shirin Neshat nach der Kinopremiere von “Looking for Oum Kulthum” im Abaton Programmkino in Hamburg, Foto privat.

In einem Interview auf Qantara antwortet sie auf die Frage nach der Arbeit mit der Materie Oum Kalthum: “Ultimately I was forced to realise that you cannot really deconstruct a myth. A myth is a myth; you cannot devour or dissect it. An artist like Oum Kulthum is only born once in a century.” - Damit gesteht Neshat ein, dass sie sich in ihrem filmischen Beitrag zu der Ikone klassisch-arabischer Musik, aber auch des ägyptischen Nationalismus gegen eine kritische Auseinandersetzung und für den Mythos entschied.

Der Mythos als nebelige Aura um historische und prominente Figuren schützt und bewahrt ihr Erbe, aber sie bindet uns auch an eine romantische Vorstellung einer Person, die wir verlernen politisch zu analysieren. Neshat nutzt ihre Suche nach Oum Kulthum für ihre persönliche Selbstreflexion und entscheidet sich für den Mythos ihres Vorbild – und ich, ich begab mich in dieser Kolumne auch auf eine Suche nach meiner jahrelangen Vorbildfigur, Shirin Neshat.

Und wenn ich wahrhaftig selbstreflektierend und kritisch sein möchte, dann müssen auch meine Vorbilder daran glauben - gemäß dem Credo, wenn du es wirklich ernst meinst: “Kill your darlings.”

 

 

[1]Wendy Meryem K Shaw (2001): Ambiguity and audience in the films of Shirin Neshat. Third Text, 15:57, 43-52. Online: https://doi.org/10.1080/09528820108576941.

Moshtari Hilal ist freischaffende Künstlerin in Hamburg und Berlin.
Redigiert von Daniel Walter, Julia Nowecki