Hundert Jahre nach dem Vertrag, der Kurdistan seine Selbstbestimmung versagt, bleibt die Zerrissenheit Alltag für die Bewohner:innen eines Dorfes an der Türkisch-Irakischen Grenze. Ein Bericht aus dem geteilten Dorf Chama.
Zuerst diese Liebesgeschichte: Wie viele andere junge Menschen hatte Matin Haji eine Geheimsprache, um mit seiner Geliebten sprechen zu können. Ein einzelnes Telefonklingeln (diese Geschichte trug sich noch vor der Erfindung von Handys zu) um sich erkennen zu geben, um dann direkt wieder aufzulegen. Darauffolgend ein zweiter Anruf, zweimal klingeln lassen, um Zufälle auszuschließen.
Natürlich kam der Vater bald dahinter: Er war es, der zum Telefon griff. Zwischen den beiden Verliebten, die zugleich auch Cousin und Cousine waren und an den jeweils anderen Enden desselben Dorfes lebten, wurde eine Hochzeit organisiert. Aber wir befinden uns in Kurdistan, genauer gesagt in Chama (sprich: Schama): Das Dorf wurde vor mehr als hundert Jahren geteilt. „Ich musste meine Verlobte aus der Türkei über die Berge herbringen. Die Reise dauerte 17 Stunden, auf dem Rücken eines Esels!“, erzählt der heute 37-jährige Matin.
Die Hajis sind sehr gastfreundlich. Die Familie hat für den Empfang des Besuchs einen kleinen Zeltplatz errichtet. Es wird Reis mit Bohnen aus großen Töpfen serviert, während die Ereignisse dieser besonderen Hochzeit in Erinnerung gerufen werden. Dann ist es Zeit für Wassermelone, die auf einem Plastikhocker in großzügige Scheiben geschnitten wird.
Doch den Gästen bleiben bei aller Gastfreundschaft die sarkastischen Anspielungen nicht erspart: „Gib ihm das größte Stück. Auch wenn er aus Lausanne kommt und mein Land zerstört hat. Schließlich ist er der Grund dafür, dass wir keine normale Hochzeit feiern konnten“, lacht Matin, als er erfährt, dass wir aus der Schweiz kommen.
Kriegsgebiet
Der Vertrag von Lausanne, der am 24. Juli 1923 im Palast von Rumine unterzeichnet wurde, zerriss ganz Kurdistan und dabei auch das Dorf Chama. Infolge des Untergangs des Osmanischen Reiches wurde der Norden des Dorfes zu türkischem Staatsgebiet. Auf der anderen Seite der willkürlichen Grenze, die zwischen den damaligen Großmächten und der neuen türkischen Republik gezogen wurde, wurde der Rest von Chama zu einem Teil des Iraks. „Die Gräber des alten gemeinsamen Friedhofs sind noch da“, erklärt einer der Männer zwischen zwei Bissen von der Wassermelone. „Er ist durch eine Mauer geteilt, die in der Mitte verläuft.“ Rundherum befindet sich ein Minenfeld. Getarnt spähen türkische Zollbeamt:innen und Militärs das Grenzgebiet aus. Seit Jahrzehnten haben sich die Dorfbewohner:innen nicht mehr in die Nähe des Friedhofes gewagt.
Willkommen im äußersten Norden des Irak, an dessen Grenzen Araber:innen, Perser:innen und Türk:innen ihre Streitigkeiten unbeobachtet austragen. Von Erbil, der Hauptstadt des irakischen Kurdistans, sind es gute drei Stunden Fahrt in die Berge, die entlang der Grenze verlaufen. Dann kommt noch eine weitere Stunde auf einer kilometerlangen steinigen Straße hinzu, die zwischen steilen Felsen immer weiter hinaufführt. Städte wie Genf, Bern oder Zürich sind hier unbekannt, der Name Lausanne aber ist allen hier auf intimste Weise vertraut.
Und der Irak und die Türkei? Von Liebe kann nicht die Rede sein: während eines ganzen Jahrhunderts wurde dieser Grenzraum zu einem Kriegsgebiet, und bleibt dies auch heute größtenteils noch. Auf beiden Seiten der Grenze war und ist man als Kurd:in in keiner guten Position, trotz der Zusicherungen gleicher Rechte, die im Text des Vertrags von Lausanne gewissenhaft festgehalten wurden.
Auf irakischer Seite führte der Diktator Saddam Hussein 1988 die sogenannte Operation Anfal durch, die als „endgültige Lösung“ für das „Kurd:innenproblem“ und deren wiederholte Aufstände bezeichnet wurde. Während weiter östlich die Bewohner:innen der Stadt Halabja mit chemischen Waffen ausgelöscht wurden, zerstörten die irakischen Streitkräfte rund 2.000 kurdische Dörfer in der Region auf systematische Art und Weise. Dies kostete zehntausenden Menschen das Leben. „Damals wurden 77 Männer aus dem Dorf getötet“, erinnert sich einer der Bewohner, der näher getreten ist, um sich an dem Gespräch zu beteiligen.
„Damals stand kaum ein Haus mehr. In den letzten 45 Jahren haben die Zerstörungen nie wirklich aufgehört.“ Nach der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne überfielen immer wieder türkische Soldaten das Dorf und verschleppten oftmals Dorfbewohner:innen, die von den Hinterbliebenen nie wiedergesehen wurden.
Matin Haji ist Lehrer im Dorf. Er unterrichtet Mathematik und Biologie und ist dabei gerne besonders gründlich. „Hier wissen die Leute kaum, was im Dorf nebenan passiert. Vor hundert Jahren kam niemand, um ihnen zu erklären, dass der Vertrag von Lausanne unterzeichnet worden war und sich ihr Leben ändern würde. Erst Jahre später wurde klar, welche direkten Auswirkungen dieser Vertrag auf die Einwohner:innen hatte.“
„Kurdistan gibt es nicht“
In der Zwischenzeit tobte auch hier die Jagd auf Kämpfer:innen der Arbeiter:innenpartei Kurdistans (PKK). Die PKK – welche von der Türkei als Terrororganisation eingestuft wird – setzt sich über die Grenzen hinweg und nutzte die offiziell irakischen Berge für ihre Angriffe. Um das zu verhindern, versuchte die türkische Armee, eine kleine Brücke, die durch Chama führt, zu sprengen. Sie bombardierte auch das Dorf.
Noch heute hinterlässt das türkische Militär Minenfelder in den Bergen, wenn sie dort militärische Operationen durchführen. In regelmäßigen Abständen schickt die Armee Drohnen, die durch den Abwurf ihrer Bomben Waldbrände auslösen. Die Bewohner:innen bekämpfen dann die Flammen mit Stöcken und Decken.
Vor drei Monaten wurde hier ein neuer Grenzübergang zwischen der Türkei und dem irakischen Kurdistan eröffnet. Für die kurdischen Behörden ist eine gute Verständigung mit Ankara eine absolute Notwendigkeit, praktisch eine Frage von Leben und Tod. Obwohl es jetzt nicht mehr nötig ist, die Grenze illegal auf einem Esel zu überqueren, muss man erst nach Erbil, um ein Visum zu beantragen. Das Verfahren dauert Wochen und wenn man dann auf der türkischen Seite ist, müssen die Fragen der Zollbeamt:innen haargenau nach staatlichen Vorstellungen beantwortet werden.
„Woher kommen Sie?“ fragen sie.
— „Aus Kurdistan, gleich gegenüber.“
— „Kurdistan, das gibt es nicht. Sie haben dort nichts zu suchen“, antworten die Zollbeamt:innen auf Türkisch.
Die beiden Kinder von Matin, die beide die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, tragen auf beiden Seiten des Dorfes unterschiedliche Namen. „Der Vorname Gara wurde in der Türkei abgelehnt, er erinnerte sie zu sehr an die PKK. Mein Sohn heißt für sie Mustafa“, erklärt der Vater.
Auf der irakischen Seite lernen die Kinder kein Arabisch mehr, der Unterricht findet auf Kurdisch statt. Auf der anderen Seite ist die kurdische Sprache verboten. Es wird Türkisch gesprochen. „Die Sprache, die Kleidung, die Küche und sogar der traditionelle Tanz — all unsere Bräuche unterscheiden sich voneinander, je nachdem, ob wir auf der einen oder der anderen Seite der Grenze leben. Wir sprechen oft untereinander darüber. Aber wir können nichts dagegen tun“, fährt Matin Haji fort.
Wie kann die Einheit trotz der hundertjährigen Spaltung Kurdistans bewahrt werden? Wie kann das Nationalgefühl am Leben erhalten werden, trotz politischen Kalküls und der notwendigen Anpassung [der lokalen kurdischen Behörden] an die Mächte [die Türkei und der Irak, Anm. der Übersetzung].
Lausanne, ein Synonym für Verrat
Rückkehr nach Erbil, zu Besuch bei einer Prinzessin. Sinem Bedir Khan hatte jahrzehntelang eines der Symbole dieses kurdischen Einheitswillens in ihrem Haus aufbewahrt. Auf einer Wand des Hauses sind noch immer Überreste der riesigen Flagge zu sehen, die jahrzehntelang im Wohnzimmer thronte. Rot, weiß und grün mit einer gelben Sonne: Sinem Bedir Khans Großvater hatte sie in den 1920er-Jahren entworfen, um den kurdischen Unabhängigkeitskampf gegen das Osmanische Reich zu symbolisieren.
Die 85-jährige Sinem Bedir Khan ist die letzte Prinzessin von Kurdistan. Sie entstammt einer Dynastie, die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Aufstände gegen die Hohe Pforte angeführt und zwischen 1844 und 1846 sogar ein kurzes unabhängiges Fürstentum ausgerufen hatte. Diese Unabhängigkeitsbestrebungen haben die Familie bis heute nicht verlassen. Sinems Onkel, der Emir Kamuran-Ali Bedir Khan, war der erste, der ein kurdisch-französisches Wörterbuch verfasste. Im Februar dieses Jahres entschloss sich Sinem Bedir Khan, die von ihrem Großvater entworfene Flagge abzuhängen und sie dem Führer der Kurden im Irak, Massoud Barzani, zu übergeben. „Der Präsident weinte vor Rührung. Es gibt keine bessere Person als ihn, um dieses Erbe zu verteidigen und zu bewahren“, erklärte sie.
Nirgendwo sonst steht der Name Lausanne so sehr für Verrat wie hier. Drei Jahre zuvor [1920, Anm. der Übersetzung] versprach ein anderer völkerrechtlicher Vertrag, der Vertrag von Sèvres, die Wünsche der kurdischen Nationalisten zu erfüllen, indem er ihnen einen unabhängigen Staat zusicherte. „Der Kreis von Intellektuellen, der meine Familie umgab, war vollauf damit beschäftigt, Wege zu finden, den Vertrag in die Praxis umzusetzen. Sie wurden von dem Dolchstoß, den Lausanne darstellte, völlig überrascht“, sagt die Prinzessin. „Die folgenden Jahre verbrachten sie damit, den Schaden zu minimieren, welcher durch die vier Staaten [Türkei, Irak, Iran, Syrien, Anm. der Übersetzung] entstanden war, indem sie das Gebiet Kurdistans unter sich aufteilten. Eine Aufgabe, die eigentlich nie geendet hat“. Bei der jüngeren Generation ist dieser jahrhundertealte Kampf nicht mehr so präsent, gibt die Prinzessin jedoch zu. Ihr ganzes Haus ist voller Fotos, Karten und Dokumenten, die von dieser Geschichte zeugen.
„Zu Hause hörten wir hundert Mal am Tag das Wort Kurdistan. Wir sprachen über nichts anderes“, erzählt sie lächelnd und muss feststellen, dass dies nicht mehr der Fall ist. „Vor hundert Jahren stellten die Kurd:innen fest, dass sie nur Gäste in ihrem eigenen Land waren. Seitdem tun sie alles, was sie können, um in dieser Situation zu überleben“.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Französisch in der französischsprachigen Schweizer Tageszeitung Le Temps. Er ist Teil einer Serie, die zum hundertjährigen Bestehen des Lausanne-Vertrags erschien.