07.09.2022
Grenzen ohne Grenzgebiet
Erzwungene Passbeschaffung hat immense Folgen für syrische Geflüchtete und erschwert ihnen zusätzlich das Ankommen. Grafik: Maryna Nathkir, Pauline Jäckels
Erzwungene Passbeschaffung hat immense Folgen für syrische Geflüchtete und erschwert ihnen zusätzlich das Ankommen. Grafik: Maryna Nathkir, Pauline Jäckels

Der Diskurs über die Ungleichbehandlung von ukrainischen Geflüchteten und jenen aus Ländern des globalen Südens hat die etablierten Medien erreicht. Doch was heißt „Ungleichbehandlung“ konkret? Ein Beispiel aus der brandenburgischen Praxis.

Dieser Text ist Teil unserer Reihe „grenz:gedanken“. Unsere Autor:innen denken nach, über Grenzen, Machtverhältnisse und Möglichkeiten, Widerstand zu leisten.

Um über Grenzen nachzudenken und diese zu erleben, ist es für viele Geflüchtete gar nicht notwendig, von ihren Erfahrungen zu berichten. Viele Ankommende bleiben in den Grenzen der rassistisch geprägten deutschen Gesellschaft haften und stoßen hier alltäglich auf Einschränkungen und Diskriminierung.

Während Ukrainer:innen Aufenthaltstitel inklusive sofortiger Arbeitserlaubnis erhalten, bleibt dieses Privileg Menschen aus den meisten Ländern des globalen Südens vollkommen verwehrt oder ist nur schwer zu erreichen. Nach 2015 kamen immer weniger Personen über bekannte Fluchtrouten nach Deutschland, ein Großteil kam über Familiennachzug und Aufnahmeprogramme. Die Ankommenden sind in Deutschland mit unzähligen Grenzen konfrontiert. Institutioneller Rassismus von Leistungsträgern wie Sozialamt und Jobcenter bis zur Ausländerbehörde erschweren jede Form des Ankommens oder des Sich-sicher-fühlens. Doch reden wir einmal konkret über ein Problem, welches essenziell für Mobilität ist.

Hintergrund

Im August 2020 hat das Land Brandenburg einen Beschluss für ein Landesaufnahmeprogramm für Brandenburg verabschiedet, im Kontext der steigenden Geflüchtetenzahlen. Laut eigener Darstellung sah sich der Brandenburger Landtag vor diesem Hintergrund dazu verpflichtet „besonders schutzbedürftige, vor Krieg flüchtende Menschen“ über ein Sonderaufnahmeprogramm die Einreise nach Deutschland auf sicheren Fluchtrouten zu ermöglichen. Der Beschluss sieht eine Kooperation mit Jordanien vor. Über IOM und UNHCR als nichtstaatliche Kooperationspartner sollen bis 2024 jährlich 200 besonders schutzbedürftige Menschen aufgenommen werden. Dabei hat das Land Brandenburg die Gesamtverantwortung für das Aufnahmeprogramm, und demnach auch eine gesellschaftliche Verantwortung den Aufgenommenen eine Integrationsmöglichkeit zu geben. Im November 2021 reisten die ersten syrischen Staatbürger:innen aus Jordanien ein und wurden vorerst in Gemeinschaftsunterkünften oder Wohnungen vom Landkreis untergebracht.

Passbeschaffungszwang und Co.

Dieses Programm soll die politische Wirkung eines Aushängeschilds für Brandenburg erzielen. Dabei soll die Landespolitik besondere Leistungen in der Integration von Geflüchteten erbringen. Doch seit der Ankunft der ersten syrischen Geflüchteten gestaltet sich die Situation kompliziert.

Die Verwaltungsapparate des Landes, namentlich Ausländerbehörde, Jobcenter und Sozialamt, sind überfordert und wissen nicht, wie die sozial- und aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen in Anwendung mit den zugewiesenen Personen ablaufen. Auf behördlicher Ebene herrscht verbreitet Unwissen über den rechtlichen Status der Aufgenommenen, was in der Vergangenheit mehrfach zum Ausschluss von als auch fehlenden Zugang zu Sozial- und Krankenkassenleistungen geführt hat, im Widerspruch zum existierenden Rechtsanspruch.

Doch nicht nur die Leistungsträger sind ungeschult. Die Ausländerbehörden, zuständig, den erteilen Status durch den UNHCR in einen Aufenthaltstitel umzusetzen, setzen bei menschenrechtswidrigen Praxen an: Die Schutzsuchenden aus Syrien haben per Zuweisungsentscheid, welche sie vom UNHCR und dem Land Brandenburg erhalten haben, ein eindeutiges Aufenthaltsrecht für mindestens 3 Jahre. Dieses wird allerdings in vielen Fällen de facto verwehrt, denn zur Ausstellung des entsprechenden Aufenthaltstitels kommt es selten - lediglich eine vorläufige Bescheinigung über die Beantragung eines Aufenthaltstitels (sogenannte Fiktionsbescheinigungen) wird ausgehändigt. Die Begründung hierfür wird in den fehlenden oder ungültigen syrischen Nationalpässen gesucht.

Das heißt, um einen gesicherten Aufenthalt zu erlangen, wird von den Schutzsuchenden ein Gang in die syrische Botschaft verlangt. Bereits 2016 stellte Adopt a revolution eindeutig dar, dass diese Praxis für viele geflüchtete Syrer:innen unzumutbar ist, da sie Gefahren für sich und die zurückgebliebenen Familien in Syrien beherbergen, wie zum Beispiel die Inhaftierung von Verwandten in Syrien oder Beschlagnahmungen von noch verbliebenem Eigentum. Darüber hinaus beinhalten die mit der Antragstellung eines syrischen Passes verbundenen Kosten (zwischen 250-700 Euro) eine hochpolitische Dimension. Mit diesem Geld finanzieren Geflüchtete einen Staat mit, vor dem Sie nach Deutschland geflohen sind.  

Diese behördliche Praxis hat immense Folgen für das alltägliche Leben der Geflüchteten: ungeklärter Leistungsbezug, keine Möglichkeit der Eröffnung eines Bankkontos, Erschwerung der Arbeitsaufnahme und Wohnungssuche. Das Land Brandenburg wird seiner genannten Verantwortung hier nicht gerecht.

Politische Lösung statt Einzelfallentscheidung

Leider sind die Personen des Aufnahmeprogramms nicht die einzigen, welche von einer erzwungenen Passbeschaffung betroffen sind. Adopt a revolution arbeitet seit vielen Jahren zu Widerständen in und außerhalb von Syrien und hat schon früh auf die Problematik der Passbeschaffungspflicht hingewiesen. Oft werden Aufenthaltstitel in diesen Fällen von den zuständigen Ausländerbehörden nicht ausgestellt, mit Verweis auf die Passpflicht der §§ 3 und 5 des Aufenthaltsgesetzes. Es gibt rechtliche Möglichkeiten, eine Unzumutbarkeit der Beschaffung im Einzelfall feststellen zu lassen, also dass ein Gang zur syrischen Botschaft für das Individuum grob fahrlässig ist, auf Grund von Angst vor Verfolgung im Exil, politischen Überzeugungen, Wehrdienst oder der drohenden Enteignung von Eigentum in Syrien. Doch auch diese individuell vorgetragenen Gründe werden laut Adopt a revolution größtenteils von den Ausländerbehörden ablehnt.

Aufgrund des strukturellen Auftretens dieser Problematik sollte es nicht dem Individuum überlassen werden zu agieren. Unter dem Hashtag  #SyriaNotSafe hat Adopt a revolution versucht, eine Vernetzung zu starten, um die Isolation der Betroffenen zu brechen und eine bessere Beratung zu organisieren. Genauso versuchen sie, politische Aufmerksamkeit dafür zu schaffen, dass mit den hohen Kosten für die Passbeschaffung das Assad Regime finanziert wird, was viele geflohene Syrer:innen nicht mit ihren politischen Überzeugungen vereinbaren können. Aber auch in der deutschen Politik sollte diese Überzeugung aus humanitären und politischen Gründen verankert sein. Seit 2020 wurde durch die Innenminister:innenkonferenz ein Abschiebestopp nach Syrien vorerst aufgehoben. Viele Syrer:innen haben bis auf Weiteres gesicherte Aufenthalte, die politische Aussetzung eines Abschiebestopps geht jedoch an der Realität vorbei.

Unsichtbare Grenzen

 So finden sich für viele derzeit ankommende Syrer:innen die Grenzen nicht nur an der Fortress Europe auf griechischen Inseln, in Wäldern auf der Balkanroute oder an den NATO-Drahtzäunen an der polnisch-belarussischen Grenze, sondern auch mitten in Deutschland. In diesem Sinne sind Geflüchtete, welche über Aufnahmeprogramme kommen, bereits privilegiert, nicht die physisch und psychisch belastende Erfahrung von illegalisierten Grenzübertritten und wiederholten illegalen Push-backs zu machen, aber finden die Festung Europa dennoch in ihrem Alltag wieder. Das ist besonders frustrierend und entsolidarisierend für alle Neuankommenden in Deutschland, wenn gleichzeitig die politische und institutionelle Diskriminierung zwischen ukrainischen Geflüchteten und „den Anderen“ so deutlich im Raum steht, politisch getragen und in der Praxis reproduziert wird. Es wäre hier sinnvoll die Solidarität und Verantwortung, von denen Grüne Abgeordnete im Land Brandenburg sprechen, auch praktisch und in Gleichberechtigung für alle umzusetzen.

 

 

 

 

 

Henriette studierte Vorderasiatische Archäologie und Islamwissenschaft im Master in Berlin, London und Amman und arbeitete und lebte im Sudan, Tunesien, Syrien, Tadschikistan, Aserbaidschan und Russland. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin im Bereich Migration und promoviert in der Iranistik zu Kurd*innen in Russland.
Redigiert von Pauline Fischer, Sophie Romy