Statistisch gesehen wird in der Türkei täglich mindestens eine Frau von einem Mann ermordet. Dabei gibt es Gesetze, die Frauen vor Femiziden schützen sollen. Doch solange Behörden die Mörder decken, kann das nicht klappen, kommentiert Cem Bozdoğan.
Es klingt wie aus einem schlechten „Tatort“: Eine Frau wird Anfang Januar 2020 laut Zeugenberichten zuletzt mit einem Mann gesehen und verschwindet daraufhin spurlos. Am nächsten Tag beginnt die Polizei, nach ihr zu suchen, doch sie ist bis heute unauffindbar. Zwei Monate später zieht der Mann in einer Nacht- und Nebelaktion mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in eine andere Stadt. In der Zwischenzeit wird bekannt, dass es sich um den Ex-Freund der verschwundenen Frau handelt, er soll bereits in der Beziehung gewalttätig gewesen sein, berichten Freundinnen der Frau.
Die Frau heißt Gülistan Doku, sie ist 21 Jahre alt und Studentin an der Munzur Universität in der kurdischen Provinz Dersim im Osten der Türkei. Fast fünf Monate wird sie inzwischen vermisst. Die meisten rechnen ohnehin nur noch damit, allerhöchstens ihre Leiche zu bergen. Der Mann soll mittlerweile untergetaucht sein. Klingt so, als wäre der Mann dringend tatverdächtig könnte man meinen. Die Polizei geht trotzdem davon aus, dass die Frau Selbstmord begangen habe. Ob das wohl damit zu tun hat, dass der Stiefvater des Mannes selbst Polizist ist?
Was Doku widerfahren zu sein scheint, ist kein Einzelfall. Allein in diesem Jahr hat die Webseite Anıt Sayaç, übersetzt „Denkmal-Zähler“, bislang 79 Frauenmorde dokumentiert . Die Aktivist*innen-Plattform Kadın Cinayetlerini Durduracağız, zu Deutsch „Wir beenden Femizide“, zählte im vergangenen Jahr 474 Femizide.[1] Auf das ganze Jahr 2019 verteilt, gab es rechnerisch keinen einzigen Tag, an dem in der Türkei keine Frau von einem Mann getötet wurde.
Angehörige von Gülistan Doku und Aktivist*innen kämpfen dafür, dass sich das ändert. Polizeiliche Ermittlungen ergaben, dass Dokus Handy das letzte Mal in der Uzunçayır-Talsperre Empfang gehabt haben soll, weswegen die Behörden dort nun verstärkt suchen. Weil bis heute jedoch keine Leiche zu finden ist – obwohl im Zuge der Ermittlungen zwei andere Leichen in der Talsperre gefunden wurden – geht die Familie nicht davon aus, dass ihre Tochter dort ist.
In den sozialen Netzwerken fordern Aktivist*innen unter dem Hashtag #barajıboşaltın, das Wasser aus der Talsperre abzulassen, um auch wirklich auszuschließen, dass sich Gülistan Doku dort befindet. Aber die Behörden weigern sich. Kritische Stimmen, unter anderem Dokus Schwester, werfen ihnen vor, die Ermittlungen hinauszögern zu wollen, um den Täter zu schützen.
Die schläfrigen Ermittlungen sind sinnbildlich
Ob Doku von ihrem Ex-Freund ermordet wurde oder nicht, lässt sich nach derzeitigem Stand nicht mit Gewissheit sagen. Doch so oder so stehen die schläfrigen Ermittlungen sinnbildlich dafür, wie Frauen in der Türkei strukturell benachteiligt und getötet werden, während die Behörden die Mörder decken. Das türkische Justizministerium bestätigt, dass die Zahl der Straftaten gegen Frauen in den vergangenen sieben Jahren um 1.400 Prozent gestiegen ist. Derweil werden Gerichtsverhandlungen verschoben und Verdächtigte freigesprochen oder zu niedrig bestraft, beklagt etwa die Aktivist*innen-Plattform Kadın Cinayetlerini Durduracağız.
Beispielsweise tötete im Januar 2020 ein Mann aus Istanbul seine 37-jährige Frau und ihre Mutter, nachdem er aus dem Gefängnis freigelassen wurde. Der Mann hatte kurze Zeit vor der Tat eine Strafe wegen Mordes und unerlaubten Waffenbesitzes abgesessen. In der Stadt Ordu ermordete im Dezember letzten Jahres ein anderer Mann, ebenfalls gerade erst aus der geschlossenen Haft entlassen, eine 20-jährige Studentin. Zwei vermeidbare Frauenmorde einer Reihe endloser Fälle. Drei Frauen, die der Staat hätte schützen müssen.
Denn auf dem Papier hat sich der türkische Staat gleich zwei Mal dazu verpflichtet: Zum einen unterzeichnete die Türkei im Mai 2011 die Istanbul-Konvention, ein Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Nach Artikel 50 und 51 der Konvention muss ein Staat garantieren, dass Strafverfolgungsbehörden Frauen bei einem möglichen Tötungsrisiko schützen, zum Beispiel durch ein häusliches Eingreifen oder durch Beratungsstellen für Frauen.
Außerdem gibt es das türkische „Gesetz Nr. 6284“ aus dem Jahr 2012, welches durch die unermüdliche Arbeit von türkischen Frauenrechtsorganisationen eingeführt wurde. Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass Frauen ein Recht auf Leibesschutz oder eine separate Unterkunft haben, wenn ihnen mit Gewalt gedroht wird oder dass sie ein Anrecht auf finanzielle Absicherung haben, sollten sie ihren Unterhalt für sich oder ihre Kinder nicht allein bestreiten können.
Wirklich umgesetzt wurden diese Selbstverpflichtungen leider nicht immer: Beispielsweise wurde Emine Bulut, eine 38-jährige Mutter aus Kırıkkale, im Sommer vergangenen Jahres von ihrem Ex-Ehemann in der Öffentlichkeit erstochen. Unmittelbar vor dem Mord meldete sich Bulut bei der Polizei, weil sie sich von dem Mann bedroht fühlte, wurde jedoch nicht ernstgenommen. Gegen die vier Polizisten, die sie nach einer halben Stunde auf der Wache wegschickten, wird immerhin ermittelt.
In der Stadt Eskişehir kam nach dem Mord an der 44-jährigen Ayşe Tuğba Arslan raus, dass das Gericht sie dazu nötigte, sich mit ihrem Ex-Mann zu verständigen, obwohl dieser als gewalttätig gemeldet wurde. Und auch die 37-jährige Tuba Erkol wurde nicht von den Behörden geschützt, obwohl sie sich vier Tage, bevor ihr Mann sie ermordete, bei der Polizei meldete.
Der Schutz von Frauen darf keine Sache auf dem Papier bleiben. Es braucht Kontrollmechanismen, um Opferschutz und die Verurteilung von Tätern zu garantieren. Es bedarf mehr Frauen in den Behörden. Aber vor allem muss sich eines ändern: die misogyne Mentalität.
Diese Polizei soll Frauen schützen?
Denn es wäre leichtgläubig anzunehmen, zwei Gesetze könnten das Patriarchat überwinden. Was soll man auch erwarten von Behörden, die immer wieder umgehend von einem Selbstmord ausgehen, obwohl vieles für einen Mord spricht? Es dürfte kaum ein Zufall sein, dass sich die Fälle häufen, bei denen die Polizei die Beschwerden von Frauen nicht ernstnimmt und sie damit in den Tod schickt. Der aus Chile kommende Protest-Tanz gegen Femizide mit dem Slogan „Der Vergewaltiger bist du“ wurde von Frauen auf der ganzen Welt aufgeführt – in Istanbul und Ankara aber wurden die Aktivist*innen dafür festgenommen. Und diese Polizei soll Frauen schützen?
Ich kenne die Argumente aus meinem eigenen alevitisch-kurdischen Umfeld nur zu gut: Gewalt an einer Frau wird schnell mal dadurch gerechtfertigt, dass sie Sex vor der Ehe hatte, sich scheiden lassen möchte oder schlicht ihre Rechte fordert. Oft werden auch gemeinsame Kinder als Grund vorgeschoben, eine toxische Beziehung mit Männern fortzusetzen. Patriarchale Denkmuster sind tief verankert in meinem Alltag, egal ob kurdisch oder türkisch, egal ob alevitisch oder muslimisch – aber auch tief im Staat, in den Behörden und in der Polizei. Das muss sich ändern!
Nun gibt es bestimmt den einen oder anderen weißen[2] Deutschen, der meint, Frauenmorde passieren immer nur bei den Anderen. Laut Bundeskriminalamt wurden 2018 in Deutschland 122 Frauen von ihren (Ex-)Partnern getötet. Über Femizide reden wir in Deutschland aber leider nur, wenn der Täter Ali heißt und nicht hier geboren wurde. Je nach Haut- und Haarfarbe nennt man das hier in Deutschland oft auch „Beziehungstat“. Vergangenen Sonntag zum Beispiel ermordete ein Mann in Cottbus seine Frau. Ein Medium schreibt: „tragisches Ende eines Beziehungsstreits“. Nichts von gehört, oder? Das ist der beste Beweis: Von Dersim bis Cottbus, wir müssen alle mehr über Femizide reden.
[1] Für ihre Zählung beziehen sich die Aktivist*innen von Kadın Cinayetlerini Durduracağız auf Medien- und Polizeiberichte. Die Dunkelziffer der nicht-gemeldeten Morde dürfte weitaus höher ausfallen.
[2] weiß ist kursiv geschrieben, um die Konstruktion des Begriffes zu betonen. Gemeint ist damit keine bloße Hautfarbe, sondern die privilegierte Position, die innerhalb eines rassistischen Systems mit der Hautfarbe einhergeht.