21.02.2022
„Die innere Abwertung von Tamazight ist gravierender als die äußere“
Khalid Mourigh unterrichtet Tamazight. Quelle: Screenshot seines YouTube-Kanals.
Khalid Mourigh unterrichtet Tamazight. Quelle: Screenshot seines YouTube-Kanals.

Sprache prägt uns. Welche Sprache welchen gesellschaftlichen Stellenwert genießt, hängt mit Machtstrukturen zusammen. Zum internationalen Tag der Muttersprache sprach dis:orient mit Khalid Mourigh über Tamazight in Marokko und der Diaspora.

Khalid Mourigh ist Wissenschaftler, Autor, Übersetzer und YouTuber. In seiner Arbeit widmet er sich der Erforschung und Bewahrung von Tamazight-Dialekten. Er wurde 1981 in den Niederlanden geboren und lebt in Leiden.

Khalid, du hast dich der Wissenschaft und Erforschung von Tamazight verschrieben und möchtest die orale amazighische Tradition bewahren – auch online mit deinem YouTube-Kanal. Wie kam es dazu?

Die Idee mit dem YouTube Kanal ist der Tatsache entsprungen, dass Tamazight eine Plattform und Repräsentanz benötigt. In Bezug auf traditionelle Geschichten, Märchen und Weisheiten, die meistens von den Müttern an ihre Kinder weitergegeben werden, hat es einen Wandel gegeben. Sie werden noch tradiert, aber es wird immer weniger. 

Das Internet schafft die Möglichkeit solche Traditionen aufrechtzuerhalten. Imazighen müssen neue Wege finden und die Technik nutzen, um ihre Kultur und Sprache zu vermitteln. Die Professionalität und Qualität verbessern sich dadurch automatisch. Profitieren werden insbesondere die amazighischen Communities außerhalb Marokkos. 

Zum Beispiel könnte man Zeichentricksendungen auf Tamazight produzieren. Das würde die Kinder beim Spracherwerb unterstützen und die Chance bieten, eine gewisse Zuneigung zur Muttersprache zu empfinden. Mein YouTube-Kanal ist ein kleiner Beitrag. Wenn mehr Menschen gemeinsam und langfristig diese Beiträge leisten, gewinnt die Sprache an Wert und Sichtbarkeit.

Du bist in den Niederlanden aufgewachsen. Wie hast du selbst dort deinen Zugang zu Tamazight gefunden?

Ich mochte die amazighische Sprache und Schrift, besonders Amazigh-Gedichte. Ich habe es geliebt Tamazight zu hören und zu lesen, es gab in den 1990er-Jahren bereits ein paar Bücher in den Niederlanden. Jeden Monat fanden Musikveranstaltungen und amazighisches Theater statt, an deren Stücken ich mitwirkte, und es gab Kooperationen mit Marokko.

Ich lernte auch Leute auf Feierlichkeiten und Lesungen kennen. Heute ist Tamazight keine Nische mehr, es gibt viel mehr Literatur als in meiner Jugend. Angefangen hat es aber genau genommen mit Musik und Izran[1]. Khalid Izri und Walid Mimoun zählen zu meinen Favoriten. Ich wollte wissen, was sie singen und die Metaphern aufschlüsseln.

Deine Leidenschaft für Tamazight ging so weit, dass du nach deinem Bachelorstudium in Anthropologie einen Master in „Berber Studies“ an der Universität Leiden gemacht hast.

Durch das Studium erhoffte ich mir, ein besseres Verständnis der Sprache zu entwickeln. Ich erlernte Grundlagen, wie man die Sprache in lateinischer Umschrift wiedergeben kann und fing an, auch meinen Freund Ali Amazigh bei seinen Veröffentlichungen zu unterstützen, da er zuvor Tifinagh[2] nutzte.

Tifinagh hat die Problematik, dass es noch zu wenige Menschen gibt, die es lesen und schreiben können. Mit der lateinischen Dekodierung von Tamazight und der Übersetzung in europäische Sprachen helfe ich seit 2009 immer wieder Leuten, ihre Arbeiten einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Abgesehen von der Diaspora hat es auch in Marokko selbst einen Anstieg an Amazigh-Publikationen gegeben.

In deiner Doktorarbeit hast du dich dann mit dem Amazigh-Dialekt der Ghomara beschäftigt. Ghomara wird nur von einem Dutzend Dörfern in Nordmarokko gesprochen. Warum hast du dich gerade auf diesen Dialekt konzentriert?

Der Dialekt passt in den Forschungsbereich der Kontaktlinguistik. Das Ghomara-Tamazight weist vergleichsweise sehr viele marokkanisch-arabische Einflüsse auf und ist deshalb zur Analyse besonders geeignet. Ein weiterer Punkt ist, dass besonders dieser Dialekt leider vom Aussterben bedroht ist. Die Forschung trägt demnach dazu bei, diese Sprachvariante zu manifestieren. Die Sprecher:innen selbst sind zu einem großen Teil Analphabet:innen und stark von Armut betroffen, sodass Gedanken um den Erhalt ihrer Sprache zweitrangig sind.

Du hast dann 2020 gemeinsam mit deinem ehemaligen Professor Maarten Kossmann eine Grammatik für Rif-Tamazight herausgebracht. Das Buch gilt bereits jetzt als Standardwerk. Was bedeutet dir das persönlich?

In der Kolonialzeit gab es die Forschungsanfänge über Tamazight, aber die Ergebnisse blieben Linguist:innen vorbehalten. Unser Buch war ebenfalls in erster Linie an Linguist:innen adressiert, aber über Tamazight-Spezialist:innen hinaus an andere Fachbereiche, beispielsweise semitische Sprachen wie Arabisch. Dann wurde ich selbst überrascht von der Resonanz. Ich erhalte bis heute Nachrichten, Zuspruch und Interesse an diesem Werk. Es gibt aber noch eine weitere Intention.

Und zwar?

Ich liebe Tamazight wie gesagt. Nicht seit meiner Kindheit, aber als ich heranwuchs wurde diese Liebe immer stärker. Amazighstämmige Kinder hören von ihren Eltern oft, dass die Sprache keinen Mehrwert habe, nur innerhalb der Familien zur Kommunikation tauge und dass man Arabisch lernen müsse, um in Marokko zurechtzukommen. Das stimmt vielleicht, aber trotzdem ist es eine Sprache wie jede andere. Es ist ein Gewinn, mehrsprachig zu sein. Arabisch zu lernen ist wundervoll und schließt das Erlernen und Sprechen von Tamazight nicht aus.

Der Punkt ist jedoch: Tamazight hat auch eine Existenzberechtigung. Es gibt Imazighen, die ihren Kindern die Sprache beibringen wollen, aber es fehlt an Lehrbüchern. Es gibt viel Nachholbedarf, denn manche Dinge wurden nicht bedacht. Ich persönlich kann meine Zeit nicht komplett darin investieren, aber ich versuche es. Es gibt die äußere Abwertung von Tamazight, aber die innere ist vielleicht noch gravierender. Die Sprecher:innen müssen ihre Sprache erst wertschätzen, damit dies auch andere tun.

Wie sieht es mit der Resonanz deiner Arbeit aufseiten der „Beforschten“ aus? Hat die marokkanisch-amazighische Community in den Niederlanden Verständnis für deine Forschung?

Viele Leute sind der Meinung, dass es brotlose Kunst ist, was ich betreibe und sie erkennen den Wert der Sprache nicht. Andere wiederum wissen es immer besser und sehen sich selbst als absolute Expert:innen. Das ist verständlich, sie sind die Sprecher:innen und kennen sich aus. Sie korrigieren mich und meinen, ich könne es nicht besser wissen, weil ich in Europa geboren und aufgewachsen bin. Es gibt aber auch Menschen, die meine Arbeit positiv bewerten und meine Literatur als Hilfsmittel verwenden. Jede:r hat eine Meinung, so ist es nun einmal.

Dein neuestes Werk von 2021 ist keine Forschungsarbeit im klassischen Sinne, sondern ein Sachbuch mit dem Titel „De gast uit het Rifgebergte“ („Der Gast aus dem Rif-Gebirge“). Wovon handelt es?

Das Buch handelt von der Geschichte meines verstorbenen Großvaters, der als „Gastarbeiter“ nach Europa kam. Er erzählte viel über sein Leben. Meine Tante und ich hörten ihm zu, fragten nach und zeichneten seine Erzählungen mit einem Aufnahmegerät auf. Am Anfang meiner Dissertation ist er verstorben.

Ich widmete mich den Aufnahmen und schrieb sie auf Tamazight und Holländisch auf: Die Geschichten gefielen mir und womöglich würden sie auch den Generationen gefallen, die hier in der Diaspora aufwachsen. Ich reicherte das Ganze mit historischen Fakten an und fokussierte trotzdem das individuelle Erleben meines Großvaters. Ich arbeitete drei Jahre an diesem Buch. Eventuell ist auch eine deutsche oder englische Übersetzung in Zukunft möglich. Wenn keiner diese Lebensgeschichten festhält, wird sich niemand daran erinnern. Die Details werden verblassen.

 


[1] Traditionelle amazighische Gesänge, meist zu feierlichen Anlässen in Begleitung vom Adjoun (Rahmentrommel) vorgetragen.

[2] (Neo-) Tifinagh ist die Verschriftlichungsform der amazighischen Sprache.

 

 

Hanan Karam ist Islam-& Religionswissenschaftlerin und promoviert derzeit mit einem Stipendium des Avicenna-Studienwerkes zum Thema „Transnationales Leben nordmarokkanischer Imazighen im Ruhrgebiet“ an der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Marokkaner:innen in Deutschland & Europa, Imazighen, Thmazight &...
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Clara Taxis