Vor mehr als zwei Monaten wurde der saudische Journalist Khashoggi im Konsulat seines Landes in Istanbul Opfer eines Auftragsmordes, in den wohl auch der Kronprinz Mohammed bin Salman (MBS) verwickelt ist. Mit diesem Verbrechen ist MBS zu weit gegangen. Die Welt muss reagieren, um die Fortsetzung seiner skrupellosen und aggressiven saudischen Außenpolitik aufzuhalten. Von Michael Nuding
Auf dem G20-Gipfel in Buenos Aires am vergangenen Wochenende trafen sich die Staatsoberhäupter und Premierminister*innen wirtschaftlich und politisch einflussreicher Staaten. Unter ihnen einer, der auf dem Foto ganz am Rand steht und genau genommen gar kein Staats- oder Regierungschef ist. König Salman von Saudi-Arabien, der sich größtenteils aus dem politischen Tagesgeschäft heraushält, schickte seinen Sohn und erwählten Kronprinzen Mohammed bin Salman (MBS) als Kopf der saudischen Delegation nach Argentinien. MBS lenkt die saudische Außen- und Sicherheitspolitik und hält durch das Vertrauen seines Vaters de facto alle Macht im Königreich in den Händen. In der Rolle als voraussichtlich künftiger König Saudi-Arabiens spielt er schon jetzt auf der großen internationalen Bühne mit.
Anfangs wurde MBS noch als Reformer und Modernisierer gepriesen, der Saudi-Arabien in eine liberalere und weltoffenere Zukunft führen würde. Doch inzwischen hat sich sein Ruf verändert. Spätestens seitdem der saudische Journalist Jamal Khashoggi (Ǧamāl Ḫāšuqǧī) auf mysteriöse Weise im saudischen Konsulat in Istanbul ermordet wurde und vieles auf einen direkten Auftragsmord durch den Kronprinzen persönlich hindeutet, berichten internationale Medien von MBS als einem skrupellosen Machtpolitiker ohne jegliche moralische Hemmungen.
Ein gelöster Kriminalfall?
Dabei wurde von der saudischen Seite im Fall Khashoggi bereits „vollständige Transparenz hergestellt, obwohl vergleichbare Fälle jahrelange Untersuchungen, Analysen und Datensammlungen notwendig machen. Es ist ein Erfolg, dass die saudische Staatsanwaltschaft die Ausmaße dieses Verbrechens aufdecken konnte und die Verantwortlichen zur Rechenschaft für ihre Mitwirkung zieht.“
So analysieren zumindest dem Könighaus nahestehende Medien die Verhaftungen und Anklagen von 18 saudischen Staatsbürgern. Aus deren Perspektive wurde der Fall bereits reibungslos aufgeklärt, obwohl „die Osmanen gemeinsam mit Katar und einigen amerikanischen und europäischen Linken mit aller Kraft und Anstrengung versucht haben, ihre Pfeile auf den Mann der Hoffnung zu richten – seine Hoheit den Kronprinzen Mohammed bin Salman.“
Diese saudische Darstellung des Falles wird allerdings international stark kritisiert. Der türkische Präsident Erdogan ist sich beispielsweise sicher, dass „der Befehl, Khashoggi zu töten, von den höchsten Ebenen der saudischen Regierung kam“. Obwohl er keinen Namen nennt, wird eindeutig, dass mit dieser Aussage MBS gemeint ist. Und auch die CIA kommt zu dem Schluss, dass der Kronprinz in den Fall verwickelt ist.
Der Kronprinz ist international ein wichtiger Partner
Doch so manche Staatsoberhäupter des G20-Gipfels scheint all das nicht wirklich zu stören. So bestreitet Donald Trump nicht nur, dass die CIA überhaupt zu einem endgültigen Ergebnis ihrer Ermittlungen gekommen ist. Darüber hinaus hat das Weiße Haus am 20. November auch ein Statement des Präsidenten veröffentlicht, indem er die saudische Interpretation von Khashoggi als „Staatsfeind“ wiederholt. Trump bekräftigt, dass die USA standfest an der Seite Saudi-Arabiens stehen, und die Mittäterschaft des Kronprinzen mit dem flapsigen Satz „maybe he did and maybe he didn’t!“ kommentiert.
Auch der russische Präsident Vladimir Putin scheint sich bestens mit MBS zu verstehen. Auf dem G20 Gipfel begrüßten sich die beiden mit einem kumpelhaften High-Five. Selbst Präsident Erdogan als einer der größten Kritiker des saudischen Kronprinzen bekräftigte während des Gipfels, dass der Fall Khashoggi keine politische Relevanz für die Türkei habe. Am Rande des Gipfels wurde außerdem ein Gespräch zwischen dem französischen Präsidenten Macron und MBS aufgezeichnet, indem Macron fast schon wie ein Mentor wirkt: „Ich mache mir Sorgen. […] Du hörst nie auf mich“.
Nach all der negativen medialen Aufmerksamkeit möchte MBS gerne den Fall Khashoggi hinter sich lassen und als Ebenbürtiger auf der internationalen Ebene mitspielen. Trump, Putin und Co. tun ihm diesen Gefallen und ermöglichen ihm somit schrittweise die Wiederherstellung seiner Reputation.
Was macht denn ein weiteres Verbrechen schon aus?
Jahrelang erregten die Verbrechen des saudischen Königshauses kaum internationale Aufmerksamkeit. Der blutige Krieg im Jemen wird selten thematisiert, die Weltöffentlichkeit schaut weg während Saudi-Arabien den Jemen bombadiert und aushungert. Auch um die zahlreichen Inhaftierungen von Menschenrechtsaktivist*innen und politischen Oppositionellen macht das Königskaus keinen Hehl. Warum sollte nicht auch in diesem Fall ein Auge zugedrückt werden, wie das doch sonst immer der Fall war? Was hat sich globalpolitisch verändert?
Die Ermordung eines saudischen Journalisten in einer Auslandsvertretung ist ein furchtbares Verbrechen und zeigt erneut, dass der saudischen Politik jegliche Moral im Umgang mit Kritiker*innen und potenziellen Gegnern fehlt. Doch entscheidend ist nicht, dass ein weiterer unschuldiger Mensch auf tragische Art und Weise sein Leben lassen musste. Entscheidend ist die unglaubliche Skrupellosigkeit und Aggressivität, die der Fall Jamal Khashoggi offenbart hat.
Offensichtlich interessiert sich MBS nicht mehr dafür, was die Welt von ihm denkt. Falls er diesen Mord in Auftrag gegeben hat, konnte er doch nicht ernsthaft damit rechnen, dass dieses Verbrechen unentdeckt bleibt. Wie hätte denn der Tod eines regierungskritischen Journalisten während eines offiziellen Termins in der Botschaft jemals glaubwürdig als Unfall dargestellt werden können? Waren es Dummheit und Unvorsichtigkeit im Wissen, dass die Welt schon über viele andere Verbrechen hinweggesehen hat? Oder offenbarte sich im Fall Khashoggi die ganze Skrupellosigkeit eines Mannes, dem es schlicht egal ist, was andere über ihn denken?
Das nun glücklicherweise entstandene Momentum internationaler Aufmerksamkeit muss genutzt werden. MBS steht international wie auch innenpolitisch unter enormem Druck. Diese Gelegenheit darf nicht einfach so verstreichen.
Die Welt darf nicht mehr wegsehen!
Inzwischen ist die Ermordung von Jamal Khashoggi in Istanbul bereits über zwei Monate her. Wenn nun nach und nach wieder ‚business as usual‘ einkehrt und Gras über die Sache wächst, könnte das ungeheuerliche Auswirkungen auf die ganze Region haben.
Momentan ist es eher unwahrscheinlich, dass der Kronprinz aufgrund innenpolitischen Drucks zurücktreten muss oder entmachtet wird. Es gibt zwar Berichte über Unmut innerhalb der Königsfamilie und die Rückkehr von Prinz Ahmad, einem Bruder des amtierenden Königs Salmans, der eventuell den Thron anstreben und den Kronprinzen entmachten wollen könnte. Doch Ahmad wäre nicht der erste Widersacher innerhalb der eigenen Reihen, der versucht, MBS herauszufordern.
Solange König Salman seinen Lieblingssohn unterstützt und ihm weiterhin sein Vertrauen ausspricht, wird jegliche Opposition machtlos gegen MBS bleiben. Es scheint, dass der Kronprinz, der inzwischen seit Jahren de facto regiert und schon diverse Widersacher innerhalb der Familie aus dem Weg geräumt hat, immer mehr Macht in seinen Händen vereint und möglicherweise bald zum König werden könnte. Denn es gibt schon seit einiger Zeit Gerüchte über einen möglichen baldigen Rückzug des amtierenden Königs in den Ruhestand, wodurch MBS voraussichtlich König werden würde.
Auch innenpolitischer Druck „von unten“ durch Demonstrationen oder gar revolutionsähnliches Aufbegehren scheint in Saudi-Arabien momentan eher unwahrscheinlich. Jahrzehntelange Oppression der Zivilgesellschaft, Abschreckung durch Härte, gespaltene Regionalinteressen und erkauftes Schweigen durch massive finanzielle Staatszuwendungen machen ein landesweites Aufbegehren wie im sogenannten „Arabischen Frühling“ in anderen Ländern der Region nahezu undenkbar.
Das würde bedeuten, dass MBS als künftiger König von Saudi-Arabien die Geschicke seines Landes und der ganzen Region in den nächsten 40 bis 50 Jahren mitgestalten könnte. Ein Blick auf die Jahre seit der Inthronisierung seines Vaters König Salman 2015, in denen MBS als Verteidigungsminister, Kronprinz und stellvertretender Premierminister besonders die Außen- und Sicherheitspolitik des Landes geführt hat, gibt einen Vorgeschmack auf die Jahre die kommen könnten, wenn MBS endgültig alle Macht in seiner Person vereint.
Unmittelbar nach seinem Antritt als Verteidigungsminister begann im Juni 2015 die saudische Militärinvention im jemenitischen Bürgerkrieg, die abertausenden Menschen das Leben gekostet hat und eine humanitäre sowie politische Katastrophe für alle Beteiligten ist. Darauf folgte die Katar-Krise, in der Saudi-Arabien seit 2017 gemeinsam mit einigen anderen Golfstaaten und Ägypten diplomatische Beziehungen zu Katar abbrach und die gemeinsamen Grenzen schloss.
Im November 2017 ging dann plötzlich die bis heute nicht wirklich aufgeklärte „Entführung“ des libanesischen Premierministers Saad Hariri durch die Medien, der anscheinend gegen seinen Willen in Saudi-Arabien festgehalten wurde. In den Verhandlungen und dem Nachspiel rund um das Nuklearabkommen mit dem Iran hat MBS mehrfach ausdrücklich gedroht, dass sein Land auch eine Atombombe in Reaktion auf entsprechende Entwicklungen im Iran bauen würde.
Dies sind nur einige Beispiele der impulsiven und aggressiven Außenpolitik, die MBS seit 2015 fährt. Die Liste ist lang, ein weiterer Punkt ist die saudische Mitwirkung im Syrienkrieg. Außerdem eine über Twitter ausgelöste diplomatische Krise zwischen Saudi-Arabien und Kanada. All dies ist vermutlich nur eine Kostprobe dessen, was die Region vom König Mohammed von Saudi-Arabien zukünftig noch erwarten dürfte. Der Fall Khashoggi zeigt dabei noch einmal vollem Ausmaß die Skrupellosigkeit und Brutalität mit der MBS gewillt ist, vorzugehen.
Ein radikaler Außenpolitikwechsel gegenüber Saudi-Arabien ist gefordert
Die Katastrophe im Jemen wird weitergehen, wenn Saudi-Arabien nicht einsieht, dass die momentane militärische Lage aussichtslos ist und das Einschalten diplomatischer Kanäle das Gebot der Stunde ist. Doch genau solche rationalen Entscheidungen, oder das Eingestehen von Fehlern, scheinen nicht die Stärken von MBS zu sein.
Wenn ihm innenpolitisch in solchen Dingen weiterhin freie Hand gelassen wird, dann muss die Weltgemeinschaft endlich mehr Druck aufbauen, um eine noch schlimmere humanitäre Notlage im Jemen und weitere Eskalationen in der Region zu verhindern.
Besonders die europäischen Länder, die sich momentan als Vertreter einer freien Welt in Zeiten eines unberechenbaren US-Präsidenten verstehen, sind hier in der Verantwortung. Es muss endlich grundsätzliche Stopps von Waffenlieferungen geben – nicht nur, weil es moralisch unvertretbar ist, wenn spanische Bomber, französische Panzer und deutsche Maschinengewehre gegen Menschenrechtsaktivisten oder unschuldige Zivilisten eingesetzt werden. Die andauernden Kooperationen mit Saudi-Arabien senden auch ein Zeichen nach dem Motto: Wir finden es vielleicht nicht besonders gut, was ihr da macht, aber es stört uns auch nicht wirklich, also macht ruhig weiter.
Jetzt bedarf es einer Diplomatie der klaren Sprache. Es ist ein Punkt erreicht, an dem die Dinge unverblümt angesprochen und auch mit entsprechenden Handlungen (wie dem vollkommenen Stopp jeglicher Waffenlieferungen aus der EU) unterlegt werden müssen. Das Argument, Saudi-Arabien sei ein wichtiger strategischer Partner und Stabilisator für die Region ist einfach nicht mehr aufrechtzuerhalten.
Durch die provokative und aggressive Politik unter MBS ist Saudi-Arabien zum Anheizer regionaler Konflikte und zum Destabilisator geworden. Solange die mediale Aufmerksamkeit der Weltpresse noch auf Saudi-Arabien fokussiert ist, ist der richtige Moment, um zu handeln und bewusste Zeichen gegen das Vorgehen des Kronprinzen zu setzen. Der G20-Gipfel am vergangenen Wochenende wäre eine ideale Bühne dafür gewesen. Diese Möglichkeit ist leider verstrichen.
Auf Dauer können gute Beziehungen mit Saudi-Arabien besser aufrechterhalten oder etabliert werden, wenn der Fokus auf Zusammenarbeit mit dem saudischen Volk, dessen Wirtschaftsinstitutionen und sogar einigen Mitgliedern der Königsfamilie gelegt wird, als wenn die Welt weiterhin ihre Karten auf einen skrupellosen und machtgeilen Prinzen setzen, der neben dem Fall Khashoggi noch in viele weitere furchtbare Verbrechen verwickelt zu sein scheint.
Michael Nuding studiert Politik- und Islamwissenschaften in Heidelberg. Er studierte u.a. in Jordanien, Israel-Palästina und Algerien. Aktuell lebt er in Beirut.