22.02.2022
Mit dem Rücken zur Schengen-Wand
Der Rücken von Sam Ali wird als Kunstwerk bei einer Auktion versteigert. Copyright: eksystent Filmverleih.
Der Rücken von Sam Ali wird als Kunstwerk bei einer Auktion versteigert. Copyright: eksystent Filmverleih.

In „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ erzählt die Regisseurin Kaouther Ben Hania von dem syrischen Geflüchteten Sam Ali, der seinen Rücken von einem Künstler mit dem Schengen-Visum tätowieren lässt. Als Gegenleistung: Die große Freiheit?

Der Film „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ feiert am 24. Februar 2022 in Berlin Deutschlandpremiere. Im Anschluss gibt es ein Filmgespräch zum Thema „Kann Kunst die Welt verändern?“ Dis:orient kooperiert mit dem Filmverleih eksystent.

Zwischen Syrien, Libanon und einem hyper-schillernden Schengen-Europa erzählt der Film „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ (2020) die Geschichte des jungen Syrers Sam Ali (Yahya Mahayni), der aufgrund einer Lappalie aus Syrien fliehen und dort seine große Liebe Abeer (Dea Liane) zurücklassen muss. Wenig später findet sich Sam Ali in der elitären Kunstwelt um den berühmten Künstler Jeffrey Godefroi (Koen De Bouw) und dessen Assistentin Soraya (Monica Bellucci) wieder. Mit diesen geht Sam Ali einen folgenschweren Pakt ein, der ihm die Reise zur mittlerweile nach Belgien übergesiedelten Abeer ermöglichen soll.

Der Film der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania („Le challat de Tunis“, „La belle et la meute“) vereinnahmt durch seinen provokativen, energievollen und gleichzeitig sensiblen Umgang mit den Themen Migration, Kunst, Liebe, Freiheit und Identität. Hierfür wurde er 2021 als erster tunesischer Film überhaupt für einen Oscar nominiert. Je nach Blickwinkel dreht sich der Film dabei um die Verdinglichung eines Menschen – oder die Vermenschlichung eines Kunstwerkes.

Der Künstler Jeffrey Godefroi verwandelt unscheinbare Objekte in Werke, die Abermillionen Dollar kosten, einzig, indem er seinen Namen daruntersetzt. Copyright: eksystent Filmverleih.

Der Teufelspakt

Syrien 2011. Als er Abeer in einem Zugabteil öffentlich seine Liebe verkündet und dabei überschwänglich die Worte „Revolution“ und „Freiheit“ in den Mund nimmt, ist Sam Ali gezwungen, Syrien umgehend zu verlassen. Er flieht in den Libanon und lässt sich in Beirut nieder.

Als Abeer angesichts des dämmernden Krieges in Syrien einen Diplomaten heiratet und nach Belgien zieht, verliert Sam Ali die Hoffnung sie bald wiederzusehen. Er fühlt sich festgefahren im Libanon, ohne Möglichkeit Abeer hinterherzureisen, bis er auf den international gefeierten Künstler Jeffrey Godefroi und seine Assistentin trifft. In einer Beiruter Gallerie bietet Godefroi Sam Ali schließlich einen Deal an – und spart hierbei nicht an orientalistischen Klischees:

Jeffrey - „Ich könnte ihnen einen anbieten. (…)
Einen fliegenden Teppich, um frei zu reisen.“
Sam - „Was sind Sie, ein Flaschengeist?“
Jeffrey - „Nun, manchmal sehe ich mich als Mephistopheles.“
Sam - „Sie wollen meine Seele?“
Jeffrey - „Ich will Ihren Rücken, Sam.“

Sam Ali geht einen sprichwörtlichen Pakt mit dem Teufel ein – der einzige Ausweg, um Abeer nach Belgien zu folgen. Er verkauft seinen Rücken und erklärt sich bereit, ein übergroßes Schengen-Visum darauf tätowieren zu lassen. Sam Ali wird zum millionenschweren Kunstwerk und gibt Godefroi sein Wort, sich auf dessen Ausstellungen als Kunstobjekt zur Schau zu stellen. Als Gegenleistung erhält Sam Ali ein echtes Schengen-Visum.

Sam Ali und Abeer feiern ihre Liebe in einem syrischen Zugabteil. Copyright: eksystent Filmverleih.

Verdinglichung eines Menschen oder Vermenschlichung eines Kunstwerkes?

Da sitzt er also – Ausstellung um Ausstellung – mit seinem Tattoo auf dem Rücken in Museen, Galerien, privaten Kunstsammlungen, auf Auktionen: Alles grell, alles reich, alles Schengen. Vor dieser Kulisse verliert Sam Ali immer weiter die Fassung, die er bisher mit einem ausgeprägten Sinn für Ironie und schwarzem Humor zu verteidigen vermochte. Zunehmend erschweren es ihm sein Stolz und seine Ehrlichkeit für eine Champagner-schlürfende, fachsimpelnde Elite als Kunstobjekt stillzusitzen, herumgereicht und verkauft zu werden.

Gleichzeitig holt ihn die andere Realität ein: Skype-Gespräche mit seiner Mutter, die dem Krieg in Syrien ausgesetzt ist, Anfeindungen auf Facebook durch andere Syrer:innen, Rettungsangebote von syrischen Menschenrechtsaktivist:innen und zu allem Unglück bleibt seine große Liebe Abeer in nächster Nähe so fern.

Die große Freiheit, das große Geld, die große Liebe, das große Europa – all das bleiben leere Versprechen. Auch wenn Sam Ali der Gefängniszelle in Syrien entkommen konnte, ist er gefangen. Der Schengen-Raum und der Kunstmarkt werden zu einer Festung, die ihn seiner Würde und Freiheit beraubt: getarnt im Glitzer-Mantel, unter Regie des Geldes, der richtigen Anwälte, des richtigen Passes und der richtigen Herkunft. Hier zählt weder Sam Ali als Mensch noch seine Geschichte. Hier zählen das Kunstobjekt und sein Ertrag.

„Indem Sam durch mich [Jeffrey Godefroi, Anm. d. Red.] zu einem Kunstobjekt wurde, ist er nun bald imstande, sich auf eigene Faust – ganz zeitgemäß – seine Freiheit und Menschlichkeit zurückzuholen.“ Copyright: eksystent Filmverleih.

Flucht, Kunst und die Abschottung

Die Idee des menschlichen Kunstobjekts Sam Ali basiert auf einer wahren Begebenheit. 2008 versah der belgische Konzeptkünstler Wim Delvoye den Zürcher Tim Steiner mit einem rückengroßen Tattoo. Im Gegensatz zu dem syrischen Geflüchteten Sam Ali erklärte sich Tim Steiner jedoch aus freien Stücken dazu bereit, als lebendes Kunstobjekt in Galerien zu posieren und auch posthum seine Haut zur Ausstellung freizugeben. Als die Regisseurin Kaouther Ben Hania 2012 die Ausstellung des Künstlers Delvoye und sein Kunstobjekt Tim Steiner im Louvre sah, entstand die Idee, daraus einen Film zu entwickeln. Der Grundstein für „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ war gelegt.

Kaouther Ben Hania ließ unter dem Eindruck persönlicher Begegnungen sowie der aktuellen Krise im Mittelmeerraum, ihr Interesse für zwei sehr gegensätzliche Welten bewusst aufeinanderprallen: Erstens, die Welt der zeitgenössischen Kunstszene und, zweitens, diejenige des alltäglichen Überlebenskampfes der unzähligen Geflüchteten weltweit.

Für Ben Hania repräsentieren beide Welten eine Art von Abschottung unter der Regie von sozialen Codes, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während der elitäre, etablierte Kosmos der Kunstszene die Freiheit verkörpert, sehen sich die meisten Geflüchteten keinerlei Wahlmöglichkeiten gegenüber. Dementsprechend kann sich der Künstler Jeffrey Godefroi in seinen vermeintlichen Privilegien ein menschliches Kunstobjekt leisten, während Sam Ali den zweifelhaften Handel eingeht, da ihm nichts anderes übrigbleibt.

„Auf der richtigen Seite der Welt geboren“

Es war die Spannbreite der Themen, die Gegensätzlichkeit der zwei Welten sowie die emotionale Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Charakteren, welche die Regiearbeit von Kaouther Ben Hania besonders inspirierten. Diese thematische Komplexität verstärkt sie durch die verschiedenen Genres, die der Film vereint. Das Publikum erlebt diese entlang der emotionalen Entwicklung der Hauptfigur Sam Ali: Von Drama und Tragödie, Satire und schwarzem Humor bis hin zur romantischen Liebesgeschichte ist alles vertreten. Die Regisseurin und die Schauspieler:innen schaffen es dabei auf provokante Weise, Stereotypen zu bedienen und gleichzeitig aufzubrechen.

In seiner Vielfältigkeit regt der Film „Der Mann, der seine Haut verkaufte” dazu an, das eigene Verständnis von Freiheit und Privilegien zu hinterfragen. Diese Reflektion beginnt spätestens, als Sam Ali so simpel wie ungerührt feststellt: „Du [Jeffrey Godefroi, Anm. d. Red.] bist auf der richtigen Seite der Welt geboren.“

Ab dem 24.Februar 2022 ist der Film in verschiedenen deutschen Kinos zu sehen. Ab dem 10. März 2022 wird der Film auch digital abrufbar sein.

 

 

 

Bruna Rohling hat Stadtplanung in Berlin, Trondheim und Beirut studiert. Bei dis:orient liegt ihr Fokus auf Stadtentwicklung, Migration und Umweltgerechtigkeit in WANA. Bruna ist Doktorandin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich im Bereich Stadtentwicklung und -politik.
Redigiert von Rebecca Spittel, Maximilian Menges