„Eine moralische Entscheidung“ erzählt die Geschichte zweier Männer in einer iranischen Großstadt, die beide für den Tod eines achtjährigen Kindes verantwortlich sind. Mit der quälenden Ungewissheit um die ungeklärte Schuld versuchen sie auf unterschiedlichen Wegen umzugehen. Vahid Jalilvand stellt sich in seinem neuen Film, der am 20. Juni auf dem Hamburger Filmfest Deutschlandpremiere feiert, die Frage: Was wäre wenn?
Der Gerichtsmediziner Kahveh Nariman, gespielt von Amir Aghaee, stößt mit seinem Auto durch unglückliche Zufälle gegen einen Roller, der eine vierköpfige Familie trägt. Niemand scheint ernsthaft verletzt zu sein, nur der kleine Sohn Amir-Ali sagt, dass sein Nacken schmerzt. Sein Vater Moosa (Navid Mohammadzadeh) beschließt, statt ins Krankenhaus nach Hause zu fahren und Dr. Nariman entscheidet, nicht die Polizei zu rufen.
Dr. Narimans Schicht in einem überfüllten Krankenhaus einer iranischen Großstadt beginnt am nächsten Morgen. Als er sich über die anstehenden Autopsien aufklären lässt, hört er unter den unzähligen namenlosen Toten, die in jeglichen Altersstufen an Herzversagen, Gehirnschlag, Vergiftung und Unfallfolgen starben, den Namen eines Toten heraus, dessen Todesursache ungeklärt bleibt: Es handelt sich um den kleinen Amir-Ali.
In dieser sterilen Welt, in der Patient*innen als kaputte Maschinen wahrgenommen werden und nicht als Mensch, fühlt sich der distanzierte Arzt mitgenommen vom Schicksal eines seiner Patienten, denn die Frage ob er schuld ist am Tod von Amir-Ali lässt ihn nicht los.
Parallel zu der Massenabfertigung und Begutachtung der Menschenkörper, sucht Moosa in einem Schlachthaus, in dem auf sterilen silbernen Arbeitsplatten mengenweise Hühnerleichen verarbeitet werden, nach Vergeltung. Er sucht den Mann, den er verantwortlich macht für den Tod seines Sohnes. Denn ein paar Tage zuvor hatte er aus finanzieller Not heraus verdorbenes Hühnerfleisch von einem Schlachtereiangestellten gekauft, weshalb sein Sohn Amir-Ali eine Fleischvergiftung erlitt. So zumindest lautet das Urteil von Dr. Narimans Kollegin Dr. Sayeh Behbahani (Hediyeh Tehrani), die gleichzeitig seine seit kurzem getrennt lebende Ehefrau ist.
Jalilvand erzählt eine traurige Geschichte zweier Männer, die durch unglückliche Entscheidungen und unerbittliche Zufälle in den Tod eines Kindes verwickelt wurden. Beide versuchen auf unterschiedliche Weise ihre Schuld zu begleichen. Der eine mit der zwanghaften Suche nach Wahrheit, der andere durch Vergeltung. Doch keiner von beiden erkennt, wie aussichtslos und bedeutungsfrei ihre Vorhaben sind und dass sie nur sich selbst zuliebe daran festhalten, denn Amir-Ali ist und bleibt tot.
Trauer und Klasse im Krankenhaus – um was geht es wirklich?
Nach dem Erfolg seines ersten Films „Mittwoch, der 9. Mai“ bleibt Jalilvand beim modernen neo-realistischen Filmgenre, ein Format der Gesellschaftskritik. In „Eine moralische Entscheidung“ spürt man diese subtil, aber deutlich. Wie mit Schuld und Verantwortung, mit unvorhersehbaren Konsequenzen und Trauer umgehen? Diese Fragen stehen zwar im Vordergrund, doch immer in Bezug auf Klasse. Im Jahr 2017 lebten 33 Prozent der Iraner unterhalb der Armutsgrenze, während die ohnehin schon Wohlhabende Gruppe noch mehr Kapital anhäufen.
Die verzweifelte Entscheidung Moosas, das verdorbene Fleisch zu kaufen, um seine Familie zu ernähren, spiegelt die steigende Ungleichheit zwischen Irans Gesellschaftsklassen wider. Moosas Situation steht im Kontrast zu der Narimans, dessen Privileg unwiderlegbar ist: Auf die Aufforderung die Polizei zu rufen, reagiert dieser nicht, stattdessen begleicht er seine Schuld mit Geld. Er hofft, sich von seinem Gewissen freikaufen zu können und tauscht seine Verantwortung gegen Scheine. Nariman vertraut auf die finanzielle Überzeugungskraft, wohlwissend, in welcher prekären Situation sich die vierköpfige Familie auf dem Roller, der ihnen nicht einmal gehört, befindet.
Kleine Kommentare spielen auf ein Klassen-Missverständnis an: Als Moosa die Doktorin Behbahani, auffordert so mit ihm zu sprechen, dass er sie auch verstehen kann.
Die im Jahr 2015 von der iranischen Regierung eingeführte sogenannte „Rouhani-Care“ machte Krankenhausaufenthalte, Operationen und Untersuchungen in staatlichen Krankenhäusern für iranische Staatsbürger*innen kostenlos.
Doch eine Großzahl der Krankenhausangestellten beklagte sich über die neue Regelung, denn diese stützte sich auf eine ohnehin schon fragile Infrastruktur. Weder wurde mehr Personal eingestellt, um den Ansturm von Patient*innen standhalten zu können, noch wurden Gehälter an den enormen Arbeitsaufwand angepasst.
Stattdessen kehren vor allem Ärzt*innen reihenweise den öffentlichen Krankenhäusern den Rücken und entscheiden sich für private Praxen, mit geregeltem Arbeitsaufwand und hohen Gehältern. Diese Frustration der Mediziner*innen, wird auch in „Eine moralische Entscheidung“ deutlich. Schnell nehmen sich die Ärzt*innen ihrer Patient*innen an, doch die Stimmung ist immer angespannt; sie nehmen diese gar nicht richtig wahr. Die Schnelle mit der Autopsien durchgeführt werden und wie die Angehörigenberatung abgehandelt wird, fällt ebenfalls unangenehm auf.
Der im Film portraitierte Umgang der Mittelklasse mit den sozial armen Klassen wie der Familie von Moosa und seiner Frau Leila kritisiert diese mangelnde Kommunikation.
Deutlich wurde diese Verständigungsprobleme zwischen den Klassen unter anderem während der Aufstände um den Jahreswechsel 2017/2018. Die Mittelschicht blieb damals zuerst vorsichtig in der beobachtenden Rolle, als sich spontane Aufstände der armen Bevölkerung bildeten. Diese Kommunikationskluft scheint auch von der iranische Regierung gehegt, weil so eine Solidarisierung zwischen der finanziell und sozial marginalisierten Klasse und der Mittelklasse gegen das Regime Vorgebeugt werden kann.
Regisseur Vahid Jalilvand kritisiert nicht nur diese bestehende Verständigungskluft zwischen den Klassen, er plädiert mit seinem Film für eine klassenübergreifende Solidarität. hätte sich Dr. Nariman nicht persönlich betroffen gefühlt, wäre der Fall Amir-Alis wohl zwischen dem enormen Arbeitsaufwand all der anderen anonymen Toten verschwunden. Am Ende bleibt das Bewusstsein: Wäre die Gesellschaft eine sozial gerechtere, dann würde Amir-Ali noch leben.
Vergebliche Rettungsversuche
Während die männlichen Charaktere sich weiter und weiter in ihre Schuld steigern, immer verbissener versuchen, Antworten zu finden oder den Tod wieder gut zu machen, stellen die Frauen die Stimme der Vernunft dar. Dr. Behbani versucht Dr. Nariman zu erklären, dass seine Besessenheit die Wahrheit herauszufinden, nichts an dem Tod des Kindes ändert und deshalb sinnlos ist.
Sie macht ihm deutlich, dass sein Verhalten unverantwortlich ist, weil seine Zeitschinderei und ständige Selbstkritik, die erst zu späten halbherzigen Entscheidungen führt, die Familie Amir-Alis in ihrer ungewissen Position quälen. Außerdem vertritt sie vehement, dass seine Tätigkeit als Arzt den Menschen dieser iranischen Großstadt viel mehr Hilft als seine Selbstgeißelung in der Aufklärung dieses Todesfalles, dessen Schuld er auf sich nehmen will.
Damit schafft Jalilvand einen komplexen Charakter, denn obwohl Dr. Behbahani ehrliches Mitgefühl mit der Familie Amir-Alis zeigt, zieht sie die Karriere und den Ruf ihres Kollegen der lückenlosen Aufklärung dieses Falles vor. In ihr spiegelt sich die Verständnislücken und Kommunikationsproblematik mit den armen Menschen des urbanen Irans wider.
Genauso versucht Leila, Mutter von Amir-Ali (Zakiyeh Behbahani), nach einer Phase von Trauer und Schmerz ihrem Mann zur Seite zu stehen. Leila lässt sich von ihrer Gefühlen überfallen und schwört Moosa zu verlassen, den sie für den Tod ihres Sohnes verantwortlich macht. Zakiyeh Behbahani spielt eine einfühlsame Darstellung von Trauer und schafft es, das Gefühl, dass das eigene Leben mit dem Tod des Kindes ebenfalls zu enden scheint, zu transportieren.
Leila bleibt trotz ihres enormen Verlustes rational und ist bald wieder im Stande, ihre Trauer zu kontrollieren. Sie befragt Kommissare, spricht nochmal mit den Ärzt*innen und versucht, ihre Verständnislücken aktiv zu schließen.Sie bittet Moosa, keine voreiligen Entscheidungen zu treffen, wohlwissend, dass er den Fleischverkäufer aufsuchen wird. Dessen Vergeltungsdrang und lähmendes Schamgefühl, das ihn hindert sich ihr zu öffnen, verbieten ihm jedoch, auf sie zu hören.
Eine unbarmherzig einfühlsame Darstellung von Schuld, Zorn und Trauer
„Eine moralische Entscheidung“ ist ein Ausflug in die Abgründe der menschlichen Psyche. Jalilvands Film ist in kalten Farben gedreht, es gibt keine Musik. Diese Stille steht im Kontrast zu den intimen und komplexen Gefühlen, welche die Schauspieler*innen mit Hilfe eines großartigen Drehbuchs auf der Leinwand greifbar machen. So werden die mechanischen Geräusche der Utensilien mit denen Hühner und Menschen bearbeitet werden gelegentlich von Wut oder Trauerrufen der Protagonist*innen durchbrochen.
Jalilvands Film gewann bei den Filmfestspielen in Venedig den Preis für beste Regie und bester Hauptdarsteller; auf dem Chicago International Film Festival wurde der Film ebenfalls mit bester Regie ausgezeichnet. „Eine moralische Entscheidung“ erforscht und entdeckt auf einfühlsame, aber erbarmungslose Weise, wie Menschen mit Schuld, Zorn und Trauer umgehen. Damit setzt sich Jalilvand hohe Ziele, denen sein Film jedoch gerecht werden kann.