Unlängst zeigten die Ereignisse an der marokkanisch-spanischen Grenze ein neues Ausmaß an Brutalität, mit der bestimmte Personengruppen abgehalten werden, sie zu überschreiten. Diese Brutalität kostet Leben.
Es ist Samstag, der 25. Juni 2022, etwa sechs Uhr morgens. Im Zug verschaffe ich mir einen Überblick über das Weltgeschehen des Vortags auf dem Bildschirm meines Mobiltelefons. Plötzlich bleibt meine Aufmerksamkeit an besonders schockierenden Bildern hängen: Es handelt sich um eine Konfrontation zwischen Migrierenden und marokkanischen und spanischen Sicherheits- und Grenzbeamt:innen an der marokkanisch-spanischen Grenze zwischen den Städten Nador und Melilla.
Langsam begreife ich das Ausmaß des Geschehenen: die Körper von rassifizierten schwarzen Menschen, dem Augenschein nach Männer, übereinander gestapelt, soweit das Auge reicht. Der Untergrund des käfigartigen Gebildes ist nicht mehr zu erkennen, überall sind Körper, die von den marokkanischen Beamten in Kampfausrüstung gewaltvoll hin- und her geschubst werden. Ich verstehe langsam, dass sich auch Verstorbene unter den Menschen befinden. In den folgenden Minuten und Stunden sehe ich weiteres Bildmaterial, dessen Inhalt aber so schockierend ist, dass ich mir den Großteil nicht ansehen kann.
Die seit Jahrzehnten andauernden Gewaltexzesse an den EU-Außengrenzen haben einen erneuten Höhepunkt erreicht – welch tiefen Schmerz muss eine Mutter empfinden, die von dem Tod ihres Kindes durch eines dieser Videos erfährt?
Ein selektives System gewollter und ungewollter Migration
Die Menschen, Frauen, Kinder, die an den Grenzen um jeden Preis abgewiesen werden, sind durch einen grundlegenden Rassismus kategorisiert, der auch im Kolonialismus bis heute fortwirkt. Die rassistischen Beweggründe hinter dieser ebenso rassistisch motivierten Auswahl werden umso klarer durch die diskriminierenden Maßstäbe, die auf unterschiedliche schutzsuchende Personengruppen angewendet werden.
Während sich die EU zu Menschlichkeit und Einheit in der Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten beglückwünscht hat, ist es das von Achille Mbembe als Necropolitik beschriebene Sterbenlassen von rassifizierten Personen aus diversen Ländern Asiens und Afrikas, das die EU-Mitgliedstaaten miteinander verbindet.
Im diesem spanisch-marokkanischen Kontext, aber auch an der belarussisch-polnischen Grenze oder auf der sogenannten Balkanroute, wird jedoch deutlich: Es handelt sich nicht nur um eine unterlassene Hilfestellung, sondern um ein aktives Begünstigen des Sterbens; um den Auftrag, diese Menschen vom Überqueren der Grenzen abzuhalten, selbst wenn es deren Leben kostet.
Was allerdings nach wie vor für Uneinigkeit innerhalb der EU und mit Partnerländern sorgt, ist die Frage, wer für die Anwendung der Gewalt an den Grenzen zuständig ist. Auch hier fungiert ein rassistisches und neokoloniales System, welches die Ausführung der Menschenrechtsverletzungen zum Großteil Ländern des Globalen Südens überlässt. Autoritäre Staatsstrukturen werden in den von der EU-Kommission „taylor- made and mutually beneficial partnerships“ genannten Vereinbarungen billigend in Kauf genommen.
Eine delegierte Gewalt, die ihre Kreise zieht
Die willentlich an den EU-Außengrenzen herbeigeführte Gewaltspirale und das dadurch entstehende Leiden nehmen immer extremere Ausmaße an allen direkten oder externalisierten Grenzen der EU an. So starben im Herbst 2005 zwischen Ceuta und Melilla 9 Personen beim Versuch, die Grenzzäune zu überqueren. Heute sind es schätzungsweise 37.
An den Küsten Tunesiens, Algeriens, Libyens, auf Lesbos, im Rif, in Dakhla oder in der Sahara sind es die Bewohner:innen, Fischer, Aktivitst:innen, die Zeugen der Grenzgewalt werden, wenn sie sich der leblosen Körper annehmen und über die Dramen berichten. Immer häufiger werden sie dabei Zielscheibe von politisch motivierter Strafverfolgung, ähnlich wie in der zivilen Seenotrettung. Von der Identifizierung, der Beerdigung und der Suche der Familien der Verstorbenen bis hin zur Organisierung der Rückführung der Särge in die Heimatländer, hallt die Gewalt in den Leben Unzähliger wider.
Auf der anderen Seite sind es die Grenzpolizist:innen, Militärs, Streitkräfte oder Beamte der FRONTEX Agentur, die mit der Ausführung der Gewalt beauftragt sind, im Namen von Staaten, die Menschenrechte missachten und dies auch aktiv von ihren Streitkräften fordern. Auch junge Wehrdienstleistende werden zu Racial Profiling Razzien in Marokkos Norden eingesetzt.
Während des so generierten Zusammenstoßes werden von Migrant:innen Mittel der Verteidigung und der Infragestellung der Gewalt zum Zweck ihrer Verteidigung mobilisiert. Gegenüber dem high-tech Arsenal der Grenzbeamt:innen wirken die Anschuldigungen des spanischen Premierministers Pedro Sanchez und der Bewertung durch die EU-Kommissarin Ylva Johansson verzerrend. Auch in der deutschen Medienlandschaft ist von „Ansturm“ die Rede, ein Narrativ, welches die Realitäten an den EU-Außengrenzen verkennt.
Dieser Teufelskreis gipfelt im Gewaltexzess am 24. Juni 2022 und findet seinen Ursprung im Grenzmanagement und in den rassistischen Politiken der Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Das Leiden, das hier entsteht, ist facettenreich: Tod, Narben, Traumata ...
Geopolitische Strategien auf dem Rücken rassifizierter Personen
In diesem Kontext verhandeln die jeweiligen Regierungen und die EU-Kommission die Grenzdynamiken. Dieses System wird von zahlreichen Elementen wie den Quoten in der Visavergabe für Drittstaatenangehörige, massenhaftes Racial Profiling auf den Migrationsrouten, wissenschaftlich und moralisch zweifelhaften Untersuchungen um die vermeintliche Volljährigkeit von Minderjährigen nachzuweisen und systematischen Push-Backs an den EU- Außengrenzen, bestärkt. All diese Aspekte machen den Zugang zu sicheren Migrationsrouten und vor allem zu Menschen- und Kinderrechten unmöglich. Die Verhandlungen hierzu werden mit Menschenleben bezahlt und es wird deutlich, dass strategische Interessen zwischen grünem Neokolonialismus und Territorialintegrität diesen internationalen Rechtsgrundlagen den Rang ablaufen.
„Say their names“, ein Gedenken unserer Toten verbunden mit politischen Forderungen
Wenn wir uns also ein Gefühl der Machtlosigkeit überkommt gegenüber politischem Kalkül und Menschenrechtsverstößen, ist es essentiell, dass wir das Gedenken der Verstorbenen bewahren. Denn die Opfer der Grenzregime sind auch Opfer der Migrationspolitiken unserer Länder. Das Entstehen eines solchen Kollektivgedächtnisses beruht auf einer gemeinschaftlichen Bemühung, die zur Stunde, wie bereits erwähnt, im Wesentlichen von der Zivilgesellschaft auf beiden Seiten der Grenzen getragen wird.
Denn auch wenn unser Gedenken die Verstorbenen nicht zurück ins Leben holen kann, so können wir ihre Menschlichkeit anerkennen, die ihnen an den Grenzen entrissen wurde, die Migrationspolitiken ihnen absprechen wollen. In Gedanken an die zivilgesellschaftliche Bewegung „Initiative 19. Februar Hanau“ für das Gedenken der Toten des Anschlags von Hanau, müssen wir auch ihre Namen kennen, ihre Geschichten, die Umstände und die Verantwortlichen ihres Todes ebenso wie die Fehler der staatlichen Untersuchungen und der öffentlichen Berichterstattung. Dieses Wissen soll in all unseren Gesellschaften widerhallen, aus denen die Verstorbenen kamen, denen sie unterwegs begegnet sind und die sie erreichen wollten. Das Gedenken kann in Form von politischer Mobilisierung passieren und Forderungen werden durch solche Bewegungen getragen, wie es bereits in mehreren spanischen Städten, Rabat und Frankfurt in den vergangenen Tagen passiert ist.
Gedenken und Protest stellen allerdings nur ein Teil dessen dar, was passieren muss, damit sich solche Tragödien nicht wiederholen und eine humane Migrationspolitik der EU zu Tage tritt. Eine lückenlose, transparente Aufklärung zwischen den Verantwortlichen wird mittlerweile auf internationaler Bühne von den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union gefordert. Ohne unabhängige Untersuchungskommissionen kann hier keine eindeutige Klarheit und somit auch kein angemessenes Gedenken stattfinden.
Die Aufrichtigkeit unserer Gesellschaften misst sich daran, welche Rechte den schutzbedürftigsten Mitgliedern zukommen. Die Mittel für ein selbstbestimmtes Verteidigen von Interessen müssen gewährleistet werden, im Rahmen von Menschenrechtspolitik, die ihres Namens würdig ist, an den Grenzen und überall.
Dieser Text ist ebenfalls auf Französisch erschienen und hier nachzulesen: De Lesbos à Nador, violence ordonnée des Etats