Mohamed Amjahids neustes Werk liefert intime Einblicke in die Schlafzimmer Nordafrikas. Es sucht den Dialog über die eigene Sexualität, Prüderie und Vorurteile - und das grenzübergreifend.
Liebe, Sex und Begehren – kaum ein Thema füllt so viele Buchzeilen, Kinosäle und Konzerthallen wie die menschliche Lust. Wir besetzen die „natürlichste Sache der Welt“ gerne mit unerreichbaren, oft moralischen Ansprüchen, inszenieren unsere Liebesabenteuer vielleicht aufregender als sie eigentlich sind und verkomplizieren unsere sexuellen Beziehungen mit selbstauferlegten Regeln.
Liebe, Sex und Begehren, das sind Worte, die wir auch heute noch mit einem gewissen Schamgefühl in den Mund nehmen. Worte, die wir vermeintlich offen in einer „modernen“ europäischen Gesellschaft diskutieren und ausleben. Unser Blick auf sexuelle (Un)freiheiten der „Anderen“ baut dabei auf europäischem Unwissen und rassistischen Stereotypen über andere Gesellschaften auf und lässt die Reflektion über eigene (Un)freiheiten außen vor. Die Aufrechterhaltung des inszenierten Selbstbilds der sexuell befreiten Europäer:innen setzt voraus, dass wir an aus Unwissen, Kolonialismus und Rassismus geborenen Klischees über Nordafrikaner:innen, muslimische und muslimisch gelesene Menschen festhalten. Vielleicht können wir also, so Mohamed Amjahid, mit einem Blick in fremde Schlafzimmer auch viel über uns selbst erfahren?
Gebrochene Vorstellungen
In 40 persönlichen Anekdoten möchte uns „Let’s talk about sex, Habibi“ das Sexleben der Nordafrikaner:innen näherbringen. Diese Kurzgeschichten sind mal witzig, mal berührend, vor allem aber hochpolitisch. Sexistische und queerfeindliche Moralvorstellungen sind tief in unserer Gesellschaft verankert, genauso wie in ehemals kolonialisierten Staaten. Der Missbrauch von Kindern wird häufig gerade im von Europäer:innen geprägten Sextourismus nicht geahndet. Das vorgefertigte Idealbild von Beziehung und Familienkonstellationen hat niemals und wird auch niemals eine gesamte Gesellschaft widerspiegeln. Queere Menschen und Frauen haben jede Gesellschaft – auch im Bett – seit jeher mitgeprägt.
Und das macht die Spannung dieses Buches aus: Das Leben als schwuler Mann kann in Nordafrika mal lebensgefährlich, mal aber auch viel weniger prüde und eingeschränkt sein als im westlichen Europa. Frauen, die unter patriarchalen Strukturen leiden haben vielleicht unfassbare Macht an Orten, an denen wir sie nicht vermutet hätten. Und sowieso gibt es auch in Nordafrika Nachtclubs, Prostitution und die ein oder anderen Wege, mit seiner:m Partner:in den ein oder anderen ungestörten Ort zu finden.
Das Sexleben ist hier wie dort eine Achterbahnfahrt mit humorvollen, romantischen und tragischen Höhen und Tiefen. Es ist ein Lernprozess, mit sich selbst und seinen Mitmenschen. An manchen Stellen liest sich das Buch wie eine Coming-of-Age-Story: Vom Tabubruch der Masturbation bis hin zum gegenseitigen Erforschen des Körpers begleiten wir die Protagonist:innen auf der Reise, ihre eigene Sexualität kennenzulernen.
Das Liebesleben anderer
Auf dieser Reise trägt uns Mohamed Amjahid mit einer unfassbar greifbaren Nähe direkt ins Geschehen: Als Lesende habe ich die beschriebenen Szenen von Begehren bis Schamgefühl nicht nur nachempfinden können, viel mehr habe ich sie – den Herzschmerz, die Lust, all das Dazwischen – selbst gespürt.
Diese Erzählperspektive macht aus seinen Protagonist:innen vor allem eines: menschliche Individuen. Er stellt sie nicht aus, sondern ermöglicht uns den – wenn auch imaginierten – Dialog mit ihnen.
Dabei hat Mohamed Amjahid keine Angst, sexistische und queerfeindliche Missstände diverser nordafrikanischer Länder aufzuzeigen, oder über sexistische und queerfeindliche Strukturen im Islam zu sprechen. Sein Roman möchte nicht idealisieren, sondern von überholten und vereinfachten schwarz-weiß Differenzierungen abrücken. Auch sexualisierte Gewalt, gerade an Frauen und queeren Menschen, wird benannt und verhandelt, mit der Suche nach Worten für etwas, über das viel öfter geschwiegen wird.
Die eigene Prüderie
Das Sexleben der Gesellschaften Nordafrikas ist in ständiger Bewegung, ohne einheitliche Richtung, die Europäer:innen gerne auf sie projizieren. Außerdem ist das Sexleben der Nordafrikaner:innen mindestens genauso vielfältig wie das der Europäer:innen – selbst 224 Seiten können uns nur einen ersten Einblick geben. Danach heißt es: Let’s talk about sex, Habibi!
Mohamed Amjahids neuster Roman versucht uns die eigene Prüderie vor Augen zu führen und mit Prüderie- und Übersexualisierungsklischees nordafrikanischer und muslimisch gelesener Menschen zu brechen. Er versucht, uns zum Dialog über die eigene Bettkante hinaus zu zwingen. Denn es ist an der Zeit zu bemerken, „wie geil es sein kann, sich auf „andere“ Gesellschaften einzulassen.“